Faust oder Mephisto?. Willi Jasper

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Faust oder Mephisto? - Willi Jasper


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unserer Intellektuellen« (1976) vor allem bei deutschen Geistesgrößen eine entsprechende Störung im Verständnis von Verantwortung und Wirklichkeit.

      Der Vorwurf des ausdrücklichen »Versagens« der Intellektuellen in Krisensituationen hat seinen Ursprung im 20. Jahrhundert, das als »Jahrhundert der Ideologien« gilt. Ideen spielten nicht nur eine vage, allgemeine Rolle, sondern wurden direkt in die Politik übertragen. Dass sich die Idee der Abgrenzung des »deutschen Geistes« von den kulturellen Traditionen in Europa so fanatisch und wahnhaft gestalten sollte, lag daran, dass sie immer umstritten war. Einen der frühesten und heftigsten Einsprüche gegen eine solche Abgrenzung brachte Heinrich Mann. So heißt es in einem leidenschaftlichen Plädoyer für die europäische Einheit: »Dem Europäer gehören unveräußerlich schon jetzt die Freiheit und die Selbstbestimmung. Vorgesehen aber sind ihm die Einheit und der innere Friede. Unser gemeinsames Haus hat innere Grenzen, die in irgendeiner guten Zukunft sollen aufgehoben werden. Nicht sollen sie blutig eingerissen und, wer dahinter wohnt, vernichtet werden.«

      Das vorangegangene Fin de Siècle hatte, so der britische Historiker Tony Judt, habe »die erste Welle politisch engagierter Intellektueller erlebt – in Wien, Berlin, Budapest, vor allem aber in Paris: Männer wie Theodor Herzl, Karl Kraus oder Léon Blum.« Ein Jahrhundert später seien die Leute, die Anspruch auf ihre Nachfolge erhoben, zwar nicht vollkommen von der Bildfläche verschwunden, aber doch »weitgehend bedeutungslos«. Es gab verschiedene Gründe »für das Aussterben der kontinentalen Intellektuellen«. In Mittel- und Osteuropa stießen die Fragen, die einst die politische Intelligenz mobilisiert hatten – Marxismus, Totalitarismus, Menschenrechte oder die Übergangsperiode – bei der jüngeren Generation nur noch auf Langeweile und Gleichgültigkeit. In Westeuropa sei die »Mahnfunktion« der Intellektuellen noch nicht ganz aus dem öffentlichen Leben verschwunden – Leser der gehobenen Presseerzeugnisse in Deutschland und Frankreich wurden noch regelmäßig »mit zürnenden politischen Predigten von Günter Grass oder Régis Debray versorgt«. Doch sie hatten ihren Hauptgegenstand verloren. Zwar gab es noch viele »Teilsünden«, gegen welche die öffentlichen Moralisten wettern konnten, aber kein übergreifendes Ziel mehr, kein allgemein verpflichtendes Ideal, für das sie ihre Anhänger hätten mobilisieren können. Faschismus, Kommunismus und Krieg schienen zusammen mit Zensur und Todesstrafe vom Kontinent verbannt. Zwar forderten die Raubzüge des schrankenlosen kapitalistischen Marktes intellektuelle Kritik heraus, doch da es an einem konkreten antikapitalistischen Gegenprojekt fehlte, blieb die Debatte folgenlos.

      Die Politikwissenschaftlerin Marianne Kneuer vermutet, dass das »Gros der deutschen Intellektuellen deswegen versagt« habe, »weil sie sich, verfangen in ihrer Theorie, abgekoppelt hatten von der politischen und gesellschaftlichen Realität mit der Folge, dass sie sich entweder vollständig zurückzogen oder apologetisch wurden.«

      Im Gegensatz dazu hätten sich die Intellektuellen anderer Länder sehr viel stärker wirklichkeitsorientiert verhalten, indem sie ihr nationales Schicksal in Verbindung brachten mit dem europäischen Projekt. Vor allem in Deutschland stelle sich jedoch die Frage, ob »die Formung einer europäischen Identität, die Mitwirkung an der Herstellung einer europäischen Öffentlichkeit« noch als eine »genuin intellektuelle« Aufgabe betrachtet werde. Gerade in Krisensituationen müssten die Intellektuellen verschiedene wichtige und Rollen ausfüllen: »als Impulsgeber und innovative Kräfte, als Orientierungs- oder auch Korrekturhilfen, als Verortungsinstanzen und als Visionäre, als Integratoren und Identitätsstifter.«

      Immerhin gab es vor den EU-Wahlen 2019 eine Initiative, an der auch deutsche Intellektuelle aktiv beteiligt waren. Dreißig prominente Schriftsteller und Publizisten – angeführt von Bernard-Henri Lévy, Claudio Magris, Adam Michnik, Agnes Heller, Elfriede Jelinek, Herta Müller, Orhan Pamuk und Salman Rushdie – veröffentlichten in der linksliberalen französischen Tageszeitung Libération einen Aufruf, die europäische Idee zu retten. Man glaubte, heißt es da »dass die Einheit des Kontinents sich von selbst ergeben wird, ohne Willen und Anstrengung. Wir lebten in der Illusion eines notwendigen Europas, das in der Natur der Dinge liege und sich ohne uns und unser Zutun gestaltet, einfach, weil es im Sinne der Geschichte sei … Wir müssen Schluss machen mit dem trägen Europa ohne Kraft und Gedanken … Wenn die Populismen knurren, müssen wir Europa wollen oder untergehen.«

      »Ein Dreivierteljahrhundert nach der Niederlage des Faschismus und 30 Jahre nach dem Mauerfall« sei das » ›Kulturdach‹ unserer Zivilisation einer neuen entscheidenden Bewährungsprobe ausgesetzt«.

      Wo liegen die Probleme, für die Europa die Intellektuellen heute braucht?

      Der Vormarsch der Rechtspopulisten konnte bei den Wahlen nicht aufgehalten werden, auch wenn sie auf verschiedene Fraktionen aufgeteilt sind. Vertreter und Vertreterinnen rechtspopulistischer Parteien aus neun EU-Mitgliedstaaten haben die Fraktion »Identität und Demokratie (ID) gegründet, angeführt von der italienischen »Lega«-Partei eines Matteo Salvini, assistiert vom französischen »Rassemblement National«, dessen Chefin Marine Le Pen mehr Stimmen erhielt als Staatschef Emmanuel Macron, und schließlich beklatscht von der AfD, die nach der Wahl aus Brüssel twitterte: »Wir sind hierhergekommen, um Stachel im Fleisch der Eurokraten zu sein.« Nicht dabei, aber programmatisch nahe stehend, sind die ungarische »Fidesz«-Partei (Viktor Orbán) und die polnische »PiS«, die den Rechtsstaat mit Füßen treten.

      Der Brexit und das Auseinanderfallen der EU: Während die Mehrheit der britischen Bevölkerung den EU-Austritt bejubelte, überwiegt bei den Künstlern und Intellektuellen Zurückhaltung und Verwunderung. Harry Potters Erfinderin Joanne K. Rowling erklärte lakonisch per Twitter »Das hätte nicht passieren müssen«, und der Schauspieler Oliver Phelps verkündete, ebenfalls per Kurznachrichtendienst, er hoffe, dass der Brexit nur ein schlimmer Traum sei. »Vielleicht wird alles vorübergehen, wenn ich im Bett bleibe.« Reicht das? Nicht jeder Denker, der im Bett auf das Ende der Krise wartet, ist ein »Intellektueller«, das sei hier festgehalten.

      Die neoliberale Wirtschaftspolitik ist und bleibt der Kern der EU. Um diese (monopolkapitalistische) Marktentwicklung zu »vollenden«, sollen das Entscheidungsrecht der Parlamente über das Budget weiter eingeschränkt und der Druck auf Löhne, Pensionen und Sozialleistungen erhöht werden. Hinzu kommen strengere Migrations- und Grenzkontrollen sowie Pläne für eine gemeinsame Armee. Ganz offensichtlich ist die EU in ihrem gegenwärtigen Zustand kein progressives Projekt gegen Nationalismus und Konservativismus. Vor allem die Austeritätspolitik weckt bei Millionen Menschen Existenzängste und verschafft dem Rechtspopulismus wachsenden Zulauf. Einer der bekanntesten Kritiker des Neoliberalismus, der französische Historiker und Sozialwissenschaftler Emmanuel Todd, macht vor allem die wirtschaftliche Vormachtstellung Deutschlands für diese EU-Entwicklung verantwortlich. »Die sozialen Unterschiede innerhalb Europas sind zu markant«, lautet sein Argument. »Schwächere Volkswirtschaften« kämen schwerlich in die Lage, »sich vor den Effizienzkriterien zu schützen, die die Deutschen beständig einfordern.« Die BRD sei »verantwortlich für einen Kampf um die Effizienz«. Für den Autor ist es »Ausdruck einer besonderen Qualität, dass Franzosen, Italiener, Spanier und andere nicht wie die Deutschen agieren.

      Aber auch »Deutsche zweifeln am Kapitalismus«, so lautete die Überschrift des Berichts in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung: »Gerade einmal 12 Prozent glauben noch, dass das System ihnen nützt und sie von einer wachsenden Wirtschaft ausreichend profitieren. Dagegen sind volle 55 Prozent der Meinung, dass der Kapitalismus in seiner jetzigen Form mehr schadet als hilft.« Schon 2018 hatte Oxfam, der unabhängige Verbund internationaler Hilfs- und Entwicklungsorganisationen, als prinzipielle Ursache für die wachsende Kluft zwischen Reich und Arm das derzeitige Wirtschaftssystem angeprangert. Demnach besitze das reichste Prozent der Weltbevölkerung mehr Vermögen als die anderen 99 zusammen.

      Also ungleiche Vermögensverteilung und Lebenschancen. Angesichts solcher Verhältnisse betrachtet der Philosoph und Wirtschaftsethiker Christian Neuhäuser den »Reichtum als moralisches Problem« (2018). Für ihn ist der Kampf gegen extreme finanzielle Ungleichheit eine transnationale Aufgabe »weil die ökonomische Abhängigkeit der Staaten vom internationalen Kapital zu groß« sei. Das gehe »nur auf europäischer Ebene«, denn er sehe »im Moment keine andere Weltregion, mit der man einen solchen Diskurs führen könnte«. Aber


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