Vier Schlüssel zum König. Merlin T. Salzburg
Читать онлайн книгу.Zimmertür seines Großvaters und trat dann ein. »Guten Abend, Opa Reinhard!«, grüßte er.
»Guten Abend, mein lieber Tivaro. Schön, dass du kommst.«
Tivaro nickte. »Wie geht’s dir denn nach der Operation?«
»Wie man sieht lebe ich noch«, erwiderte der Großvater. Aus seinen Nasenlöchern traten zwei durchsichtige Plastikschläuche, die irgendwo unter der Bettdecke verschwanden. Opa Reinhard bemerkte Tivaros Blicke. »Durch diese Schläuche bekomme ich zusätzlichen Sauerstoff. Das ist nur zur Unterstützung«, erklärte er. »Hast Du denn das Schachbrett mitgebracht? Und meine Lektüre?«
»Klar habe ich«, sagte Tivaro und holte das Schachspiel und die Bücher aus seinem Rucksack.
»Du kannst die Figuren ja schon mal aufbauen«, sagte der Großvater und legte die Bücher in eine Schublade seines Nachttisches. »Das Tablett nehmen wir als Unterlage. Hilf mir mal!«
Tivaro zog das eingehängte Tablett aus dem Nachttisch und klappte es nach außen. Dann begann er die Schachfiguren aufzustellen.
»Der weiße König fehlt ja«, bemerkte Tivaro nach kurzer Zeit.
»Das ist ja seltsam. Wo denn wohl der König ist?« Opa Reinhard spielte den Erstaunten. »Geh mal an meinen Spind, Tivaro. Dort hängt mein Jackett. Und gib mir mal das, was du in der rechten Innentasche findest.«
Tivaro gehorchte und öffnete die Tür des schmalen Blechschranks, der dem Krankenbett gegenüber stand. Als er in die Innentasche des Jacketts griff, zog Tivaro erschrocken seine Hand zurück. Dann griff er erneut hinein und hielt zwei Gebisshälften in der Hand. »Deine Zähne, Opa«, meldete Tivaro etwas verwirrt.
»Falsche Seite. Such in der anderen Innentasche«, lachte der Großvater.
Tivaro angelte den fehlenden Schachkönig aus der Innentasche des Jacketts. »Wieso hast du denn den König in deiner Jacke?«, wunderte er sich.
»Weil er dort vermutlich am besten aufgehoben ist. Bei Leuten wie Rupert Raff kann man nie wissen, was sie im Schilde führen. Wenn Rupert gewusst hätte, dass ich den weißen Schachkönig bei mir im Jackett habe, hätte er mich gestern bestimmt bestohlen. Deshalb bat ich dich, das Schachspiel zu holen. Ich möchte nämlich, dass du es an dich nimmst mitsamt diesem König. Ohne König kann man schließlich nicht gut spielen.«
»Was hat es denn mit dem König auf sich, Opa?«, fragte Tivaro neugierig.
»Sieh mal draußen nach, ob die Luft rein ist«, sagte Opa Reinhard.
Tivaro ging zur Tür, öffnete sie und blickte auf den Gang hinaus. »Niemand zu sehen«, sagte er.
»Gut. Nimm dir einen Stuhl und setze dich zu mir ans Bett. Ich will dir nämlich die Geschichte mit dem Nazi-Schatz zu Ende erzählen. Dann wirst Du auch gleich mehr über den König erfahren. Oder willst du lieber Schach spielen?«
»Natürlich will ich die Geschichte weiterhören«, sagte Tivaro voller Eifer und hatte schon einen Stuhl neben Opas Bett geschoben.
»Ich erzähle dir nun etwas von damals, als ich selbst noch ein kleiner Junge war«, begann Tivaros Großvater. »Ich war gerade mal sieben, und mein Vater war Förster im Taunus. Der Krieg war schon fast vorbei, als die Nazis eine Menge Gold im ganzen Land versteckten. Mein Vater erzählte uns damals von seltsamen Grabungen im Wald, von denen niemand Genaueres wusste. Wir waren natürlich neugierig. Viele Gebiete im Wald wurden damals von den deutschen Soldaten abgesperrt. Als dann gegen Ende des Krieges die Amerikaner kamen, verschwanden die deutschen Soldaten aus dem Wald. Manche flüchteten auch aus der Armee. Und so kam es, dass eines Tages ein verletzter deutscher Soldat Zuflucht bei uns im Forsthaus suchte. Dieser Mann besaß eine Karte ...«
»Was für eine Karte?«, hakte Tivaro gespannt nach.
»Eine Schatzkarte. Auf ihr ist ein unterirdischer Stollen eingezeichnet, der sich mit mehreren Gängen irgendwo durch den Taunus zieht.« Tivaros Großvater nahm den weißen König vom Schachbrett. Dann löste er den grünen Filzbelag vom Boden der Schachfigur und zog ein Röllchen Papier daraus hervor. »Sieh mal, Tivaro! Dies ist eine Kopie der Karte. Genauer gesagt, meine eigene Kopie.«
Opa Reinhard übergab Tivaro das Röllchen, und während Tivaro die Karte entrollte und sie neugierig betrachtete, fuhr der Großvater fort: »Der Soldat bat meinen Vater diese Karte vor den Amis zu verstecken. Oder er sollte sie der Nachhut der deutschen Kameraden übergeben, falls diese das Forsthaus noch vor den Amerikanern erreichten. Er erzählte meinem Vater auch noch viele weitere Einzelheiten über die Grabungen und einen gewaltigen Nazi-Schatz. Ich versuchte, mir soviel wie möglich von diesen Gesprächen zu merken. Aber ich war nun mal erst sieben Jahre alt, weißt du?«
Tivaro nickte nur und hörte weiter gebannt zu.
»Nun, kurze Zeit später starb der verletzte Soldat in unserem Haus«, erzählte der Großvater weiter. »Doch vorher zeichnete ich die Karte heimlich nach. Und das, was du da in der Hand hältst, ist die Zeichnung deines siebenjährigen Opas. Außerdem fehlt die Hälfte der Karte.«
Tivaro blickte seinen Großvater erstaunt an. »Und wo ist die andere Hälfte?«
»Die hat Rupert Raff«, sagte Opa Reinhard, und Ärger breitete sich in seinem Gesicht aus. »Auf der anderen Hälfte sind die Gänge eingetragen. Doch davon später. Du musst zuvor noch ein paar andere Dinge wissen. Meine Eltern fanden nämlich bei dem Toten auch die vier Silberschlüssel, von denen ich dir gestern erzählte. Diese vier Schlüssel gehören zu vier Schatzkisten, die im Taunus unterirdisch versteckt wurden.«
Der Großvater wies auf die Karte, die Tivaro in der Hand hielt. »Auf deinem Teil der Schatzkarte siehst du zum Beispiel diese vier Symbole: einen Ring, eine Perle, eine Münze und ein Symbol, das ich bis heute nicht richtig deuten konnte. Auch Rupert Raff nicht.«
Tivaro suchte die Karte nach den Symbolen ab. »Mit ein wenig Phantasie könnten das Steine sein oder so etwas ...«, versuchte Tivaro.
»Ich war vielleicht erst sieben, aber Steine habe ich da sicher nicht abgezeichnet«, verteidigte sich Opa Reinhard. Er hüstelte etwas, und Tivaro bemerkte, dass seinem Großvater das Atmen recht schwer fiel. »Der Soldat hat meinem Vater genau gesagt, was sich in diesen Goldkisten befindet. Und ich habe vieles mit angehört.«
Tivaro nickte und wickelte die Schatzkarte langsam wieder zu einem Röllchen zusammen. »Was habt ihr eigentlich mit dem toten Soldaten gemacht?«, wollte er dann wissen.
»Nun, er wurde noch am selben Tag abgeholt. Da kam ein Trupp deutscher Soldaten mit einem Geländewagen zum Forsthaus. Sie nahmen den toten Soldaten mit, und mein Vater übergab dem Hauptmann die zusammengerollte Karte.«
»Da waren die anderen Soldaten sicher froh, dass die Karte nicht den Amis in die Hände fiel, oder?«, fragte Tivaro.
Opas Gesicht wurde plötzlich sehr traurig. »Das hätte man meinen können. Aber die Sache verlief ganz anders als erwartet, mein lieber Tivaro. Als mein Vater die Karte übergab, wurde er vor unseren Augen vom Hauptmann mit einem Kopfschuss getötet.«
Tivaro war entsetzt: »Wie furchtbar! Warum haben die das getan?«
»Wahrscheinlich fürchteten sie, dass mein Vater schon zuviel Wind von der Sache bekommen hatte. Sie konnten keine Zeugen gebrauchen, die etwas über ihre Grabungen im Wald wussten.«
»Und wie erging es dir und den anderen damals?«
»Mir und meiner Mutter taten sie nichts. Sie durchsuchten noch das ganze Haus, konnten aber nichts finden.« Tivaros Opa kicherte. »Ich hatte nämlich meine Zeichnung zuvor unter die vielen Pläne, Karten und anderen Papiere meines Vaters geschoben, die überall herumlagen. Und die Silberschlüssel habe ich einfach in unsere Besteckschublade gelegt, wo sie nicht weiter auffielen.«
»Geniales Versteck«, gab Tivaro zu.
»Und in dieser Besteckschublade liegen sie heute noch. In meiner Küche. Sie sind natürlich nach über sechzig Jahren schon schwarz geworden und nicht mehr so schön silbern wie vorher.« Tivaros Großvater machte eine kleine Atempause,