Das Schweigen der Familie. Ben Faridi

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Das Schweigen der Familie - Ben Faridi


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sein nassgeschwitztes Hemd. »Senhora Grazia, ich habe von Francisco nur aus den Akten gelesen. Was für ein Mensch war Ihr Mann?« »Francisco war mein Mann.

      Das ist im Wesentlichen alles.« Die Senhora schwieg. Alle schwiegen. Schließlich durchbrach Baptista das Schweigen. »Nach einem Mord möchte man gerne alles vergessen. Könnten sie dennoch erzählen, wie er war?« »Den Mord vergessen? Ha. Ich wurde gezwungen ihn zu heiraten, als ich sechzehn war. Damals hatte ich am Frühstückstisch gesagt, ich wolle nach São Miguel und Jura studieren. Mein Vater ist blass geworden und warf ein Messer nach mir. Meine Mutter schrie hysterisch, und eine Woche später war ich verheiratet. Francisco war damals dreiundzwanzig Jahre und was das Wichtigste war: Er kam aus der Familie der Amarals. Vielleicht war Francisco kein ganz schlechter Mensch. Aber er benahm sich wie ein Tyrann. Ich habe ihm nie den Tod gewünscht. Aber das Gute in der Welt ist durch seinen Tod nicht viel weniger geworden. Und das sage ich als seine Frau. Punkt.« Baptista hatte sich ein kleines Notizbüchlein auf den Tisch gelegt und versuchte mitzuschreiben. Er stockte jedoch mehrfach, weil ihm so ungeheuerlich erschien, was Senhora Grazia sagte.

      »Wann haben Sie ihn zum letzten Mal lebend gesehen?« »Er lag betrunken am Dienstagnachmittag im Bett. Zuvor hatte er versucht, mich mit einer Zaunlatte zu verprügeln. Aber ich kann mich wehren. Am Ende war er es, der mit blauen Flecken im Dreck lag. Ich habe ihn ins Bett geschleift und bin mit den Kindern zu meiner Schwester gefahren. Als ich am Mittwochmorgen wiederkam, war Francisco weg.« »Wo sind ihre Kinder denn jetzt?« »In der Schule, Senhor. Wir sind hier zwar in der Mitte des Ozeans, aber eine Schulpflicht gibt es trotzdem. Allerdings befindet sich die weiterführende Schule auf Flores. Ich hoffe, dass meine Kinder bald nach São Miguel zum Studieren gehen und das tun, was ich nicht durfte.« »Darf ich mich im Haus kurz umsehen?« »Aber fassen Sie nichts an. Ich mag es nicht, wenn Fremde meine Sachen berühren!«

      Baptista war froh, dass er dem unangenehmen Gespräch entfliehen konnte. Als er das Wohnzimmer hinter sich hatte, hörte er wieder dieses Wispern, dass er schon von seinem Hotelzimmer her kannte. Er ging sehr langsam, damit sein Kopfschmerz auszuhalten war. Im Schlafzimmer sah er, dass die Kleider von Amaral zu einem großen Berg aufgetürmt waren. Sie hat keine lange Trauerphase gehabt, dachte Baptista. Zu kurz. Niemand hatte Francisco am Abend seines Todes gesehen. Sie hätte ihn hier töten können und irgendwo ins Wasser werfen. Er würde ihr zutrauen, soviel Hass zu empfinden. Die Kinderzimmer wirkten aufgeräumt. Er dachte, dass er auch gerne Kinder gehabt hätte. Warum hatten Menschen wie Francisco Kinder und er nicht? Ihm wurde schwindelig. Er stützte sich auf. Dann ging er wieder zu den beiden anderen. Als er sich dem Zimmer näherte, hörten sie schlagartig auf zu sprechen. »Ich muss Sie leider bitten, sich für weitere Fragen bereitzuhalten.« »Wenn Sie dafür das Unkraut jäten ...« Baptista war versucht zu lachen, doch dann verstand er, dass Maria den Satz ernst meinte. Sie gab ihm zum Abschied nicht die Hand.

      Donnerstagmittag, 13. Juni

      Es war noch früher Mittag, als sie Marias Haus verließen. Fiebrig wankte Baptista durch den Garten. Auf dem Weg zum Auto stützte er sich mehrmals an einigen Pfosten ab. Etwas Eigenartiges kam ihm ins Gesichtsfeld, aber er war zu müde, um darüber nachzudenken. Es passte nicht mehr in seinen wummernden Kopf. Er bat, in die Pension zu fahren und erst am Nachmittag mit der Untersuchung fortzufahren. Kaum angekommen, musste er sich vor Schmerz übergeben. Dann trank er Leitungswasser und sank in einen kurzen komaähnlichen Schlaf. Als er aufwachte, hatte er hohes Fieber, jedenfalls fühlte sich sein Körper so an. Dennoch ging es ihm besser als zuvor. Seine Kopfschmerzen hatten nachgelassen. Langsam setzte er sich auf. Er musste einige Stunden geschlafen haben. Aber für eine kurze Befragung war noch Zeit. Er zog sich erneut um. Dann ging er nach unten und rief bei Delgado an. Dessen Frau war am Telefon und sagte ihm, dass Delgado in der Bar Di Caldeirão zu finden sei. Ohne einen genauen Plan, wo das sein könnte, lief Baptista Richtung Zentrum los.

      Die kleine Stadt hatte eine intensive Wirkung auf jeden Betrachter. Man konnte jedem Winkel seine Besonderheit ansehen. Nur dreihundert Menschen auf kleinstem Raum. Eine geschlossene Gemeinschaft. Kaum Infrastruktur, ein Arzt, der gelegentlich vorbeikam. Alle versuchten gemeinsam der Natur zu trotzen. Waren nicht alle irgendwie gleich? Jeder hatte Fischer in seiner Familie und Bauern. Es gab hier keine Programmierer oder Finanzmakler. Warum auch? Für wen sollte man denn eine Villa mit Pool haben? Mit einem Auto konnte man vielleicht zwanzig Minuten fahren. Niemand braucht dafür eine Luxuskarosse. Auch die Fassaden der Häuser. Für wen machte man sie schön? Für die eigene Verwandtschaft? Es war einfach zu klein für große Unterschiede. Baptista lief einige Straßen in Richtung des ansteigenden Teils der Stadt. Als er an einem der kleinen Häuser vorüberging, hörte er Stimmengewirr und Musik. Er ging einige Schritte zurück. Dann erkannte er, dass hier die besagte Bar sein musste. Er trat ein. Die Stimmen verstummten. »Baptista, hier bin ich. Setzen Sie sich, bis ich mein Bier ausgetrunken habe.« Baptista konnte in der Dunkelheit nicht sofort sehen. So stieß er schmerzhaft gegen eine Tischkante, als er in Richtung von Delgados Stimme ging. Allmählich begannen die Gestalten um ihn herum wieder zu sprechen. »Geht es Ihnen besser?«, fragte Delgado. »Geht so. Ich brauche gleich morgen den Arzt.« »Wie sollen wir weiter machen?« »Wir sollten die Geschwister besuchen.« »Gut. Marias Schwestern wohnen hier in der Straße.« Delgado trank sein Bier aus, warf ein Geldstück auf den Tisch und nickte den anderen beim Hinausgehen kurz zu.

      Sie gingen wenige Schritte. Dann klopfte Delgado und trat ein. »Ich komme gleich«, hörten sie aus dem oberen Stockwerk. Eine sechzehnjährige Schwarzhaarige lief mit gekonntem Hüftschwung die Treppe hinunter. »Ach du bist’s, Magdalena. Ist deine Mutter da?« »Sie ist bei Lorenzía. Geht doch einfach rüber. Was gibt’s denn?« »Baptista. Sehr erfreut. Ich bin der Comissário. Einige Fragen müsste ich Ihrer Mutter stellen.« »Wir gehen gleich rüber«, meinte Delgado etwas abrupt. »Dann können wir ihre Schwester gleich mitbefragen.« Baptista fühlte sich etwas übertölpelt. Familienangehörige gemeinsam zu befragen, hatte sich in seiner Arbeit als ungünstig erwiesen.

      Zumeist gibt es klare Hierarchien und der eine plappert dem anderen nur nach. Er fühlte sich aber auch zu schwach, um zu protestieren. Als sie rausgingen, bemerkte er nicht, dass Magdalena schnell zum Telefon lief.

      Zwei Häuser weiter war schon das Haus von Sophia. Wie üblich ein kurzes Klopfen, bevor sie in das nicht abgeschlossene Haus eintraten. »Sophia? Lorenzía?« »Wir sind im Garten!«, rief es. Sie gingen in den Garten, wo die beiden Frauen bei einem Erva do Calhau, einer wunderbaren Süßspeise, saßen. »Darf ich vorstellen, Senhor Baptista vom Kontinent.« »Meine Damen, entschuldigen Sie die Störung, aber im Zusammenhang mit Franciscos Tod habe ich einige Fragen zu stellen.« »Selbstverständlich«, lächelte ihn Sophia an. Sie war vielleicht vierzig Jahre alt, sah aber aus wie ein pummeliges, rundes Mädchen. Ihre Wangen waren rosa gefärbt und sie strahlte eine unverbesserliche gute Stimmung aus. Lorenzía wirkte wie das Gegenstück. Dunkle Augenringe dominierten ihr Gesicht. Es war hager und hatte durch ihre Frisur und ihre helle Haut etwas Düsteres. »Fragen Sie.« »Hatte Francisco irgendwelche Feinde, von denen Sie beide wissen oder vielleicht andere offene Streitigkeiten?« Die beiden Schwestern schauten sich an. Man konnte förmlich sehen, wie zwischen ihren Augen die Gedankengänge hin und her strömten. Schließlich antwortete Lorenzía mit ihrer dunklen Stimme: »Francisco war unser Schwager. Es ist schwer, über seinen Schwager zu sprechen. Aber vielleicht kann man schon sagen, dass er nicht der Beliebteste auf der Insel war. Sein Vater hatte eine harte Hand. Und er glaubte, dass Schläge einen Mann härter machen würden. Pão und Francisco hatten beide ihre Art damit umzugehen. Während Pão sich in sein eigensinniges Dasein zurückzog, gab Francisco seine Wut immer an die anderen weiter.«

      »Aber er hatte auch seine lieben Seiten«, warf Sophia ein. »Er beschützte mich gelegentlich vor Horazio und dessen Bande.« »Du bist immer so nachsehend. Erinnerst du dich noch, wie er Pão verprügelt hat? Wir dachten, er sei tot. Wie auch immer. Weil jeder so seine Erfahrung mit Francisco gemacht hat, gab es eine Reihe von Feinden.« »Meine Schwester hat ihm nicht gut getan«, warf Sophia ein. »Diese Ziege. Sie wollte immer nur, dass er arbeitet. Nie hat sie ihm eine Pause gegönnt. Und selbst war sie immer mit Kleinigkeiten beschäftigt.« Baptista versuchte verzweifelt die Namen und Erzählungen zu notieren. Seine Hand war durch das Fieber aber noch langsamer als sonst. Schließlich gab er auf. »Gab es denn jemand Besonderen unter diesen Menschen?


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