In Nacht und Eis. Fridtjof Nansen
Читать онлайн книгу.als ob sie federleicht wären. Sie sind jetzt ganz nahe und man eilt fort, um das Leben zu retten; aber plötzlich spaltet sich das Eis vor uns, ein schwarzer Abgrund öffnet sich, aus dem das Wasser emporströmt. Man flieht nach einer anderen Richtung, aber dort ist es ebenso. Überall Donner und Brüllen wie von einem ungeheuren Wasserfall, mit Explosionen wie Geschützsalven. Die Scholle, auf der man steht, wird kleiner und kleiner, Wasser strömt darüber hinweg. Man entkommt nicht anders, als dass man über die rollenden Eisblöcke klettert und die andere Seite des Packeises gewinnt. Dann legt sich der Aufruhr, das Getöse verhallt und verliert sich in der Ferne. Dies ereignet sich hier weit oben im Norden Monat für Monat, Jahr für Jahr.
In den Berichten über arktische Expeditionen liest man oft Beschreibungen von Ketten und Hügeln, die durch Eisdruck entstanden waren und bis zu 15 Meter hoch sein sollten. Das sind Märchen. Die Verfasser derartiger fantastischer Schilderungen können sich nicht die Mühe gegeben haben, ihre Ketten und Hügel zu messen. Während unserer Drift und unserer Märsche über die Eisfelder habe ich nur einmal einen Eishügel gesehen, der über 7 Meter hoch war, beinahe 9 Meter. Die höchsten Blöcke, die ich gemessen habe, hatten eine Höhe von 5½ bis 7 Metern, und ich kann nach meinen vielen Beobachtungen behaupten, dass sich Meereis nur äußerst selten bis zu einer Höhe von mehr als 8 Metern zusammenschiebt.
Sonnabend, 14. Oktober. Heute haben wir das Ruder wieder angebracht; die Maschine ist ziemlich in Ordnung und wir sind bereit nach Norden aufzubrechen, wenn sich das Eis morgen früh öffnet. Es lockert und presst sich noch immer regelmäßig zweimal am Tage.
Heute Abend war der Eisdruck heftig. Die Schollen türmten sich an der Backbordseite gegen die »Fram« auf und waren ein- oder zweimal nahe daran, über die Reling zu stürzen. Dann brach aber unten das Eis, sie fielen zurück und mussten schließlich doch unter uns durchgehen.
Das Eis ist nicht dick und kann nicht viel Schaden anrichten, jedoch ist seine Gewalt manchmal enorm. Unaufhörlich, ohne Unterbrechung kommen die Massen heran; sie sehen aus, als sei kein Widerstand gegen sie möglich, aber langsam und sicher werden sie an den Seiten der »Fram« zermalmt.
Sonntag, 24. Dezember. Weihnachtsabend. 37°C Kälte. Glitzernder Mondschein und die unendliche Stille der arktischen Nacht. Ich machte einen Spaziergang auf dem Eis. Der erste Weihnachtsabend, wie weit von der Heimat!
Von diesem Tag sind im Tagebuch keine Einzelheiten mitgeteilt; aber wenn ich an ihn zurückdenke, wie klar tritt alles wieder vor mich hin! Es herrschte eine eigentümlich gehobene Stimmung an Bord, wie sonst bei uns durchaus nicht üblich. Jeder beschäftigte sich in seinen geheimsten Gedanken mit der Heimat, allein die Kameraden sollten das nicht merken und infolgedessen wurde mehr gescherzt und gelacht als sonst. Alle Lampen und Lichter, die wir an Bord hatten, brannten, und jede Ecke im Salon und in den Kabinen wurde glänzend erleuchtet.
Die Verpflegung an diesem Fest übertraf natürlich die aller früheren Tage; denn Essen war das Einzige, womit wir Feste feiern konnten. Nach dem Abendessen kamen ganze Berge von Weihnachtskuchen, die Juell während mehrerer Wochen fleißig gebacken hatte, auf den Tisch.
Den Höhepunkt erreichte die Feier, als zwei Kisten mit Weihnachtsgeschenken herbeigebracht wurden, die eine von Scott-Hansens Mutter, die andere von seiner Braut. Rührend die Freude, mit der jeder seine Gabe empfing, mochte es nun eine Pfeife, ein Messer oder sonst eine Kleinigkeit sein; man fühlte, dass es gleichsam eine Botschaft aus der Heimat war.
Montag, 25. Dezember. Zu Hause werden sie jetzt viel an uns denken und uns wegen der Entbehrungen, die wir in dieser kalten, trostlosen Eisregion zu ertragen haben, viele mitleidige Seufzer weihen. Ich fürchte aber, ihr Mitgefühl würde sich abkühlen, wenn sie uns sehen, unsere Fröhlichkeit hören und Zeuge unserer Behaglichkeit und unseres guten Mutes sein könnten. Ihnen kann es zu Hause kaum besser gehen. Was mich selbst betrifft, so habe ich noch niemals ein so sybaritisches Leben geführt und niemals so viel Grund gehabt, die Folgen zu fürchten, die es mit sich bringt. Man höre nur die Speisenfolge unseres heutigen Mittagessens:
1. Ochsenschwanzsuppe
2. Fischpudding mit Kartoffeln und geschmolzener Butter
3. Rentierbraten mit Erbsen, französischen Bohnen, Kartoffeln und eingemachten Kronsbeeren
4. Moltebeeren mit Sahne
5. Kuchen und Marzipan.
Und zu alledem Ringnass-Bockbier! Ist das nun die richtige Art von Essen für Leute, die sich gegen die Schrecken der Polarnacht abhärten sollen? Wir hatten alle so viel gegessen, dass das Abendessen ausfallen musste.
Zählt man zu den guten Dingen noch unser fest gebautes, sicheres Wohnhaus hinzu, unseren behaglichen Salon, den eine große und mehrere kleinere Petroleumlampen erleuchten, wenn wir gerade kein elektrisches Licht haben, ferner die beständige Fröhlichkeit, das Kartenspiel und die große Menge von Büchern mit und ohne Bilder, die unterhaltende Lektüre boten, und endlich einen tüchtigen, gesunden Schlaf – was konnte man sich Besseres wünschen?
Und doch, und doch! Polarnacht, du bist wie ein Weib, ein wunderbar liebliches Weib! Du besitzest die edlen, reinen Züge antiker Schönheit, aber auch ihre Marmorkälte. Auf deiner hohen, glatten Stirn, rein wie der klare Äther, ist keine Spur von Mitgefühl für die kleinen Leiden des verachteten Menschengeschlechts; auf deiner blassen Wange ist keine Spur von Gefühl. Wie müde bin ich deiner kalten Schönheit! Ich will zum Leben zurückkehren. Lass mich als Sieger oder als Bettler heimkehren, mir gilt es gleich! Aber lass mich heimkehren, um das Leben neu zu beginnen! Hier vergehen die Jahre; was bringen sie? Nichts als Staub, trockenen Staub, den der erste Windstoß verweht; an seine Stelle tritt neuer Staub, den der nächste Wind wieder fortfegt. Wahrheit? Weshalb macht man immer so viel aus der Wahrheit? Das Leben ist mehr als kalte Wahrheit und wir leben nur einmal!
Donnerstag, 28. Dezember. Dicht vor der »Fram« hat sich eine neue Rinne gebildet, so breit, dass das Schiff quer darin liegen könnte. Sie hat sich letzte Nacht mit Eis bedeckt, in dem sich heute leichter Druck zeigt. Merkwürdig, wie gleichgültig wir gegen solche Eispressungen sind, die manchem anderen Polarforscher so große Sorge gemacht haben!
Wir haben nichts, aber auch nichts für einen Unfall vorbereitet, keine Kleider in Bereitschaft. Das mag wie Leichtsinn aussehen, in Wirklichkeit ist aber kaum zu erwarten, dass der Eisdruck uns schadet: Wir wissen jetzt, was die »Fram« verträgt.
Stolz auf unser starkes Schiff stehen wir auf dem Deck und beobachten, wie das Eis gegen seine Seiten stößt, hier zermalmt und zerbrochen wird und unter ihm durchgehen muss.
Ich lese gerade die Geschichte von der Expedition Kanes (1853–55). Der Unglückliche! Seine Vorbereitungen waren jämmerlich unzureichend. Fast alle Hunde starben an schlechter Nahrung; alle Leute hatten aus demselben Grund Skorbut, dazu gesellten sich Schneeblindheit, Frostbeulen und allerhand anderes Elend. Kane bekam eine heilige Scheu vor der arktischen Nacht. Er schreibt in seinem Werk: »Ich fühle, dass wir den Kampf ums Dasein unter ungünstigen Umständen führen und dass ein arktischer Tag und eine arktische Nacht den Menschen schneller und ernstlicher altern lassen als ein Jahr irgendwo sonst auf dieser mühseligen Welt.«
An einer anderen Stelle schreibt er, es sei für zivilisierte Menschen unmöglich, unter solchen Lebensbedingungen nicht zu leiden.
Das waren traurige, aber keineswegs vereinzelte Erfahrungen. Ein englischer Polarforscher, mit dem ich mich unterhalten habe, äußerte sich ebenfalls sehr entmutigend über das Leben in den Polargebieten, er war der Meinung, dass Skorbut unvermeidlich und noch keine Expedition ihm entgangen sei. Glücklicherweise bin ich in der Lage zu behaupten, dass diese Ansicht nicht gerechtfertigt ist.
Was mich selbst betrifft, so kann ich sagen, dass die arktische Nacht keinen alternden oder schwächenden Einfluss auf mich ausgeübt hat: Im Gegenteil, ich scheine jünger zu werden. Diese ruhige, regelmäßige Lebensweise bekommt mir außerordentlich gut und ich kann mich keiner Zeit erinnern, in der ich gesünder war, als ich jetzt bin. Ich weiche so sehr von jenen Autoritäten ab, dass ich die Arktis als ein ausgezeichnetes Sanatorium für Fälle von Nervosität und allgemeiner Schwäche empfehlen möchte. Fast schäme ich mich des Lebens, das wir führen, ohne alle jene so düster geschilderten Leiden der langen