Einstürzende Gedankengänge. Ulrich Land
Читать онлайн книгу.eines elend umgekommenen Kindes, und zwar nicht in den Blechhüttenfavelas von Sao Paulo, sondern mitten in der Wohlstandsgesellschaft, im Keller der Wohlstandsgesellschaft. Die Mahnemannsche weist dich zu allem Überfluss noch auf die Beißspuren an der Innenkante der Kellertür hin; er hatte offenbar versucht, sich durchzu... Jetzt ... Bühren zeigt auf den Rücken des Jungen ... da, durch das zerschlissene Hemd leuchtet ein sattes Hämatom durch. Bühren schiebt das Hemd hoch ... Es trifft dich der Schlag! Du kannst genau die fünf Finger der Hand erkennen, die man dem kleinen Kerl auf den Rücken geprügelt hat, mit solcher Kraft, dass ... dass er die Schnauze hält, dass er definitiv die Schnauze hält.
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Du siehst sie fallen. Obwohl du sie beim Fallen überhaupt nicht gesehn hast, definitiv nicht! Warst viel zu sehr mit dir selbst beschäftigt. Du siehst, wie sie strauchelt, stürzt. Runter im freien Fall. Immer weiter, immer tiefer. Ins Bodenlose. Du hasst diese Träume. Aber sie kommen hartnäckig wieder.
Ständig schleicht sich diese brutal kahle Steinwelt ins Traumbild. Schon immer das Land deiner Träume. Als Knirps schon. Du wolltest, obwohl es natürlich vollkommen utopisch war, unbedingt nach Island. Dabei – was wusstest du als Siebenjähriger schon von Island! Wahrscheinlich waren’s die Filmbilder, die verfangen hatten. Brünhilds Herkunftsland, in diesem Uralt-Nibelungenfilm, war das noch Schwarz-Weiß oder schon Farbe? Wenn, dann blutarm blassbleiche Farben. Aber für Island, jedenfalls für vier Fünftel der Insel, macht’s ja eh kaum einen Unterschied. Steine sind eben grau, die allermeisten jedenfalls, auch auf Island, abgesehn von den schwefelgelbroten Vulkanausblühungen hier und da. Und Eis und Schnee sind eben weiß. Mehr oder weniger. Wenn sich nicht schwarzer Vulkanstaub reingefressen hat.
Aber: Zurück auf Los! Wie ihr beide also tatsächlich da hochgeklettert seid. Da, wo’s keine Zerrissenheit gibt, nicht hin, nicht her, nur vorwärts. Keine andere Besessenheit. Wo der Kampf nur dem Gletscher gilt. Woher jetzt dieses Irrsinns-Krachen? – Da drüben! Nein, kein Donner, viel zu nah. Da wird ein Eisstück abgebrochen sein und abgestürzt, die Gletscherzunge runtergeschlittert. Schlittenfahrt ohne Schlitten. Aber jetzt die Eiswand hier über der Gletscherzunge, die ist nicht zu schaffen. Kaum der Aufstieg, und schon umkehren? Zurück. Nicht zu schaffen. Ihr werdet aufgeben müssen.
Oder nein, vielleicht doch nicht. Es funktioniert doch einigermaßen. Weiter.
Deine Tochter macht mal wieder eine verflucht gute Figur. Kondition und Hartnäckigkeit, ohne verbissen zu sein. Sie will einfach nur hoch da. Ganz einfach. Also. Und du? Dir gerät der Atem kurz und kürzer. Aber du machst einigermaßen gute Miene zum bösen Spiel. Bloß nichts anmerken lassen. Schon gar nicht die verfluchte Angst, die du immer wieder um die Tochter hast, mit ihren siebzehn Lenzen. Dass die einen Abgang machen könnte. Immer diese Irrsinnsangst. Da kann die noch so sicher sein! Fragt sich doch verdammt noch mal, warum du dann überhaupt mit ihr hierher ... aber die Frage lässt du nicht zu. Sowieso zu spät.
Also: weiter steigen, klettern, der Tochter hinterher. Weiter. Acht, vielleicht neun Meter, die Hälfte der Eiswand hast du. Der Schritt steht. Während Marina ein Stück weiter oben den nächsten Stand baut. Drüben, die erste Sonne wirft ihr Altgold auf die bizarren Schnee-Eishänge.
Der Felsbrocken, vorne, über euch, der aus der Eiswand ragt, wenn ihr den schafft, habt ihr erst mal wieder festen Boden untern Füßen.
Und plötzlich – schwarz!
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3
Da sticht er sofort wieder in die Augen, der Blick auf diese Fels-, Eis- und Aschewüste. Krallt sich fest hinter der Stirn. Während ihr, die Mahnemannsche, der halbe Tross der Spurensicherung und du, während ihr mehr schlecht als recht verrichteter Dinge die Kellertreppe wieder raufsteigt. Im Eingangsbereich des Treppenhauses angekommen, verfliegt sämtlicher Tatendrang wieder, der dich die letzten ein, zwei Stunden hat überstehen lassen, der sich völlig automatisch abspulte, sämtliche Kreuz- und Quergedanken ausschaltete, dich perfekt funktionieren ließ – alles weg. Nur noch die eine Frage im Kopf: Und was jetzt? Was jetzt als Nächstes? Einer wie der andre blicken die Kollegen dich ratlos an. Schließlich bist du der Boss hier. Aber du, Mann, du weißt doch am allerwenigsten, wo’s langgeht. Sämtliche Gedanken wie festgefroren, angefroren von innen an der Schädeldecke. Eisern eisig. Stillstand.
Genau in dem Augenblick, als die bleierne Ratlosigkeit unerträglich wird, hörst du plötzlich, wie mit einem Schlüssel im Schloss der Haustür rumgestochert wird. Ihr steht stumm wie die Ölgötzen da und starrt die Frau an, die jetzt den Hausflur betritt, euch mindestens ebenso konsterniert anstarrt und mit der geistesabwesenden Mechanik einer Gliederpuppe ihren Briefkasten öffnet, dessen Klappe unter herzerweichendem Kreischen nachgibt.
»Was ist denn hier los?«, nörgelt die junge Frau und meint damit nicht etwa die vier, fünf Kuverts und die farblose Broschüre der Arbeitsagentur, die ihr durch die aufgeklappte Briefkastentür entgegenpurzeln.
»Kerstin Engelsberg?« Aha, eine Stimme hast du also noch. Wenigstens das.
»Und mit wem hab ich das Vergnügen?«, kontert sie, während sie auf den Knien rutschend ihre Briefkastenschätze aufklaubt.
»Hauptkommissar Dollinger, Trierer Mordkommission.« Und wieder, jedes Mal aufs Neue bist du überrascht über die Wirkung dieser Visitenkarte.
»Mordkommission?«
»Und das ist meine Kollegin Barbara Mahnemann.«
Worauf die sofort den Staffelstab übernimmt: »Sie sind die Mutter des fünfjährigen Johannes?«
»Ich, ähm ...«
»Ja?«, gehst du in die Lücke, um der Frau die Luft für irgendwelche Ausflüchte zu nehmen.
»Ich such ihn wie verrückt, die ganze Zeit.« Man kann zusehn, wie sie die bislang in Anschlag gebrachte Unnahbarkeit tauscht gegen eine deutlich, ausgesprochen deutlich sichtbare Betroffenheit. »Haben Sie was von ihm gehört? Ist er ... er ist doch nicht ... doch nicht etwa ...«
»Doch, Frau Engelsberg, ich muss Ihnen leider mitteilen«, stichst du erbarmungslos in die bereitwillig hingehaltene Wunde – wobei du ihr nicht mal die wirklich abnimmst, stinkt doch gen Himmel alles, da ist verdammt was faul. »Frau Engelsberg, wir haben Ihren Sohn tot im Keller gefunden.«
»Nachbarn war der Geruch aufgefallen«, assistiert die Mahnemannsche.
»Das ähm, nein nicht, tot, mein kleiner, mein winziger ...! Im Keller, das ist doch nicht zu glauben! Da wär ich als Allerletztes drauf gekommen. War ich schon ewig nicht mehr, im Keller.«
»Aber irgendwer muss ihn da unten versorgt haben. Mehr schlecht als recht. Aber immerhin«, baut die Mahnemann ihr noch eine goldene Brücke, die du natürlich sofort wieder einreißt: »Und schließlich dann irgendwann nicht mal mehr das! Jedenfalls nicht so, wie ein fieberkrankes Kind das braucht.«
»Fieber? Wieso denn Fieber?«, und endlich hält diese Kerstin Engelsberg den Zeitpunkt für gekommen, in Tränen auszubrechen. »Er ist also elend zugrunde gegangen?«, resümiert sie stammelnd und schluchzt noch einmal herzzerreißend.
Aber du bist noch nicht zufrieden, willst noch mehr aus dieser Situation rausholen. Du weißt genau, so waidwund kriegst du diese – ja, soll man sagen: Mutter? – nie wieder vor die Flinte. »Kann es sein, Frau Engelsberg, dass Sie sich mit Ihrem Sohn überfordert fühlten? So jung, wie Sie sind.«
»Was soll denn das heißen?« Augenblicklich ist das Gejammer verstummt, und sie blitzt dich mit nadelspitzem Blick an. Ein Blick, mit dem sie wahrscheinlich jeden bedient, der sich ihr von Amts wegen auf weniger als zehn Meter nähert. Hartz-IV-Sozialarbeiter, Jugendamtsmenschen, Familienberatungsstelle – du musst unbedingt rauskriegen, wer sich schon alles in den Vorgang Engelsberg eingeklinkt hatte. Aber das kommt später. Jetzt zückst du erst mal die Handschellen und ...
»Moment mal!«
Es gibt Momente, da könntest du deine Kollegin so was von an die Wand quacken! Wieso jetzt »Moment mal«? Die Mahnemannsche nimmt dich zur Seite und lispelt dir irgendwas von wegen