Fachkräftemangel oder Machkräftemangel?. Jessica Lackner
Читать онлайн книгу.dass ein Tsunami nichts dagegen ist. Ich hatte keine Kraft mehr für diese Art von Auseinandersetzung. Egal, was ich machte, er fand immer etwas zu meckern und würde nie zufrieden sein. Ich fühlte mich wie in einer Zwangsjacke. Und ich war auch nicht mehr wirklich ich selbst. Ich fühlte mich wie eine Soldatin, die nur noch funktioniert und das macht, was der General ihr gesagt hatte. Und ich merkte darüber hinaus, dass ich, entgegen meinem Naturell, nach und nach selbst die strikte Art meines Vaters übernommen hatte.
Viele Jahre später bekam ich das immer noch zu hören, dass ich manchmal so hart sei, kalt, strukturiert, nicht nach links und rechts schaute und mein Ding durchzog. Die meisten wussten schon, dass ich auch sehr warmherzig sein kann. Doch wenn ich im »Business-Modus« war, wirkte es manchmal so, als setzte ich eine Maske auf. Ich schlüpfte in eine Rolle, um als »Geschäftsfrau« glaubhaft zu sein. Damals dachte ich, dass ich das so machen musste, damit ich trotz meines Alters von meinen Geschäftspartnern mit dem nötigen Respekt behandelt würde. Ich hatte noch nicht verstanden, dass viele Mitarbeiter nicht hinter diese Fassade schauen konnten und mich nur als kalt und streng erlebten. Das ging so lange, bis mir meine Mitarbeiter den Spiegel vorgehalten haben und ich gemerkt habe, dass ich so nicht sein wollte.
In den Seminaren, die ich seitdem besucht habe, habe ich mühsam gelernt, diese Maske wieder abzulegen. Das hat für mich alles verändert. Schließlich habe ich es geschafft, Mitarbeiter langfristig an meinen Betrieb zu binden und sie zu Höchstleistungen zu motivieren – wie über Nacht hatte sich bei mir irgendwann ein Schalter umgelegt und ich wurde authentischer.
Natürlich ist es in einem Familienbetrieb nie einfach, sich durchzusetzen, vor allem nicht in jungen Jahren und besonders als Tochter eines übermächtigen Vaters. Doch ich war nun an dem Punkt angelangt, an dem ich mich fragte: »Jessica, jetzt bist du 26. Möchtest du die nächsten zehn Jahre so weiterarbeiten? Unter Druck, Stress, mit Angstzuständen, sechs bis sieben Tage in der Woche, zwölf bis 16 Stunden täglich? Wofür? Damit du dann Leute ersetzen musst, wenn einer nicht kommt? Dafür, dass du kein Privatleben hast und schon gar keine persönliche Weiterentwicklung? Dafür, dass man dir ständig das Gefühl vermittelt, nicht gut genug zu sein? Oder möchtest du es anders machen?« Die Antwort fiel sehr deutlich aus: ANDERS!
Also warf ich in jenem Jahr selbst das Handtuch und sagte zu meinem Vater: »Mach alleine weiter. Ich gehe.«
Nach diesem Schritt fragte ich mich nun selbst:
• Was kann ich besonders gut?
• Was macht mir Freude?
• Wie kann ich anderen damit helfen?
• Wo will ich in zehn Jahren stehen?
Ich fing an, für andere Firmen zu arbeiten, investierte mein gesamtes Erspartes in meine Weiterbildung und machte mich im Coaching- und Trainingsbereich selbstständig. Über Monate baute ich mir mein eigenes Business-Modell auf.
In dieser Zeit hatten mein Vater und ich keinen Kontakt. Kein Geburtstagsanruf, kein gemeinsames Weihnachtsfest – und all das nur, weil er sich persönlich gekränkt fühlte und zu stur war, um mit mir über das Problem und die Lösung zu sprechen. Doch als meinem Vater nach einiger Zeit klar wurde, wohin ich mich beruflich entwickelt hatte und was ich für andere Firmen tat, fragte er mich, ob ich das nicht auch für seine Unternehmen machen könnte. Meine Antwort lautete: »Ja, wenn ich führen darf, wie ich will, und du dich operativ nicht mehr einmischst, komme ich zurück.« Er stimmte zu – und es hat sich tatsächlich etwas geändert. Von diesem Tag an waren wir auf Augenhöhe und ich war nicht mehr länger nur die »kleine Tochter«.
Was hatte sich bei mir in der Zwischenzeit geändert? Nun, ich hatte mich dazu entschlossen, beruflich zu wachsen. Meine Vision: Ich wollte ein Team aufbauen, das gerne zur Arbeit kam und sich gegenseitig unterstützte. Ich wollte Mitarbeiter, die sich wohlfühlten, die Lust hatten, bei 30 Grad im Strandbad Wannsee zu schwitzen. Die zu Fans des Unternehmens wurden und von ihrem Job so begeistert waren, dass sie selbst gute neue Leute mitbrachten, die die gleichen Werte teilten, und so weiter und so fort. Mit dem Ergebnis, dass ich selbst gar nicht mehr täglich anwesend sein musste und währenddessen etwas Neues aufbauen konnte. Ich wollte einen Ort kreieren, wo mein Team auch im Winter arbeiten konnte – kurz: Ich wollte für meine Mitarbeiter ein Fundament schaffen.
Ich wollte weiterkommen, andere groß machen, und ich hatte den festen Glauben daran, dass das funktionieren konnte. Aber ich wusste auch, dass es ein langer Weg sein würde, ein Prozess, der mir viel Durchhaltevermögen und Verzicht abverlangen würde. Und ich entschied mich DAFÜR. Meine Vision ist bis heute groß. Daraus ist das FAN-Modell entstanden und ich kann dir sagen, dass es funktioniert!
2015 konzipierten und gründeten mein Vater und ich schließlich gemeinsam ein Restaurant bzw. eine Eventlocation am Rande von Berlin auf einem Schießplatz: die »Schützen-Wirtin«. Alles, was ich bis dahin aus meinen negativen und positiven Erfahrungen gelernt hatte, konnte ich in diesem neuen Restaurant ausprobieren – insbesondere was die Themen Teamführung und Self-Leadership anging.
Viele, die meine Erfolgsgeschichte aus dem Strandbad kannten, hielten es damals für komplett verrückt, eine heruntergewirtschaftete Gastronomie mitten im Wald zu übernehmen. Das konnte ja nichts werden … Und ob das etwas wurde! Davon war ich überzeugt und wollte es mir (und den anderen) beweisen. Dieses neue Restaurant würde für die Beschäftigten ein Arbeitsplatz sein, zu dem sie gerne kamen und wo sie mit Freude und Motivation arbeiteten. Das Motto, das mein Team und ich in der Schützen-Wirtin lebten, lautete dann auch: »Normal ist langweilig, unsere Lieblingsfarben sind bunt und wir sind das freundlichste Wirtshaus in ganz Berlin.«
Und so sind wir langsam, aber erfolgreich gewachsen. Dass wir das Restaurant bzw. das Konzept im Oktober 2019 wieder verkauften, hatte eher private Gründe. Salzburg war mittlerweile immer mehr zu meinem Lebensmittelpunkt geworden, ich hatte geheiratet und 2018 kam unsere Tochter zur Welt.
Die Schützen-Wirtin war für mich immer auch eine Art Spielwiese, auf der ich mein Erfolgsrezept für das Recruiting und den Teamgedanken entwickeln konnte. Was dort gut funktioniert hat, gebe ich heute in meinen Coachings, Trainings und Keynotes an andere Unternehmen weiter. Denn ich will mein Wissen und meine Erfahrungen mit anderen und mit den nachfolgenden Generationen teilen. Ich möchte so viele Menschen wie möglich inspirieren, ihren Erfolg selbst in die Hand zu nehmen. Es geht mir darum, den Menschen wieder in den Mittelpunkt zu stellen – für mich eine Grundvoraussetzung dafür, auch selbst wieder bewusster und glücklicher zu leben und zu führen.
Ich habe mir in der Schützen-Wirtin ein großartiges Team aufgebaut, meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wurden zu Fans des Betriebes, der Organisation und ich zu ihrem Fundament. Daraus haben sich teilweise wunderbare Freundschaften entwickelt, ganz nach dem Motto: »Einer für alle und alle für einen.« Einige dieser Menschen befinden sich bis heute im Reisebus meines Lebens und ich bin davon überzeugt: Jetzt geht es erst richtig los …
3. Problem Fachkräftemangel
»Wer sich selbst nicht zu führen versteht, kann auch andere nicht führen.«
Alfred Herrhausen
Alle reden heute vom Fachkräftemangel – egal, wo ich hinhöre, egal, in welcher Branche ich mich bewege. Und ja, es stimmt, wir haben einen Mangel an Menschen, die in bestimmten Branchen / Bereichen eine Ausbildung oder ein Studium durchlaufen haben. Doch wie ist dieser Mangel überhaupt entstanden? Was war der Auslöser? Warum gibt es heute immer weniger Fachkräfte und weshalb rücken keine neuen nach? Und was machen wir als Führungskräfte, wenn wir merken, dass dem Mitarbeiter die nötige Kompetenz, das nötige Fachwissen fehlt?
Im Endeffekt geht es immer um beides: die Kompetenz (Können) und die Motivation (Wollen). Doch wir fokussieren uns in meinen Augen viel zu sehr auf das Können anstatt auf das Wollen. Wir erkennen oft nicht, dass sich Mitarbeiter dem Unternehmen anpassen, statt dass wir – als Führungskräfte – auf ihre individuellen