Weihnachtserzählungen. Charles Dickens

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Weihnachtserzählungen - Charles Dickens


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so lang, daß er mehr als einmal überzeugt war, er müsse unbewußt ein wenig eingenickt sein und die Glocke überhört haben. Endlich schlug sie an sein lauschendes Ohr.

      Ding-Dong!

      »Ein Viertel!« sagte Scrooge zählend.

      Ding-Dong!

      »Halb!« sagte Scrooge.

      Ding-Dong!

      »Drei Viertel!« sagte Scrooge.

      Ding-Dong!

      »Die volle Stunde«, rief Scrooge triumphierend, »und sonst nichts!« Er rief es, ehe der Stundenschlag ertönt war, der jetzt mit einem einmaligen, tiefen, dumpfen, hohlen, melancholischen Schlag erklang. Augenblicklich übergoß Licht sein Gemach, und die Vorhänge seines Bettes wurden zurückgezogen.

      Ja, ich versichre euch, die Vorhänge seines Bettes wurden zurückgezogen von einer Hand. Nicht die Vorhänge zu seinen Füßen oder die in seinem Rücken, sondern gerade die, auf die sich sein Blick richtete. Die Vorhänge seines Bettes wurden zurückgezogen, und Scrooge, der in eine halb liegende Stellung emporfuhr, sah sich Aug in Auge dem überirdischen Besucher gegenüber, der sie zurückschlug; so nahe, wie ich jetzt euch bin, und ich stehe im Geist an eurem Ellbogen.

      Es war eine seltsame Gestalt, einem Kind ähnlich und doch wieder nicht so sehr einem Kind wie einem alten Mann, gesehen durch irgendein übernatürliches Medium, das ihm den Anschein gab, als sei er weit weggerückt und dadurch zu den Maßen eines Kindes zusammengeschrumpft. Sein Haar, das ihm um den Nacken und über den Rücken hing, war weiß wie vom Alter, und doch zeigte das Gesicht keine einzige Runzel, und die zarteste Farbe überschimmerte die Haut. Die Arme waren sehr lang und muskulös, ebenso die Hände, als ob ihr Griff ungewöhnlich fest sei. Seine Beine und Füße waren fein geformt und wie die oberen Gliedmaßen bloß. Der Geist trug einen Kittel vom reinsten Weiß, und um seine Hüfte war ein glänzender Gürtel geschlungen, der herrlich strahlte. In der Hand hielt er ein frischgrünes Reis der Stechpalme, aber sein Gewand war in seltsamem Widerspruch zu diesem Zeichen des Winters mit Frühlingsblumen geziert. Das seltsamste an ihm war jedoch, daß der Krone auf seinem Kopf ein hell glänzender Lichtstrahl entsprang, der alles das sichtbar machte und gewiß die Ursache war, daß der Geist bei übler Laune einen großen Lichtauslöscher, den er jetzt unter dem Arm trug, als Kappe benutzte.

      Nein, auch dieses Licht war noch nicht das Seltsamste an ihm, wie Scrooge bemerkte, als er ihn genauer betrachtete. Denn wie sein Gürtel bald an dieser, bald an jener Stelle glitzerte und das, was soeben noch licht war, gleich darauf dunkel wurde, so änderte sich auch die Gestalt selbst in ihrer Deutlichkeit, so daß sie bald nur einen Arm, bald nur ein Bein, dann wieder zwanzig oder auch nur ein Paar Beine, jedoch keinen Kopf und am Ende einen Kopf ohne Rumpf zu haben schien; von den sich auflösenden Teilen war kein Umriß mehr zu sehen in dem tiefen Dunkel, in dem sie verschwammen. Und während man sich noch darüber wunderte, wurde die Gestalt wieder sie selbst, bestimmt und deutlich wie nur je.

      »Seid Ihr der Geist, Sir, dessen Erscheinen mir prophezeit wurde?« fragte Scrooge.

      »Ja.«

      Seine Stimme war sanft und wohltönend, aber ganz leise, als stünde die Erscheinung nicht neben ihm, sondern weit von ihm entfernt.

      »Wer und was seid Ihr denn?« fragte Scrooge.

      »Ich bin der Geist der vergangenen Weihnacht!« war die Antwort.

      »Einer lang vergangenen?« fragte Scrooge im Hinblick auf seine zwerghafte Gestalt.

      »Nein. Deiner vergangenen.«

      Hätte ihn jemand darum befragt, so hätte Scrooge wahrscheinlich keinen Grund anzugeben gewußt, aber er hegte besonderes Verlangen, den Geist mit seiner Mütze auf dem Kopf zu sehen, und bat ihn daher, sich zu bedecken.

      »Wie!« rief der Geist aus, »möchtest du so bald schon mit irdischen Händen das Licht löschen, das ich gebe? Ist es nicht genug, daß du zu denen gehörst, deren Leidenschaften diese Kappe gemacht haben und mich zwingen, sie oft jahrelang tief in die Stirn zu ziehen?«

      Scrooge bestritt ehrerbietig jede Absicht, zu beleidigen, und jede Kenntnis davon, daß er irgendwann im Leben das Gespenst mit der Mütze habe bedecken wollen. Dann fragte er kühn, was ihn herführe.

      »Dein Wohl!« war die Antwort.

      Scrooge versicherte, er sei ihm dafür sehr verbunden, konnte aber nicht umhin zu denken, daß eine Nacht ungestörter Ruhe diesem Zweck zuträglicher gewesen wäre. Der Geist mußte ihn haben denken hören, denn er sagte sofort: »Deine Besserung also. Nimm dich in acht!« Er streckte bei diesen Worten seine starke Hand aus und faßte Scrooge sanft am Arm.

      »Steh auf! Und komm mit mir!«

      Vergebens hätte Scrooge eingewendet, daß Wetter und Stunde zu Fußwanderungen nicht geeignet seien, daß sein Bett warm sei und das Thermometer ein gutes Stück unter dem Gefrierpunkt stehe; daß er nur leicht mit Pantoffeln, Schlafrock und Nachtmütze bekleidet und zur Zeit erkältet sei. Dem Griff des Geistes, obwohl er sanft wie der einer Frauenhand war, konnte er nicht widerstehen. Er erhob sich; als er aber bemerkte, daß der Geist dem Fenster zuschritt, packte er ihn bittend am Rock.

      »Ich bin ein Sterblicher«, wandte er ein, »und dem Fallen ausgesetzt.«

      »Laß dich nur von meiner Hand hier berühren«, sprach der Geist, indem er ihm die Hand aufs Herz legte, »und du sollst zu mehr als diesem befähigt werden!«

      Kaum waren diese Worte gesprochen, so schritten sie durch die Mauer und standen auf einer offenen Landstraße mit Feldern zu beiden Seiten; die Stadt war gänzlich verschwunden, keine Spur von ihr war zu sehen; Dunkel und Nebel waren mit ihr entwichen, ein heller, kalter Wintertag lag über schneebedecktem Gefilde.

      »Du lieber Himmel!« rief Scrooge und schlug die Hände zusammen, als er um sich blickte. »Hier wurde ich geboren. Hier lebte ich als kleiner Junge!«

      Der Geist blickte mild auf ihn. Seine leichte Berührung, obwohl sie kaum merklich und flüchtig gewesen war, schien der alte Mann noch immer zu fühlen. Er wurde sich tausendfältiger Düfte bewußt, die in der Luft schwebten, jeder verknüpft mit tausend Gedanken, Hoffnungen, Freuden und Sorgen, die längst vergessen waren.

      »Deine Lippe zittert«, sprach der Geist; »und was ist das hier auf deiner Wange?«

      Scrooge murmelte mit ungewöhnlich einschmeichelnder Stimme, daß es nur ein Bläschen sei, und bat den Geist, ihn zu führen, wohin er wolle.

      »Erinnerst du dich noch des Weges?« fragte die Erscheinung.

      »Ob ich mich erinnere?« rief Scrooge begeistert; »ich könnte ihn blind gehen.«

      »Merkwürdig, daß du ihn so lange Jahre vergessen hast«, bemerkte das Gespenst. »Laß uns weitergehen.«

      Sie gingen die Straße entlang. Scrooge erkannte jeden Zaun, jeden Pfosten und jeden Baum, bis in der Ferne ein kleiner Marktflecken mit seiner Kirche und seiner Brücke über einen gewundenen Fluß erschien. Nun sahen sie zottige Ponys auf sich zutraben mit Jungen auf dem Rücken, die andern Jungen in Wagen und Bauernkarren etwas zuriefen. All diese Knaben waren sehr munter und jauchzten einander zu, bis die weiten Felder so voll lustiger Klänge waren, daß die klare Luft selbst mitzulachen schien.

      »Dies sind nur Schatten von Geschöpfen, die einst gewesen sind«, sprach der Geist, »sie wissen nichts von uns.«

      Die frohen Ausflügler kamen näher, und Scrooge kannte sie alle und nannte jeden mit Namen, als sie bei ihnen waren.

      Warum freute er sich so unbändig, sie wiederzusehen? Warum leuchtete sein kaltes Auge und schlug sein Herz höher, als sie vorüberbrausten? Warum erfüllte es ihn mit Freude, als er hörte, wie sie einander fröhliche Weihnachten wünschten, wenn sie sich an Wegkreuzungen trennten, um nach Hause zu gelangen? Was bedeuteten fröhliche Weihnachten für Scrooge? Der Henker hole die fröhlichen Weihnachten! Was hatten sie ihm je Gutes gebracht?

      »Die Schule ist nicht ganz verwaist«, sagte der Geist; »ein Kind, von seinen Angehörigen vernachlässigt,


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