Der letzte Überlebende. Sam Pivnik

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Der letzte Überlebende - Sam Pivnik


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Regierung nicht viel für die Juden übrig hatte. Zwei Jahre vor dem Einmarsch der Deutschen hatte es in einigen polnischen Städten antisemitische Ausschreitungen gegeben, die fast schon an Pogrome grenzten. Die Erwachsenen hatten wohl Déja-vu-Erlebnisse. Immer wieder waren Juden Opfer von Verfolgung gewesen. Wir waren aus unzähligen europäischen Ländern ausgewiesen worden, mussten weiterziehen, uns eine neue Heimat suchen. „Ihr habt kein Recht, unter uns zu leben.“

      Wenn ich bisher so etwas wie Antisemitismus wahrgenommen hatte, dann höchstens in den Tagen nach Ostern. Ansonsten spielte ich das ganze Jahr mit Nicht-Juden wie mit Juden, darunter Jurek und die Gutsek-Brüder. Aber um Ostern herum gab es immer Schlägereien, weil uns dann die Christen beschuldigten, wir hätten Jesus Christus ermordet. Andererseits gab es auch sonst gelegentlich Schlägereien: wegen eines Fouls beim Fußball, einer gehässigen Bemerkung … Wenn der Krieg nicht gekommen wäre, hätten wir uns vermutlich in den nächsten Jahren irgendwann um die Mädchen geprügelt. Am nächsten Tag war alles vorbei und vergessen. Man trug die Platzwunden und Blutergüsse mit Stolz und vergaß das Ganze. Die einzigen Schwierigkeiten, die ich mitbekam – Nathan erzählte manchmal davon –, gab es, wenn die Nicht-Juden ein Fußballspiel verloren. Die Streitereien wurden allerdings immer von Auswärtigen vom Zaun gebrochen. Bis zu diesem September hatte es in Będzin nie ein Pogrom gegeben.

      Würde es so bleiben? Und wenn nicht, konnten wir Juden einfach weiterziehen, wie wir es immer getan hatten, und eine neue Zuflucht finden? Wo würden wir schließlich einen neuen Garten Eden finden?

      An die nächsten Tage erinnere ich mich nur noch wie durch einen Nebelschleier. Im übrigen Polen, so erfuhr ich später, wurde die Armee noch weiter zurückgedrängt, sodass wir isoliert und ohne Verteidigung waren. Am 6. September nahm Lists 14. Armee Krakau ein, die polnische Regierung verließ Warschau. Die polnische Armee war erschöpft, hoffnungslos in der Unterzahl und fast überall besiegt. Sie wurde auf eine Linie entlang den Flüssen Weichsel, Narew und San zurückbeordert. Einen Tag später musste sie sich sogar bis zum Fluss Bug zurückziehen.

      Inzwischen galt unsere erste Sorge den Lebensmitteln. Es gab wohl irgendwie die Möglichkeit, Lebensmittel einzukaufen, aber die Ausgangssperre war nach wie vor in Kraft, und ab einer bestimmten Uhrzeit bewegten sich nur Deutsche auf den Straßen. Von neunzehn Uhr bis acht Uhr am nächsten Morgen mussten wir im Haus bleiben. In Będzin hatte es keine Kämpfe gegeben, es gab keine Ruinen und keine Mauerreste wie in so vielen anderen europäischen Städten in diesen Monaten. Aber überall waren Soldaten, die meisten in den graugrünen Wehrmachtsuniformen. Einige trugen Ketten um den Hals, das Zeichen der Militärpolizei. An Samstag nach dem Einmarsch – immer noch sprach niemand davon, zur Synagoge zu gehen – veränderten sich die Uniformen. Jetzt sah man häufiger die blaugrünen Jacken der Zivilpolizei, und bald kamen auch Männer in hellbraunen Jacken mit rot-schwarz-weißen Armbinden mit dem Hakenkreuz dazu: Parteibürokraten der Nazis, die ins Rathaus und andere offizielle Gebäude einzogen und ihre Aktenschränke, Schreibmaschinen und Papiere mitbrachten. Eine der vielen Eigenheiten, die ich in den folgenden Jahren über die Nazis erfahren sollte, war ihre Detailversessenheit. Alles wurde mit dreifachem Durchschlag geschrieben, weitergeleitet und abgeheftet. Sie waren stolz auf ihre Leistungen. Aber was mich am meisten alarmierte, war die Tatsache, dass auch die Stadtpolizei von Będzin wieder zu sehen war. Entweder waren viele Volksdeutsche unter den Beamten, oder sie machten mit, um zu überleben.

      Fast unmittelbar nach den ersten Tagen begannen auch die Razzien. Männer wurden von den Soldaten „eingesammelt“, vor allem die orthodoxen Juden mit ihrer schwarzen Kleidung, den Schläfenlocken und langen Bärten. Sie wurden auf Plätzen und an Straßenecken zusammengetrieben und aus der Stadt gebracht, hinaus zu den Fabriken, die bei den Luftangriffen der vergangenen Woche zerbombt worden waren. Dort bekamen sie den Befehl, Blindgänger zu suchen, die noch einmal eingesetzt werden konnten. Die Männer waren für diese gefährliche Arbeit nicht ausgebildet und hatten auch keine Schutzausrüstung. Im Grunde waren sie nur menschliche Minensuchgeräte – sie waren ja entbehrlich. Wenn ein Blindgänger hochging und ein paar Juden in Stücke zerrissen oder schwer verletzt wurden, kein Problem.

      Sehr genau erinnere ich mich an Freitag, den 8. September. An diesem Tag kamen die Einsatztruppen, wie man sie nannte. Wir kannten den Namen nicht und hatten auch keine Vorstellung, mit welchem Auftrag sie kamen. Die meisten sahen aus wie Polizisten in einer Art Kampfanzug. Andere trugen Wehrmachtsuniformen, allerdings mit schwarzen Schulterklappen und Blitzen an den Kragenspiegeln. Auf dem Ärmel trugen sie einen Adler. Sie kamen mit der üblichen bunten Mischung aus Motorrädern, Lastwagen und Geländewagen. Es handelte sich um Exekutionskommandos, vom Oberkommando der Nazis dazu ausgesucht, mein Volk systematisch anzugreifen. Heute weiß ich, dass die Einheit, mit der wir es zu tun bekamen, von SS-Obergruppenführer Udo von Woyrsch befehligt wurde, einem schlesischen Adligen, der schon seit Jahren Mitglied der NSDAP war. Seine Einsatzgruppe umfasste etwa zweitausend Männer in einer besonderen Zusammensetzung, die typisch für diese Einheiten war. Sie waren alle Mitglieder des Sicherheitsdienstes, bestehend aus verschiedenen Polizeiabteilungen wie Gestapo, Kripo und Ordo. Unter dem Oberbefehl von Heinrich Himmler, dem Reichsführer der SS, verbreiteten sie Angst und Schrecken in der Gegend um Kattowitz. Ihr Einsatz war der Beginn dessen, was die Welt später als den Holocaust kennenlernen sollte.

      An diesem Nachmittag blieb ich im Haus, weil man sonst nirgendwo in Sicherheit war. Von Zeit zu Zeit hörten wir Schüsse in den Straßen der Stadt. Und dann, am Spätnachmittag, kam der Brandgeruch. Er unterschied sich von dem der brennenden Fabriken in der Woche zuvor. Ich wollte herausfinden, was da los war, aber meine Eltern ließen mich natürlich nicht gehen. Die Tage, an denen ich in vollkommener Sicherheit einen Ball durch die Straßen kicken konnte, waren vorbei. Meine Mutter hielt ihre Kinder bei sich. Als es dämmerte, schlich ich mich trotzdem aus der Wohnung und kletterte auf das Dach eines Schuppens, der sich an eine hohe Mauer lehnte. Der Himmel glühte rot, der schwarze Rauch stieg in den lilafarbenen Abend. Die große Synagoge brannte, das Symbol meines Volkes stand in Flammen. Die Balken krachten schon und brachen in sich zusammen. Und das am Sabbat, dem Tag des Herrn.

      Ich weiß nicht, wie lange ich dort blieb, auf Zehenspitzen stehend und wie gebannt von dem Anblick. Keine Feuerwehr eilte herbei, das Feuer breitete sich auf die Häuser rund um die Synagoge aus, lauter jüdische Geschäfte, jüdische Wohnhäuser. Erst als Hendla nach mir rief, riss ich mich los. Die Pivniks waren an diesem Wochenende alle zu Hause und drängten sich zusammen, während die Welt um sie herum in Stücke brach.

      Am Montagmorgen fassten wir Mut hinauszugehen. Wir hatten wohl auch nicht mehr viel zu essen im Haus, also musste es sein. Der Anblick, der sich uns bot, war unvorstellbar. Das ganze Wochenende über hatten die Einsatztruppen ihren Auftrag ausgeführt, und die Ergebnisse waren überall zu sehen. Leichen lagen in den Straßen, verkrampft im Todeskampf, ihr Blut als bräunliches Rinnsal am Straßenrand. Ich hatte noch nie einen Toten gesehen, und dies waren ja Menschen, die ich kannte: Nachbarn und Freunde unserer Familie, die noch vor ein paar Tagen ihrer Arbeit nachgegangen waren, ohne sich – glaube ich jedenfalls – irgendwelche Sorgen zu machen. Die meisten waren ältere Juden, die man leicht an ihrer frommen traditionellen Kleidung und ihren Hüten erkennen konnte – leichte Opfer für die Gewehrkolben und -kugeln der Einsatztruppen. Es wäre ein tröstlicher Gedanke, wenn man sich einbilden könnte, dass diese Männer einen schnellen Tod starben, aber so ist es wohl nicht gewesen. Man hat sie gequält, gedemütigt und geschlagen, zu Boden getreten und erschossen, als sie schon auf dem Boden lagen. Die Verletzungen in ihren blauschwarzen Gesichtern legten deutlich Zeugnis davon ab. Und es waren nicht nur Alte und Orthodoxe, die dort lagen. Es waren auch jüngere Leute beiderlei Geschlechts, sogar Kinder in meinem Alter, die an diesem Wochenende willkürlich von den Nazis erschossen worden waren. Wir hatten die Schüsse ja gehört.

      Der schlimmste Anblick jedoch waren die Juden, die auf dem Hauptplatz von den Bäumen hingen. Männer in schwarzen Mänteln, die aussahen wie entsetzliche Parodien von Weihnachtsschmuck. Ich erinnere mich noch an den Anblick der baumelnden Hände und Füße, die Körper dem Wetter ausgesetzt. Ich habe sie nicht gezählt, und niemand von uns schaute zu genau hin. Wir wollten die Einsatztruppen ja nicht reizen. Gott weiß, wie viele Menschen an jenem Wochenende in Będzin starben. Und es waren nicht nur Juden.

      Zum Teil fanden wohl einfach willkürliche Erschießungen statt. Jemand suchte zwischen den Häusern


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