Unrast. Olga Tokarczuk

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Unrast - Olga Tokarczuk


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Medien beschrieben wird. Im Grunde ein sehr bürgerliches Leiden. Der Patient verbringt Stunden vor dem Fernseher und sucht mit der Fernbedienung nur die Sender, auf denen besonders schreckliche Nachrichten gebracht werden: Kriege, Epidemien, Katastrophen. Gebannt von dem Anblick, kann der Zuschauer die Augen nicht mehr abwenden.

      Die Symptome selbst sind nicht bedrohlich, man kann in Ruhe damit leben, solange man eine gewisse Distanz behält. Dieses unangenehme Leiden lässt sich nicht heilen, die Wissenschaft begnügt sich in diesem Fall mit der bedauernden Feststellung, dass es existiert. Gelangt der über sich selbst entsetzte Patient schließlich in die Sprechstunde eines Psychiaters, wird dieser ihm raten, seine Lebenshygiene zu verbessern: Verzicht auf Kaffee und Alkohol, Schlafen bei offenem Fenster, Gartenarbeit, Stricken oder Weben.

      Mein Symptomkomplex besteht darin, dass mich alles anzieht, was kaputt, unvollkommen, defekt, zerbrochen ist. Mich interessiert das Unansehnliche, Irrtümer der Schöpfung, Sackgassen. Das, was sich entwickeln sollte, doch aus irgendwelchen Gründen unentwickelt geblieben oder, umgekehrt, übers Ziel hinausgeschossen ist. Alles, was von der Norm abweicht, was zu klein oder zu groß ist, wuchernd oder verkümmert, monströs und abstoßend. Formen, die keine Symmetrie wahren, die sich vervielfältigen, in die Breite gehen, sprießen oder, umgekehrt, die Vielzahl zur Einzahl reduzieren. Mich interessieren keine wiederholbaren Vorkommnisse, über die sich aufmerksam die Statistik beugt, die von allen mit zufriedenem freudigem Grinsen gefeiert werden. Meine Sensibilitäten sind teratologisch, monstrophil. Ich bin der unbeirrbaren und irritierenden Überzeugung, dass genau darin das wahre Sein zum Vorschein kommt und seine Natur offenbart. Eine plötzliche, zufällige Enthüllung. Ein verschämtes »Hoppla«, ein Zipfel Unterwäsche unter dem sorgsam plissierten Rock. Ein abscheuliches Metallskelett dringt plötzlich durch den Samtbezug, eine Eruption der Federn im Plüschsessel, die jedwede Illusion von Weichheit schamlos demaskiert.

      Kuriositätenkabinett

      Für den Besuch von Kunstmuseen habe ich nie viel übrig gehabt, und wenn es nach mir ginge, könnte man an ihrer Stelle gerne Kuriositätenkabinette einrichten, wo das Seltene und Einmalige, das Absonderliche und Monströse gesammelt und ausgestellt wird. Das, was im Schatten des Bewusstseins existiert und aus dem Blickfeld verschwindet, sobald man hinschaut. Ja, mit Gewissheit leide ich an jenem unglückseligen Syndrom. Mich zieht es nicht zu Ausstellungen in den Stadtzentren, sondern eher in kleine, zu Krankenhäusern gehörige Sammlungen, die oft in den Keller verbannt sind, als verdienten sie keinen wertvollen Ausstellungsraum, Indizien für den suspekten Geschmack früherer Sammler. Ein Salamander mit zwei Schwänzen in einem ovalen Glas, der mit hochgereckter Schnauze den Tag des Jüngsten Gerichts abwartet, wenn alle Präparate der Welt wiederauferstehen. Die Niere eines Delphins in Formalin. Die reine Anomalie: ein Schafsschädel mit je zwei Augenpaaren, Ohrenpaaren und Schnauzen, schön wie das Bildnis einer vielgesichtigen antiken Gottheit. Ein mit Glasperlen geschmückter menschlicher Embryo, dazu ein in sorgfältiger Schönschrift gefertigtes Etikett: »Fetus Aethiopis 5 mensium«. Jahrelang wurden hier die schrägen Launen der Natur gesammelt, Doppelköpfige und Kopflose, ungeboren treiben sie träge in Formaldehyd-Lösung. Oder der Fall des Cephalothoracophagus Monosymetro, bis heute in einem Museum in Pennsylvanien ausgestellt, der in Gestalt der pathologischen Morphologie einer Leibesfrucht mit einem Kopf und zwei Körpern die Grundlagen der Logik als Gleichung 1=2 in Frage stellt. Und zu guter Letzt ein rührendes hausgemachtes Präparat aus der Küche: Äpfel aus dem Jahre 1848 mit seltsamen, ganz abartigen Formen schlummern in Spiritus, weil offensichtlich jemand erkannte, dass diesen Launen der Na-tur Unsterblichkeit gebührt und nur das überdauert, was anders ist.

      Und genau deshalb unternehme ich meine geduldigen Reisen, auf denen ich die Fehler und Reinfälle der Schöpfung aufspüre.

      Ich habe gelernt, in Zügen, Hotels und Wartesälen zu schreiben. Auf den Klapptischchen im Flugzeug. Ich mache mir beim Mittagessen unter dem Tisch Notizen, oder sogar auf der Toilette. Ich schreibe auf Museumstreppen, in Cafés, auf geparkten Autos am Straßenrand. Ich schreibe auf Papierfetzchen, in Notizbücher, auf Postkarten, auf meinen Handrücken, auf Servietten, auf die Seitenränder in Büchern. Meistens kurze Sätze, Skizzen, manchmal schreibe ich auch Stücke aus Zeitungen ab. Es kommt vor, dass mich irgendeine Gestalt in der Menge von meinem Weg abbringt, ich folge ihr eine Zeitlang, fange an zu erzählen. Das ist eine gute Methode, in der ich mich vervollkommnen will. Von einem Jahr aufs andere ist die Zeit meine Verbündete geworden, wie für jede Frau: Ich bin unsichtbar, durchsichtig geworden. Ich kann mich wie ein Geist umherbewegen, Menschen über die Schulter schauen, ihren Streit belauschen, zusehen, wie sie mit dem Kopf auf dem Rucksack schlafen, wie sie mit sich selbst reden, ohne sich meiner Anwesenheit bewusst zu sein, die Lippen bewegen, Worte formulieren, die ich ihnen laut nachspreche.

      Sehen ist wissen

      Das Ziel meiner Pilgerreise ist immer ein anderer Pilger. Diesmal ist es ein gebrechlicher Pilger, in Stücken.

      Hier werden zum Beispiel Knochen gesammelt, aber nur solche, mit denen etwas nicht stimmt: verkrümmte Wirbelsäulen und verdrehte Rippen, die bestimmt aus ebenso verdrehten Körpern gezogen worden sind, um präpariert, getrocknet und zum Schluss mit Lack überzogen zu werden. Eine kleine Nummer gibt einen Hinweis auf die Krankheitsbeschreibung in längst zerbröselten Listen. Wie kurzlebig ist Papier im Vergleich mit Knochen! Man hätte gleich auf Knochen schreiben sollen.

      Da ist zum Beispiel ein Oberschenkelknochen, den jemand vorwitzig der Länge nach durchgesägt hat, um zu sehen, was darin steckt. Bestimmt war er enttäuscht, denn er hat beide Teile mit Schnur umwickelt und sie, mit den Gedanken schon bei etwas anderem, zurück in den Schaukasten gelegt.

      In diesem Schaukasten befinden sich mehrere Dutzend Menschen, die sich nicht kannten, deren Leben zeitlich und räumlich weit voneinander entfernt stattfanden. Jetzt sind sie gemeinsam in diesem schönen, geräumigen, trockenen und gut beleuchteten Grab zur musealen Ewigkeit verurteilt; die Knochen, die auf ewig in der Erde stecken, beneiden sie bestimmt darum. Und manche von ihnen – die Knochen der Katholiken – machen sich vielleicht Sorgen darüber, wie sich alle am Tag des Jüngsten Gerichts wiederfinden werden, wie sie sich so versprengt wieder zu dem Körper zusammenfinden sollen, der Sünden begangen und gute Taten vollbracht hat.

      Schädel mit allen nur vorstellbaren Strukturen, durchschossen, durchlöchert, geschrumpft. Vom Rheumatismus befallene Handknochen. Mehrfach gebrochene Arme, die ohne Hilfe wieder zusammengewachsen sind, so, wie es sich gerade fügte, ein versteinerter vieljähriger Schmerz.

      Lange Knochen, die zu kurz sind, und kurze Knochen, die zu lang sind, tuberkulös, von Veränderungen gezeichnet, als hätte ein Borkenkäfer an ihnen genagt.

      Arme Menschenschädel in beleuchteten viktorianischen Glaskästen, wo sie die eigenen Zähne demonstrativ blecken. Der eine hat zum Beispiel mitten in der Stirn ein großes Loch, aber schöne Zähne. Man fragt sich, ob dieses Loch tödlich war. Nicht unbedingt. Es gab einmal einen Eisenbahningenieur, dem eine Eisenstange das Gehirn durchbohrte und der trotz dieser Verletzung noch viele Jahre lebte. Diesen Fall machte sich selbstverständlich die Neuropsychologie zunutze und erklärte, der Sitz unseres Seins sei im Gehirn. Der Verletzte starb nicht, veränderte sich aber stark. Er wurde – wie man so sagt – ein anderer. Denn es hängt vom Gehirn ab, wie wir sind, deshalb wollen wir gleich nach links abbiegen, in den Gang mit den Gehirnen. Da sind sie! Cremefarben liegen sie in der Lösung, große und kleine, geniale und solche, die nicht bis zwei zählen konnten.

      Weiter hinten liegt das Revier der Föten, der Menschen im Miniaturformat. Kleine Püppchen, Präparatchen, alles im Miniaturformat, so passt ein ganzer Mensch in ein kleines Glas. Die Allerjüngsten, die Embryonen, die man fast nicht sehen kann, sind kleine Fischchen, Fröschchen, die an einem Rosshaar im Formaldehyd hängen. Die Größeren veranschaulichen uns die Ordnung des menschlichen Körpers, in dem alles so wunderbar verpackt ist. Nicht menschgewordene Würmchen, semihominidale Winzlinge, deren Leben nie die magische Grenze des Potentiellen überschritt. Sie haben eine Gestalt, doch in den Geist sind sie noch nicht hineingewachsen – vielleicht ist die Gegenwart des Geistes irgendwie mit der Größe der Gestalt verbunden. In ihnen hat die Materie angefangen, sich in schläfriger Unbeirrbarkeit zu Leben zu fügen, Gewebe anzusammeln, Verbindungen zwischen den Organen herzustellen, ein


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