Einstürzende Gedankengänge. Ulrich Land
Читать онлайн книгу.langsam, unendlich langsam wach wurde, ein matter Lichthauch durch die Äste fiel. Wie die Vögel, offenbar bester Laune, sich auch vom prasselnden Regen nicht davon abbringen ließen, die Schnäbel zu spreizen und ihre Mailieder in den knisternden Morgen zu entlassen. Wie aber dieses glockenhelle Jubilate zerschmiert wurde durch die bescheuerten Scheibenwischer, die immer langsamer jaulten, trotzdem aber unfassbar lange brauchten, um endgültig den Geist aufzugeben. Dafür, dass dein Vater immer so fluchte über die schlappe Batterie im Käfer, hielt sie doch erschreckend lange. Und als endlich das Scheibenwischergejaule verstummte, war auch der Morgenchoral der Singvögel dem üblichen Tagsüber-hin-und-wieder-Zwitschern gewichen. Und wie du irgendwann mittendrin dann, als du begriffen hattest, dass auch die Morgendämmerung an deiner entsetzlichen Lage nichts änderte, wie du dann dein eigenes Jammern wieder hörtest. Leise, aber lauter als all die Regentrommeln auf dem Käferdach. Ein trockenes Jammern, weil deine Tränen natürlich längst versiegt waren. Und wie sich in dieses Jammern allmählich, ganz allmählich ein neuer Unterton schlich. Ein heller, auf- und abwallender Ton. Fast eine Melodie. Ein – wie hieß das: ein Dreiklang? Und, leicht versetzt, noch eine zweite, gleichlautende Melodie, eine dritte noch. Wie diese Melodien sich immer lauter in deinen Kopf bohrten und ein paar Minuten später dein Schluchzen völlig übertönten. Aber da wusstest du bereits: Martinshörner! Polizei, Krankenwagen, irgendwas, jedenfalls Rettung.
Irgendwo hinter dir, oben auf der Straße hörtest du Bremsen kreischen. Hörtest, wie Autotüren aufgerissen und zugeschlagen wurden, wie ungezählte Stiefelschritte hektisch durchs Unterholz den Hang hinabstampften, immer näher kamen. Immer näher.
Jetzt musste jeden Augenblick ... und wurde auch: die Tür, die verkeilte Fahrertür, irgendwer hebelte sie mit einer ächzenden Brechstange auf. Da konntest du nicht mehr anders, ließest los, irgendwoher bekamst du wieder ein paar Tränen zusammen, schwollen an zu Sturzbächen, schossen dein Gesicht runter und durchnässten dein Hemd, dein letztes trockenes Kleidungsstück.
Aus deinem kläglichen Jammern war ein lautstarkes Heulen geworden, und zwischendurch, ob du wolltest oder nicht, zwischendurch löste sich immer wieder ein Kreischen aus deiner Kehle. Ein total fremdes Kreischen, wie das einer entstellten Waldhexe.
Und dann endlich, endlich erkanntest du deinen Vater, wie er sich zu dir in den Käfer beugte, wie sein Gesicht ganz nah, ganz nah kam.
»Na, Tom, großer Mann, bist ja ordentlich tapfer«, sagte er, und du merktest, wie er krampfhaft versuchte, seine Stimme nicht beben zu lassen. »Hat doch bisschen länger gedauert, als ich gedacht hab. Bis ich hier in dieser gottverlassnen Gegend ein Telefon aufgetrieben hatte, um Hilfe zu rufen, da musste ich die halbe Nacht für rumrennen. Aber ich wusste ja, dass man sich auf dich verlassen kann.«
Du warst noch lange nicht fertig mit Weinen, Kreischen, Schluchzen, aber du bekamst tatsächlich ein paar Worte raus: »Die Mama ist immer noch nicht wach. Ich, ich wollte sie wecken, aber ...«
»Aber da kannst du doch nichts für«, ging dein Vater dazwischen, »lass sie schlafen.«
»Bloß einmal war sie mal kurz wach. Und hat ganz schrecklich gestöhnt«, stammeltest du, »aber die Augen hat sie nicht aufgemacht. Und dann ist sie still geworden. Ganz still. So schrecklich still, die ganze Zeit. Und die Hand, ihre Hand ist total kalt. Aber hier ist es doch ganz heiß drin, hier im Auto, ganz heiß. Papa, warum ist Mamas Hand so kalt?«
»Tom, du bist schon ein richtig starker Mann.« Obwohl er sich alle Mühe gab, war es doch unüberhörbar, dass deinem Vater die Tränen in die Stimme krochen.
Und auch dein Schluchzen wurde wieder lauter, als du den Fehler machtest, an dir hinabzusehn. »Meine Hose ist nass. Ganz nass. Das brennt so auf der Haut, an den Beinen.«
»Na ja, pieseln muss jeder. Und das brennt jetzt bloß da, wo’s so geblutet hat. Nicht schlimm. Dafür hab ich ja den Onkel Doktor hier mitgebracht.«
Aber du wolltest und wolltest keine Ruhe geben: »Papa, ich glaub, ich find, die Mama sieht so aus, als wenn ... guck mal, die will überhaupt nicht mehr aufwachen.«
»Mach dir man keine Sorgen, kleiner Mann. Wir holen dich jetzt erst mal da raus.«
»Ist das der Tod, Papa, wo die Mama jetzt ist?«
- . -
15
Du kurvst auf die Luxemburger Straße und legst bei der Ausfahrt aus der Tankstelle einen Start hin, der sich gewaschen hat, zumal für so ’n altes Schätzchen, von Null auf Hundert in Sekundenbruchteilen. Aber auch nur, weil der Herr des alten Schätzchens sich auch nach Jahren und Jahrzehnten mal wieder maßlos drüber aufgeregt hat, dass die Vollidioten nirgendwo mehr Tanksäulen mit verbleitem Sprit stehn haben. Du kannst dich einfach nicht dran gewöhnen, dass du immer dran denken musst, extra Bleizusatz zu kaufen, und jagst, laut gegen die Windschutzscheibe fluchend, mit deiner Blechpocke der Sorte Für-850-Euro-metallic-blau-nachgespritzt über die Adenauerbrücke, rein ins Vergnügen von Möchtegern-Manhattan an der Mosel. Das Einzige, was deinen Adrenalinspiegel wieder runterholt aufs Normalmaß, ist mal wieder die richtige, die einzig richtige Musik. Bloß gut, dass du dir – ja, muss jetzt auch schon wieder fünf, sechs Jahre her sein, seit du dir diese fette Anlage in dein Gefährt gepackt hast. Das Nonplusultra, was deine Kasse hergegeben hat. Für deinen Käfer eine echte Ordensverleihung! Auch wenn er sich jetzt fast immer die Einstürzenden anhören muss. Obwohl, eigentlich müsste so Industrial-Punk für ihn doch auch die reine Freude sein, jedenfalls eine wunderbare Erinnerung daran, wie’s in seiner Kinderstube zuging. Das Gelärme, Geschlage, Gehämmer, wo sich diese metallic-blaue Bargeldstimme drauf abseilt. Aber letztlich, kann dir letztlich auch egal sein, ob dein Käfer darauf abfährt, Hauptsache ...
Plötzlich dein Handy! Beziehungsweise die Freisprechanlage. Auf die’s umgestellt ist, wie sich das gehört für’s Handy eines Bullen, wenn er dran gedacht hat, bevor die Reise losging. Und du hast dran gedacht. Bisschen was im Kopf funktioniert eben doch noch. Und dir schießt es wie jedes Mal durch den Schädel, dass du unbedingt einen von diesen jungen Schnöseln aus dem Streifendienst fragen musst, ob dir einer nicht mal einen irgendwie sinnlicheren Klingelton einstellen kann. Aber nicht wie beim Werner, dem sie da so ’n Madonna-Orgasmusgestöhne draufgepackt haben. Und weil er mindestens so dämlich ist wie du, kriegt er’s nicht mehr los und schämt sich jedes Mal in Grund und Boden, wenn er nicht drumrumkommt, einen Kollegen oder noch schlimmer: eine Kollegin mitzunehmen, und die verhexte Freisprechanlage fängt mal wieder an, sich hochzuschaukeln. Und er wird das Gefühl nicht los, dass ihn vor allem dann irgendwer ganz furchtbar dringend sprechen muss, wenn er noch wen anders mit an Bord hat. Also wie beim Werner nicht, aber bisschen was Fantasievolleres als dieses blöde »Ach du lieber Augustin« müsste doch nun wirklich drin sein. Wie wär’s mit »Du träumst mich, ich dich. Keine Angst, ich weck’ dich nicht, bevor du nicht von selbst erwachst«? Das wär doch mal ein Klingelton.
»Ja? Dollinger.«
»Röhrich. Ich warte seit zwanzig Minuten auf Sie.«
Wer oder was ist Röhrich, fragst du dich. »Wie was? Wer sind Sie, und wieso warten? Auf mich? Da weiß ich ja überhaupt nichts von.«
Au hä, da scheinst du aber voll ins Wespennest gestochen zu haben. »Hören Sie mal, das war fest vereinbart«, meckert das andere Ende der Leitung, »ich hab Ihnen extra noch einen Termin dazwischengeschoben, weil Sie’s so dringend gemacht haben, und jetzt sitzen Sie im Auto und fahren lustig durch die Gegend!«
»Aber wenn ich Ihnen doch sag, ich weiß von keinem Termin. Das muss eine Verwechslung sein. Ich kenne Sie ja überhaupt nicht. – Moment, warten Sie mal ’nen Augenblick!«
Du prügelst den zweiten Gang rein, fährst in die Haltestellenbucht vom 14er-Bus, bremst und blätterst, während der Motor sich im Leerlauf beruhigt, deinen Terminkalender durch. »Nichts«, sagst du, »in meinem Kalender, da ist nämlich überhaupt nichts ... da ist ... das ist ja, der Wahnsinn ist das! Wer hat das da reingeschrieben? Da weiß ich überhaupt nichts von.«
Das ist doch … aber haargenau: Das ist die gleiche Handschrift wie bei diesen Zetteln, bei diesen Schreibtischirrläufern. Nicht zu fassen! Genau die gleiche … wie kommt