Karlchen. Thomas Matiszik

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Karlchen - Thomas Matiszik


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er es ganz richtig berechnet hatte, Silkes Unterleib treffen. Die Wunde würde zwangsläufig dazu führen, dass sie langsam ausblutete …

      In diesem Moment erwachte Silke und sah ihn an. Ihr Blick war stark, hatte nichts von Unterwerfung, kein Flehen war in ihren Augen zu sehen. „Ich werde dich niemals in Ruhe schlafen lassen, du widerwärtiges Stück Scheiße! Und auch dann, wenn ich das hier nicht überlebe, wird meine Seele wie ein Damoklesschwert über dir baumeln. Du wirst mein Gesicht niemals vergessen, Karl Ressler!“ Woher wusste sie seinen vollen Namen? Karl hatte ihn nie erwähnt; für einen kurzen Moment beschlich ihn blanke Panik. Wie von Sinnen knallte er die Tür zu und rannte die Treppe hinunter in Richtung Wohnzimmer. Durch die Erschütterung lösten sich drei Messer auf einmal und trafen Silke in Brust, Bauch und Unterleib. Als Karl sie am nächsten Morgen bestrafen wollte, war Silke längst tot. Zum ersten Mal empfand Karl kein Hochgefühl, keinen Triumph, sondern eher einen dumpfen Schmerz, der ihn kurzzeitig ohnmächtig werden ließ.

      Der Tempranillo hatte bei Modrich wieder mal Wirkung hinterlassen: Er fühlte sich erbärmlich, hatte einen Schädel wie ein Rathaus und schlimme Schweißausbrüche. Meike war um zwei Uhr nachts gegangen, außer Klammerblues war da nichts – und das war auch gut so. Seinen morgendlichen Mundgeruch wollte er keiner Frau zumuten. Und ja: Am liebsten wäre er noch mindestens zwei Stunden im Bett geblieben; schließlich hatte er immer noch keinen Ibuprofen-Nachschub gekauft. Aus diesem Grund tobte Morbus Meulengracht mit all seiner Kraft in seinem maladen Körper. Das Klingeln seines Diensthandys hatte ihn allerdings jäh aus dem Schlaf gerissen. „Peer, du musst sofort ins Büro kommen.“ Guddis Stimme klang extrem beunruhigt. „Ein Mädchen wird vermisst! Möglicherweise haben wir es mit einem Serientäter zu tun.“ Modrich hatte ungefähr drei Meter bis zum Bad zurückzulegen. Und obwohl er all seine Kraft aufbrachte, klappte er unmittelbar vor dem Badezimmer zusammen und übergab sich auf dem weißen Flokati. „Ich fürchte, wir haben es mit einem alten Bekannten zu tun. Scheiße, scheiße, schei-ße!“, fluchte er. Beim letzten „Scheiße“ schien sein Kopf in tausend Stücke zu zerspringen, Modrich fühlte den hämmernden Puls an seiner Schläfe und schwitzte unmenschlich. „Hangover galore“, räusperte er sich. Im Moment konnte ihm nichts helfen, außer vielleicht eine Tablette und absolute Ruhe. Augen zu und warten, bis der Schmerz aufhörte. Dazu hatte er leider keine Zeit. Es half also nichts: Er hielt seinen Kopf unter eiskaltes Wasser, trocknete sich die Haare, schlüpfte in die Klamotten vom Abend zuvor, zog seine Sneaker an und torkelte die Haustreppe hinunter. Restalkohol im Blut? Jede Wette, aber Modrich hatte keine Wahl. Die Pflicht rief lauter, als er es in diesem Moment vertragen konnte.

      Ressler hatte die Spuren, die seine Messer hinterlassen hatten, und die Leiche von Silke Brodner beseitigt. So sauber und gründlich wie nie zuvor, dafür war ihm das Ganze zu nahe gegangen. Die berühmten letzten Worte seines jüngsten Opfers echoten unentwegt in seinem Kopf, deshalb musste er diesmal ganze Arbeit leisten, damit die Polizei, die früher oder später vorbeikommen und seine Wohnung auf den Kopf stellen würde, nichts Verwertbares fand. Den Häcksler hatte er sicherheitshalber zusammen mit einer Fuhre Hausmüll auf dem nahegelegenen Wertstoffhof entsorgt.

      Danach veränderte er sein Aussehen, indem er seine Haare kurz schor und rot färbte. Seine blauen Kontaktlinsen und die braune Hornbrille machten aus Karl Ressler einen völlig anderen Menschen, der gefälschte Personalausweis verlieh ihm eine zweite Identität.

      „Ihren Boardingpass und Ausweis, bitte!“ Kurze Zeit später saß Karl Ressler in der Maschine Richtung London Luton und dachte über Porridge, Madame Tussauds und sein Ferienhaus in Brighton nach. Karl Ressler hieß ab sofort Andreas Janssen.

      „Mein Gott, wie siehst du denn aus?“ Modrich war der Weg ins Präsidium diesmal wie eine Ewigkeit vorgekommen, obwohl er nur zehn Minuten gebraucht hatte und die Straßen erstaunlich leer waren. An der einzigen Ampelkreuzung hatte er sich um ein Haar noch mal übergeben. Die Ampel stand natürlich auf Rot, und Modrich musste unweigerlich an das denken, was er kurz zuvor in den Flokati gespuckt hatte. Farblich erinnerte ihn das an Hubba Bubba Himbeere, aber dann kam ihm der Geruch wieder zurück ins Gedächtnis und trieb ihm die Magensäure hoch. Er öffnete die Fahrertür und seinen Mund, heraus kam allerdings ein langgezogener Rülpser. „Na Mahlzeit, Modrich! Ich nehme an, bei dir hat Herr Meulengracht wieder Einzug gehalten?“ Modrich war nass bis auf die Haut. Sein Kreislauf hatte magische Drehmomente angenommen. Er hatte das dringende Bedürfnis, sich einfach irgendwo hinzulegen und tief durchzuatmen. Und auch wenn der zinnoberrote Läufer in Guddis Büro ihn irgendwie daran erinnerte, was noch vor einer knappen halben Stunde zu Hause passiert war, konnte er seinem Bedürfnis nicht widerstehen und ließ sich vor Guddi auf dem Teppich nieder. „Hoppala, ich habe ja schon einige Kater an dir gesehen, aber der heute ist sicher kein Miezekätzchen, richtig? Oder hast du wieder vergessen, eine Ibu einzuwerfen?“ Modrich lachte völlig hysterisch los und verschluckte sich dabei an seinem – noch immer alkoholhaltigen – Speichel. Ungefähr zehn Minuten später saß er zusammen mit Guddi bei Kurt Heppner, dem Polizeichef. Peers Kopf war immer noch puterrot, nachdem ihm sein eigenes Sputum einen zweiminütigen Hustenanfall vom Allerfeinsten beschert hatte. Guddi hatte es zwischendurch wirklich mit der Angst zu tun bekommen und war kurz davor, einen Notarzt zu rufen. Nachdem Peer jedoch ein weiteres Mal oscarreif gerülpst hatte, stellte sich bei ihm wieder eine regelmäßige Atmung ein. Es war fast so, als habe der dämonische Herr Meulengracht seinen Körper mit einem gekonnten Sprung verlassen. „Oh Mann“, stöhnte Modrich, „so schlimm war’s schon lange nicht mehr! Wenn ich beim nächsten Mal wieder vergesse, eine Ibu zu nehmen, bevor ich ins Bett gehe, darfst du mir höchstpersönlich eine runterhauen!“

      Kurt Heppner stand kurz vor der Pensionierung. Er kannte den Fall Ressler wie seine Westentasche, zudem war er mit Modrich senior immer noch eng befreundet. Peer hatte sich bereits mehrmals Vergleiche mit seinem Vater anhören müssen, und auch, wenn er ein völlig anderer Ermittlertyp als sein Vater war, so haftete doch der legendäre Name Modrich an ihm wie eine Klette und setzte ihn bei jedem neuen Fall immer wieder aufs Neue unter Druck. Er musste die Fälle nicht einfach nur lösen, er musste bei der Lösung und auch bei der Aufklärung wie ein Dirigent den Takt vorgeben, quasi so, als wüsste er immer im Voraus, was der vermeintliche Täter als nächstes tun würde. Dabei war seine Aufklärungsquote jetzt schon besser als die seines Vaters, aber so spektakulär wie Felix Modrich hatte eben niemand die Fälle gelöst.

      „Was haben wir?“ Heppners Frage war kurz und knapp. Es nervte ihn zusehends, dass es offenkundig die Stimmen aus der Vergangenheit waren, die ihn wieder riefen. Den Fall Ressler hatte er innerlich bereits zu den Akten gelegt, auch wenn er ahnte, dass ein so böser Mensch wie Ressler erst dann aufhören würde, anderen wehzutun, wenn er unter der Erde lag. „Silke Brodner, zwanzig Jahre alt. Sie wird seit fünf Tagen vermisst. Zuletzt gesehen haben sie ihre drei Freundinnen, mit denen sie am Freitag vergangener Woche in Bochum war, offenbar um ein wenig zu feiern.“ Guddi machte eine Pause, gerade so, als wollte sie das Drama um Silke noch künstlich aufwerten. Eine Unart, wie Modrich schon immer fand. „Ihre Eltern haben sie gestern vermisst gemeldet, nachdem sie sich nicht wie verabredet zum Abendessen anlässlich des 55. Geburtstages ihres Vaters hat blicken lassen.“ „Und es ist ausgeschlossen, dass sie einfach keinen Bock auf den Geburtstag ihres Dads hatte? Ich meine, sie ist zwanzig, oder? Da hat man doch auch schon mal andere Dinge im Kopf als Familienfeierlichkeiten …!“ „Nein, Peer, glaub mir, auch ich habe sofort daran gedacht und ihren Eltern direkt diese Frage gestellt. Sie hatte sich offenbar zusammen mit ihrer Mutter ein ganz besonderes Geschenk ausgedacht, das sie ihm gemeinsam überreichen wollten.“ Guddi schaute Modrich neugierig an. Peer schien mit ihren Ausführungen nicht zufrieden zu sein. „Was kann das denn für ein ‚besonderes Geschenk‘ gewesen sein? Vielleicht ein Salsa-Tanzkurs? Oder vielleicht eine Zehnerkarte für den Puff? Ich bitte dich. Wie oft hatten wir schon den Fall, dass Eltern glaubten zu wissen, was in den Köpfen ihrer Sprösslinge vorgeht – um dann eines Tages festzustellen, dass der liebe blonde Junge mit dem Engelsgesicht Konvertit ist und sich in einem Terrorcamp in Afghanistan ausbilden lässt!“ Guddi und Heppner warfen sich rasch einen Blick zu. „Frau Faltermeyer, wie Sie sehen, ist


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