Der Schimmelreiter. Theodor Storm
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THEODOR STORM wurde 1817 in Husum geboren und studierte Jura in Kiel und Berlin. Anschließend ließ er sich als Rechtsanwalt in seiner Heimatstadt nieder. Neben seinem Beruf widmete er sich jedoch leidenschaftlich seinem eigenen literarischen Schaffen: Er schrieb Gedichte, Märchen, Erzählungen und insbesondere Novellen. Im Jahr 1888 verfasste Storm sein letztes und erfolgreichstes Werk: die Novelle Der Schimmelreiter. Noch im gleichen Jahr erlag er einer schweren Erkrankung und starb am 4. Juli.
Zum Buch
Unheimlich mutet der Deichgraf Hauke Haien den Dorfbewohnern an. Sein weißes Pferd, auf dem er häufig stundenlang die See beobachtet, bezeichnen sie als Teufel; es sei Teil einer gruseligen Legende um eine untergegangene Hallig. Manche fragen sich, ob ihm am eigenen Erfolg oder am Wohle aller liegt, als er eine für ihn lukrative neue Deichbauweise anordnet: Stur setzt sich der »Schimmelreiter« gegen jegliche Einwände durch und baut den mehr Macht versprechenden, fortschrittlichen Deich. Doch auch dieser kann die finale Katastrophe für Haien und die Dorfbewohner nicht aufhalten …
Bereits als Kind hat sich der Deichgraf Hauke Haien mehr für den Deichbau als für die Unternehmungen Gleichaltriger interessiert. Die Faszination für den von Menschenhand erschaffenen Schutz der Küste lässt ihn nicht los und sorgt auch im Verlauf seiner Eheschließung für Konflikte mit einem Konkurrenten. Während er den Dorfbewohnern immer unheimlicher wird, entwickelt er ein neues, die Küste besser schützendes Deichsystem. Eine Jahrhundertsturmflut führt zum tragischen Höhepunkt. Das Leid, das dem »Schimmelreiter« wiederfährt, scheint eng verbunden mit einem Fluch, den er – geht es nach den Küstenbewohnern – selbst heraufbeschworen habe und der den in der Novelle immer wieder auftauchenden Konflikt zwischen Fortschritt und Tradition, Vernunft und Aberglaube verdeutlicht.
»Es ist in Storm reichlich Eins, was unserer Alltagsproduktion fast durchweg verloren gegangen - Seele!« Johann Jakob Honegger
Außerdem enthalten: die Novellen Immensee und Pole Poppenspäler.
Theodor Storm
Der Schimmelreiter
Theodor Storm
Der Schimmelreiter
und andere Novellen
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Copyright © by marixverlag GmbH, Wiesbaden 2014
Der Text basiert auf der Ausgabe marixverlag, Wiesbaden 2014
Covergestaltung: Nicole Ehlers, marixverlag GmbH
Bildnachweis: 123 RF, Nidderau
eBook-Bearbeitung: Bookwire GmbH, Frankfurt am Main
ISBN: 978-3-8438-0431-8
INHALT
DER SCHIMMELREITER
Was ich zu berichten beabsichtige, ist mir vor reichlich einem halben Jahrhundert im Hause meiner Urgroßmutter, der alten Frau Senator Feddersen, kundgeworden, während ich, an ihrem Lehnstuhl sitzend, mich mit dem Lesen eines in blaue Pappe eingebundenen Zeitschriftenheftes beschäftigte; ich vermag mich nicht mehr zu entsinnen, ob von den „Leipziger“ oder von „Pappes Hamburger Lesefrüchten“. Noch fühl ich es gleich einem Schauer, wie dabei die linde Hand der über Achtzigjährigen mitunter liebkosend über das Haupthaar ihres Urenkels hinglitt. Sie selbst und jene Zeit sind längst begraben; vergebens auch habe ich seitdem jenen Blättern nachgeforscht, und ich kann daher um so weniger weder die Wahrheit der Tatsachen verbürgen, als, wenn jemand sie bestreiten wollte, dafür aufstehen; nur so viel kann ich versichern, dass ich sie seit jener Zeit, obgleich sie durch keinen äußeren Anlass in mir aufs neue belebt wurden, niemals aus dem Gedächtnis verloren habe.
Es war im dritten Jahrzehnt unseres Jahrhunderts, an einem Oktobernachmittag – so begann der damalige Erzähler –, als ich bei starkem Unwetter auf einem nordfriesischen Deich entlangritt. Zur Linken hatte ich jetzt schon seit über einer Stunde die öde, bereits von allem Vieh geleerte Marsch, zur Rechten, und zwar in unbehaglichster Nähe, das Wattenmeer der Nordsee; zwar sollte man vom Deiche aus auf Halligen und Inseln sehen können; aber ich sah nichts als die gelbgrauen Wellen, die unaufhörlich wie mit Wutgebrüll an den Deich hinaufschlugen und mitunter mich und das Pferd mit schmutzigem Schaum bespritzten; dahinter wüste Dämmerung, die Himmel und Erde nicht unterscheiden ließ; denn auch der halbe Mond, der jetzt in der Höhe stand, war meist von treibendem Wolkendunkel überzogen. Es war eiskalt; meine verklommenen Hände konnten kaum den Zügel halten, und ich verdachte es nicht den Krähen und Möwen, die sich fortwährend krächzend und gackernd vom Sturm ins Land hineintreiben ließen. Die Nachtdämmerung hatte begonnen, und schon konnte ich nicht mehr mit Sicherheit die Hufen meines Pferdes erkennen; keine Menschenseele war mir begegnet, ich hörte nichts als das Geschrei der Vögel, wenn sie mich oder meine treue Stute fast mit den langen Flügeln streiften, und das Toben von Wind und Wasser. Ich leugne nicht, ich wünschte mich mitunter in sicheres Quartier.
Das Wetter dauerte jetzt in den dritten Tag, und ich hatte mich schon über Gebühr von einem mir besonders lieben Verwandten auf seinem Hofe halten lassen, den er in einer der nördlicheren Harden besaß. Heute aber ging es nicht länger; ich hatte Geschäfte in der Stadt, die auch jetzt wohl noch ein paar Stunden weit nach Süden vor mir lag, und trotz aller Überredungskünste des Vetters und seiner lieben Frau, trotz der schönen selbstgezogenen Perinette- und Grand-Richard-Äpfel, die noch zu probieren waren, am Nachmittag war ich davongeritten. „Wart nur, bis du ans Meer kommst“, hatte er noch an seiner Haustür mir nachgerufen; „du kehrst noch wieder um; dein Zimmer wird dir vorbehalten!“
Und wirklich, einen Augenblick, als eine schwarze Wolkenschicht es pechfinster um mich machte und gleichzeitig die heulenden Böen mich samt meiner Stute vom Deich herabzudrängen suchten, fuhr es mir wohl durch den Kopf. ‚Sei kein Narr! Kehr um und setz dich zu deinen Freunden ins warme Nest.‘ Dann aber fiel’s mir ein, der Weg zurück war wohl noch länger als der nach meinem Reiseziel; und so trabte ich weiter, den Kragen meines Mantels um die Ohren ziehend.
Jetzt aber kam auf dem Deiche etwas gegen mich heran; ich hörte nichts; aber immer deutlicher, wenn der halbe Mond ein karges Licht herabließ, glaubte ich eine dunkle Gestalt zu erkennen, und bald, da sie näher kam, sah ich es, sie saß auf einem Pferde, einem hochbeinigen hageren Schimmel; ein dunkler Mantel flatterte um ihre Schultern, und im Vorbeifliegen sahen mich zwei brennende Augen aus einem bleichen Antlitz an.
Wer war das? Was wollte der? – Und jetzt fiel mir bei, ich hatte keinen Hufschlag, kein Keuchen des Pferdes vernommen; und Ross und Reiter waren doch hart an mir vorbeigefahren!
In Gedanken darüber ritt ich weiter, aber ich hatte nicht lange Zeit zum Denken, schon fuhr es von rückwärts wieder an mir vorbei; mir war, als streifte mich der fliegende Mantel, und die Erscheinung war, wie das erste