Das Ende. Mats Strandberg

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Das Ende - Mats Strandberg


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      Die Algorithmen, die meine Chats steuern, empfehlen mir, einer Gruppe namens Wir, die nicht jungfräulich sterben wollen beizutreten. Das trifft mich hart. Klar, das erste und einzige Mal, als ich Sex hatte, zählt kaum. Es war mit einem todlangweiligen Deutschen in einem Trainingslager in Rimini. Es hat zwar nicht wehgetan, aber es war unangenehm. Eigentlich habe ich es nur getan, um es hinter mich zu bringen. (Und um danach vor Tilda damit angeben zu können. Er hatte übrigens eine kleine spitze Zunge, mit der er in meinem Mund herumstocherte, und währenddessen dachte ich darüber nach, wie ich es Tilda schildern würde, und dann musste ich laut loslachen. Er war natürlich stinksauer. Was ihn allerdings nicht daran hinderte, mir noch ein halbes Jahr lang Playlists zu schicken, damit ich ihn für seinen guten Musikgeschmack und seine geniale Textauswahl und überhaupt als Supertypen bewundern sollte.)

      Eine andere Gruppe nennt sich Unschuld ist nur ein soziales Konstrukt. Eine Auffassung, die ich eigentlich teile, die jedoch nichts daran ändert, dass ich Sex haben will. Ich will Sex haben und ihn genießen. Ich möchte gern wissen, wie es sich anfühlt. Zugegebenermaßen ist es mir verdammt peinlich, dass mich von allem, was mich traurig macht, ausgerechnet diese Sache am traurigsten stimmt. Schließlich gibt es Menschen auf diesem Planeten, die sich in ihrem Leben noch kein einziges Mal richtig haben satt essen können, während ich hier sitze und mich in Selbstmitleid ergehe.

      Heute Abend bin ich wieder der Babysitter für Miranda. Ich habe ihr fast alles erlaubt. Es ist gar nicht so leicht, seine kleine Schwester dazu zu bringen, sich die Zähne zu putzen, wenn sie sowieso keine Löcher mehr bekommen kann. Jetzt ist sie endlich eingeschlafen, während ich ununterbrochen an diese Sache mit der Ehrlichkeit denken muss. Ich habe noch mal meine alten Tagebücher gelesen.

      Darin geht es fast ausschließlich ums Schwimmen. Offenbar war mir gar nicht klar gewesen, wie viel Tilda und ich dafür geopfert haben. Wir sind fast nie in den Urlaub gefahren, weil in den Ferien immer irgendwelche Trainingslager stattfanden, bei denen wir auf Luftmatratzen in Turnhallen übernachteten. In Rimini mussten wir vier Stunden täglich in einem eiskalten Becken schwimmen und sind nicht ein einziges Mal am Strand gewesen.

      Eigentlich haben wir ständig gefroren. Wir mussten im Februar morgens schon um halb sechs aufstehen und auf dem ganzen Weg zur Schwimmhalle war uns kalt. Und auch noch, als wir ins Wasser stiegen. Wir mussten sogar zu Wettkämpfen mitfahren, an denen wir selbst gar nicht teilnahmen. Damit hatten wir so gut wie keine Gelegenheit, außerhalb des Vereins jemanden kennenzulernen.

      Im Tagebuch steht auch viel über meinen Körper. Ich habe trainiert und ihn ständig eingecremt, weil meine Haut furchtbar trocken war, und ihm wie besessen gesunde Nahrung zugeführt. Ich dachte immer nur ans Essen. Wir haben so viele Kalorien verbrannt, dass wir andauernd Hunger hatten. Während sich die anderen aus dem Verein am Kiosk in der Schwimmhalle Fast Food und Süßigkeiten kauften, habe ich Tilda nachgeeifert. Wir hatten immer eine Tasche voller Bananen, Proteinriegel und Energy Balls dabei, um gar nicht erst in Versuchung zu geraten. Mir war viel an meinem Aussehen gelegen. Ich liebte es zwar, im Wasser zu sein, aber ebenso sehr hasste ich es, im Badeanzug, unter dem sich alles abzeichnete, am Beckenrand zu stehen und mir Tommys ellenlange Anweisungen anzuhören. Und obwohl ich meinen Körper in eine perfekte Maschine verwandelt hatte, war ich unzufrieden mit ihm.

      Nur ich kann es in meinem Tagebuch gewissermaßen zwischen den Zeilen lesen.

      Aber ich habe die Ereignisse einfach geändert. Dabei log ich zwar nicht direkt, aber ich stellte mich etwas mutiger und selbstbewusster dar. Ich hatte schon immer einen Hang dazu, mich mit mir selbst zu beschäftigen, und konnte nicht so leicht loslassen, wie andere es offenbar tun. In meinem Tagebuch habe ich immer versucht, alles zu beschönigen oder herunterzuspielen, und ich glaube, ich habe es selbst nicht mal gemerkt.

      Noch nicht mal, als ich krank wurde, wollte ich es mir eingestehen.

      Wenn ich hier etwas schreibe, muss ich es ernsthaft angehen, sonst macht das Ganze keinen Sinn. Ich werde also versuchen, ganz ehrlich zu sein und nur die Wahrheit zu schreiben. Ich weiß auch schon, womit ich anfange. Mehr dazu beim nächsten Mal.

      PS: Simon hat gesagt, ich hätte früher als Kind allen erzählt, dass ich Schriftstellerin werden will. Doch in meinem Tagebuch, das ich ein paar Jahre später anfing zu schreiben, habe ich es nicht zugegeben. Darin erwähne ich meine Schreibversuche nur flüchtig. Zum Beispiel die Kurzgeschichten, die ich angefangen hatte zu verfassen, oder die Fan-Fiction, die ich anonym ins Netz gestellt hatte. Nicht einmal Tilda habe ich es anvertraut. Gesetzt den Fall, ich hätte jetzt noch ein ganzes Leben vor mir, würde ich dann versuchen, ein Buch zu schreiben? Würde ich das Risiko in Kauf nehmen, daran zu scheitern? Ich weiß es nicht. Vermutlich käme es für mich einer Niederlage gleich, die größer wäre, als bei irgendeinem wichtigen Schwimmwettkampf Letzte zu werden.

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