Fettnäpfchenführer Niederlande. Katja Frehland
Читать онлайн книгу.Kirche zu gelangen: zur Sint Servaasbasiliek (Sankt-Servatius-Basilika), die zwischen dem 10. und 13. Jahrhundert gebaut wurde und damit die älteste Kirche der Niederlande ist.
Kurz darauf sitzt Anne auf einem Steinsockel vor der Kirche und versucht, Details des reich verzierten Seiteneingangsportals – Figuren aus dem Alten und Neuen Testament – zu skizzieren. Anne beugt sich über das Blatt, zeichnet mit feinen Bleistiftlinien das Gesicht einer männlichen Figur aus dem Portal nach, was nicht ganz einfach ist, da bemerkt sie, dass sie beobachtet wird. Ein älteres Ehepaar sieht interessiert auf Annes Blatt.
Die alte Dame nickt ihr freundlich lächelnd zu: »Das sieht aber gut aus. Das ist ein gelungenes Bild von unserer schönen Basilika!«
»Das ist aber auch wirklich eine sehr schöne Kirche«, erwidert Anne mit einer Handbewegung und fügt höflich hinzu: »Ich habe noch nie eine so schöne protestantische Kirche gesehen.« Danach wendet sie sich wieder ihrer Zeichnung zu und hofft, dass sie jetzt in Ruhe gelassen wird. Sie hat nämlich überhaupt keine Lust auf eine Unterhaltung. Viel lieber sitzt sie hier einen Moment für sich alleine, sehend und zeichnend.
Anne vertieft sich wieder in ihre Skizze. Als ihr auffällt, dass es schon eine Weile ganz still ist, von dem älteren Ehepaar also überhaupt keine Antwort gekommen ist, blickt sie noch einmal hoch. Die Dame und der Herr schauen zu ihr herüber, beide mit leicht geröteten Köpfen und – oder irrt sie sich? – sogar mit einem wütenden Ausdruck in ihren Gesichtern!
Jetzt wedelt der alte Herr zackig mit seinem Stock Richtung Basilika und sagt mürrisch: »Um zur protestantischen Kirche zu gelangen, musst du erst durchs Fegefeuer gehen.« Dann richtet er sich auf, seufzt, stützt sich auf seinen Stock und spaziert neben seiner Frau langsam auf das Eingangsportal der Basilika zu. Die Glocken läuten zum Gottesdienst. Beide verschwinden hinter der massiven Tür.
Hat sie schon wieder etwas Unpassendes oder Falsches gesagt? Anne ist ratlos. Sie versucht, sich an ihre Sätze zu erinnern: Sicher, das war vielleicht nicht das eleganteste Niederländisch, aber doch auch nicht komplett falsch. Warum dann dieser Stimmungswandel? Und eine so drastische Reaktion. Durchs Fegefeuer wollte er sie schicken!
Irgendwie ist ihr die Lust aufs Zeichnen vergangen. Sie packt ihre Malsachen zusammen, steht auf, geht ein wenig an der Kirche entlang und biegt dann in eine kleine Gasse ein. Nach einigen Schritten bleibt ihr Blick an etwas hängen: Auf dem Straßenschild steht »Het Vagevuur« … Und über ihrem Kopf: ein hoher roter Turm. Noch eine Kirche!
Was ist da schiefgelaufen?
Wer als Ausländer in die Niederlande reist, trägt wahrscheinlich einige Bilder und Klischees über dieses Land mit sich herum. Vielleicht ist es das Bild des Holländers, der im Sommer im Wohnwagen lebt und im Winter auf Schlittschuhen zur Arbeit fährt. Vielleicht ist es die Vorstellung, dass alle Autokennzeichen in den Niederlanden gelb sind oder dass die Niederlande von Amsterdam aus regiert werden. Vielleicht ist es auch das Bild der liberalen, toleranten und dazu überwiegend protestantischen Bevölkerung.
Einige dieser Bilder entsprechen in kleinen oder großen Teilen durchaus der Wirklichkeit. Zum Beispiel fahren viele, aber eben keineswegs alle Holländer für ihr Leben gern mit dem Wohnwagen in den Urlaub oder brausen im Winter über die zugefrorenen Gewässer (siehe Kapitel 33: »Post am laufenden Meter«). Liberalismus und Toleranz werden in den Niederlanden tatsächlich hochgehalten, aber auch hier gibt es Ausländerfeindlichkeit und Rechtsradikalismus (siehe Kapitel 32: »Kopfstöße und schwarze Afghanen«). Die meisten – aber nicht alle – Nummernschilder sind gelb und die Hauptstadt der Niederlande ist Amsterdam, wenn auch nicht der Regierungssitz (siehe Kapitel 13: »Oranje oben«, Infobox zum Prinsjesdag). Und in der Tat waren die Protestanten in den Niederlanden lange Zeit in der Überzahl.
Hier ist wie bei allen Klischees aber Vorsicht geboten: Gerade das Bild der protestantischen Niederlande trifft heute nämlich nicht mehr zu! Zwar stellten die Protestanten bzw. Calvinisten lange Zeit die größte Bevölkerungsgruppe, doch im 20. Jahrhundert änderte sich diese Situation: Viele Protestanten verließen die Kirche, sodass heute die Gruppe der Konfessionslosen mit fast 50 Prozent den größten Teil der Bevölkerung ausmacht, gefolgt von den Katholiken, die mit fast 30 Prozent in der niederländischen Gesellschaft vertreten sind – gegenüber kaum mehr als 15 Prozent Protestanten.
Mit ihrer Annahme, eine protestantische Kirche vor sich zu haben, ist Anne aber nicht nur vor diesem Hintergrund in ein Fettnäpfchen getreten, sondern vor allem deshalb, weil sie sich in Limburg befindet. Denn Limburg, das heißt der Süden der Niederlande, war schon immer katholisches Gebiet, während die Menschen im Norden traditionell protestantisch sind. Mit ihrem nett gemeinten Lob der »protestantischen Basilika« hat Anne somit das dem katholischen Gebäude anscheinend tief verbundene Ehepaar ziemlich brüskiert.
Die Antwort des Niederländers fiel aber dennoch nicht ganz so scharf aus, wie sie auf Anne zunächst wirkte. Denn in der Tat steht direkt neben der katholischen Sint Servaasbasiliek eine protestantische Kirche: die im 14. Jahrhundert erbaute Sint Janskerk mit ihrem weit sichtbaren roten Turm. Zwischen beiden Kirchen liegt nur eine kleine Gasse: Het Vagevuur – das Fegefeuer.
RELIGION UND CALVINISTISCHE LEBENSEINSTELLUNG
Martin Luthers Lehren, die für das Heilige Römische Reich so folgenreich waren, wurden auch in den Niederlanden verbreitet, v. a. in den nördlichen Provinzen. Allerdings blieben die meisten Niederländer der alten römischen Lehre zunächst treu. Erst allmählich, besonders im Zusammenhang mit den Lehren Johannes Calvins (1509–1564) und mit dem Unabhängigkeitskrieg gegen das katholische Spanien (1568–1648), etablierten sich in den nördlichen Provinzen verschiedene gereformeerde (reformierte) Strömungen wie z. B. Calvinisten und Lutheraner, die heute in der gemäßigten Protestantse Kerk in Nederland vereinigt sind.
Charakteristisch für den Calvinismus und prägend für die niederländische Gesellschaft war und ist das Motto »Steek je kop niet boven het maaiveld« (Halt deinen Kopf nicht über die Mähwiese), was so viel bedeutet wie: Bleib auf dem Teppich – versuche nicht, andere zu übertrumpfen, und fühl dich nicht als etwas Besonderes.
In einigen niederländischen Orten lebt der strenge Calvinismus noch bis heute fort. Besonders im sogenannten Bijbelgordel (Bibelgürtel), einer schräg durch das Land verlaufenden Zone, leben noch strenggläubige Reformierte. Schwarze Kleidung, das Verbot moderner Medien, Fleiß, Verzicht auf Luxus und strenge Sonntagsruhe gehören hier zum alltäglichen Leben. Im Süden und Osten, hinter dem Bijbelgordel, blieben die Katholiken bis heute in der Mehrheit.
Eine Kirchensteuer wird in den Niederlanden übrigens nicht erhoben.
So ist’s oranje
Auf ihrer weiteren Reise sollte Anne vorsichtig mit vorgefassten, in ihrem Kopf herumschwirrenden Bildern umgehen. Natürlich gibt es verschiedene Eigenschaften, Vorlieben oder Einstellungen, die in den Niederlanden besonders oft angetroffen und auch hochgehalten werden. Man sollte diese Klischees den einzelnen Bewohnern des Landes aber nicht einfach überstülpen. Denn die Niederlande sind zwar ein kleines, aber dennoch buntes Land, in dem es vielfältige regionale Unterschiede gibt.
Anne wird auf ihrer Reise sicherlich auf Niederländer treffen, die so sind, wie sie es erwartet. Sie wird aber auch auf Menschen treffen, die mit ihren Vorstellungen überhaupt nichts gemein haben: Nur weil die meisten Holländer Protestanten sind oder waren, bedeutet das nicht, dass der Limburger auch protestantisch ist. Nur weil der ordentliche Bayer oder die zünftige Bayerin jeden Sonntag mit Gamsbart und Dirndl in die katholische Kirche gehen, tut der Hamburger dies noch lange nicht. Zwar herrscht im Ausland die Vorstellung, der Deutsche würde gerne Berge von Würstchen und Sauerkraut essen, aber das heißt noch lange nicht, dass in deutschen Haushalten die Würstchen aus den Kühlschränken quellen. Im Gegenteil: Wer als Deutscher