Lippenstift und Notfalltropfen. Irene Wondratsch

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Lippenstift und Notfalltropfen - Irene Wondratsch


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Zimmer. Sie riecht nach achtzehntem Jahrhundert in einer frisch gebohnerten Wohnung.

      Ich werde ihr nachgehen. Ich werde hinter ihr hergehen, ihr nicht mehr von der Seite weichen.

      Gerda Sengstbratl

      BLOCKMALZZUCKERLN

      Den ganzen Winter hustete ich. Hilusschatten auf dem linken Lungenflügel. Ich durfte auch im Sommer kein Eis essen.

      Als ich das erste Mal zur Erholung geschickt wurde, war ich knapp fünf. Tagelang strickte meine Mutter an einer langen roten Zipfelmütze für mich. Verschnörkelte Monogramme in allen Kleidungsstücken, R. K. Das letzte Wegstück gingen wir zu Fuß, meine Mutter und ich, bergauf. Mit jedem Schritt wuchsen meine Zweifel.

      Den ganzen Vormittag saß ich in einer Ecke, festgeklammert an meine Puppe, meine Mutter war längst auf dem Heimweg. Die Schwestern ließen mich weinen, die fremden Kinder betrachteten mich aus der Ferne.

      Wir schliefen in einer Veranda, die ringsum durchgehende Öffnungen ins Freie hatte, atmeten die kühle Waldluft ein. Die Betten standen in zwei langen Reihen, meine Nachbarin hieß Roswitha, wie ich. Drinnen trugen wir gestreifte Pyjamas, verbrachten viel Zeit im Bett, mussten auch tagsüber immer wieder ruhen. Die Decken steckten rundherum in der Matratze, so hatten wir wenig Bewegungsfreiheit. An den kalten Wintertagen brachten uns die Schwestern Wärmflaschen, flache, ovale Metallbehälter, in die heißes Wasser gefüllt und die oben mit einem goldglänzenden Drehverschluss zugeschraubt worden waren.

      Untersuchungen gehörten zum Alltag. Danach saßen wir mit aufgekrempelten Ärmeln und warteten, dass die Einstichstelle zu bluten aufhörte.

      Tagsüber waren wir viel draußen, unternahmen lange Spaziergänge oder spielten. In diesem Herbst lernte ich Kreisspiele, neue Lieder und Rad schlagen. Ich redete, lachte mit und tat, als wäre ich so wie alle.

      Jede Woche schickten wir Karten nach Hause. Die Großen konnten schon schreiben, wir Kleinen zeichneten nur, die Schwestern erklärten die Bilder für unsere Eltern. Einmal malte ich auf eine Karte lauter Schlingen, große und kleine, wie ich es mir von den Schülerinnen abgeschaut hatte. Die machten sich lustig: Schreiben geht ganz anders. Wenn ich mich schämte, krümmte ich die Zehen in den Schuhen mit aller Kraft. Versuchte mich abzulenken. Später rollte ich lieber die Zunge im geschlossenen Mund nach hinten. Niemand sollte es bemerken.

      Als ich kam, war Herbst. Gelborange. Wir aßen Äpfel mit so würzigem Geschmack, wie ich sie heute nirgends mehr finde. Die Wege säumten niedrige Hecken, an denen braune Blätter baumelten. Auf unseren Spaziergängen roch es nach feuchtem Laub, nach Rauch, der aus den Kaminen kam, nach Spätherbst. Langsam ertranken die Blätter in den Lacken. Es wurde Winter.

      Beim Essen bestanden die Schwestern auf leergegessenen Tellern. Oft kam es vor, dass ich allein vor dem kalten Mittagessen saß, dass ich die Luft anhielt, um die Bissen nicht zu schmecken, sie nicht hinunterbrachte, weil mein Hals wie zugeschnürt war, dass ich kaute und kaute und das zähe Fleisch immer mehr wurde in meinem Mund. Ein Festtag, wenn es Grießkoch gab, mit Schokolade, Zimt und Zucker.

      Einmal im Monat war Besuchssonntag, meine Eltern und die Oma kamen. Wir aßen im Dorfgasthaus Wiener Schnitzel. Ich erzählte, redete ununterbrochen, zeigte den Eltern meine Lieblingsplätze, meine Lieblingswege, die Welt war wieder in Ordnung. Bis zum nächsten Abschied.

      Zu Weihnachten nähten die Schwestern jedem Mädchen ein Kleid, im ersten Jahr war es blau, ein Jahr später kariert, ich trug beide gern. In der Spielecke stand ein großer Christbaum. Den Braven brachten die Schwestern bunt eingewickelte Leckereien abends ans Bett. Gute Nacht. Und schlaf schön.

      Daheim feierten wir Weihnachten noch einmal, ein zweites Mal Geschenke. Meine Schwester beneidete mich. Ich sang mit ihr die Lieder, zeigte ihr die neuen Spiele.

      Im darauffolgenden Herbst, dem letzten vor der Schule, hielt der Bus mit den Wiener Kindern extra meinetwegen in St. Pölten, ich stieg ein und er brachte uns gemeinsam ins Heim.

      Als Schulkind hustete ich nicht mehr, ich war geheilt.

      Roswitha Schmit

      GELDBÖRSE

      Austern

      Brüsseler Spitze

      Chinaseide

      diamonds

      Eselsmilchbad

      Ferrari

      Gucci-Sonnenbrille

      Haute Couture-Kleid von Dior

      intarsienverzierte Schatulle

      Jadeohrringe

      Kreuzfahrt in die Karibik

      Langusten

      Mauritius

      Nappalederhandtasche von Louis Vuitton

      Oldtimer

      Pralinen von Sprüngli

      Quetzalfederboa

      russischer Kaviar

      schottischer Wildlachs

      Tiffany

      Ulanenstiefel aus Antilopenleder

      Veloursvorhänge

      Wildschur

      X – nix

      Ylang-Ylang Öl

      Zechinen

      Nach einem Blick in ihr Portemonnaie entschied sie sich für X. Eine Übereinstimmung mit ihrem Chromosomensatz ist rein zufällig und nicht gewollt.

      Irene Wondratsch

      HAARBÜRSTE

      ein besuch beim friseur erfüllt nicht selten den tatbestand der körperverletzung.

      der erste ungeschützte blick in den spiegel zu hause enthüllt in seinem ganzen schrecken das, was zuvor noch von halber ohnmacht und panischer verdrängung nicht bis zur bewusstseinsschwelle vorgelassen wurde: die wellen à la »jean harlow« kräuseln sich in schmalzigem negroid à la »drahtwaschel« und das gewünschte platinblond kann man nur als ausgesprochen grünspanig bezeichnen.

      susis entsetzensweiter blick fällt auf die haarbürste, in der noch reste der alten brünetten pracht verfangen sind. die reue kommt zu spät. zugleich mit der wut steigen die tränen in ihr hoch und kullern reichlich über die geröteten wangen in den fassungslos offenstehenden mund. nichts wird es heute abend mit dem großen auftritt im feinsten lokal der stadt, und die bewunderung roberts wird sich auch in grenzen halten. überraschen hat sie ihn wollen und das dürfte problemlos gelingen. der weltuntergang kann sich nicht viel anders anfühlen, und es wäre gut, wenn die welt unterginge. eine welt, in der wahnsinnige stümper solche verheerungen auf ihrem kopf anrichten und sich dafür auch noch sittenwidrige beträge bezahlen lassen, hat nichts besseres verdient. susi stürzt zur badewanne und begräbt ihren blondinentraum unter wasserfluten. was sich eine halbe stunde danach gebildet hat, ist sonst als afrokrause bekannt und war eine zeitlang durchaus mal in mode. ein umstand, der susi nicht glücklicher macht.

      schokolade macht glücklich. eine hand um den doppelt gefüllten schokoriegel und die andere um ihre beige lieblings-sofarolle geklammert, versinkt susi in halber betäubung. ein cognac dazu macht sicher noch glücklicher und drei cognacs verdreifachen das glück zwangsläufig.

      die sofarolle erweist sich bei näherem betrachten als dringend säuberungsbedürftig. auch der reißverschluss ist ausgeleiert und schließt nicht mehr richtig. susi kichert und reimt: »ich hab mit meinem reißverschluss immer so nen scheissverdruss.«

      die haare fühlen sich jetzt vollkommen trocken an und haben ein richtig schönes volumen. susi kann sich nicht erinnern, jemals einen so großen kopf gehabt zu haben. sie greift erneut zur bürste und versucht zu bändigen, was nicht zu bändigen ist. jedes einzelne


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