England's Dreaming [Deutschsprachige Ausgabe]. Jon Savage
Читать онлайн книгу.beim Sit-in, wurden von der Polizei unter Druck gesetzt und festgenommen. Einmal versuchte die Schulbehörde sogar, McLaren in eine Irrenanstalt einliefern zu lassen.« Das Sit-in öffnete Reid die Augen: »Ich entwickelte mich vom Studenten, der sich in seiner kleinen Nische Sorgen macht, in jemanden, der sehr bewusst wahrnimmt, was in anderen Teilen der Welt passiert – in Paris, der Aufstand in Watts, L.A.«
Das war die Kurzfassung des 68er-Mythos. Obwohl keiner der Studenten aus Croydon während der Unruhen in Paris war, behaupteten sowohl Malcolm als auch Jamie Reid, sie wären dagewesen, dabei besuchten sie Paris erst später in diesem Jahr: es passte perfekt zum radikalen Mythos der Sex Pistols. Für den Umgang mit ihm ist ihre tatsächliche Anwesenheit oder Abwesenheit unwesentlich. Beide fühlten sich durch den Augenblick verwandelt. Nachdem sie einmal von dem Elixier getrunken hatten, wollten sie nicht einfach nur das Gefühl aufrecht erhalten, sondern dafür sorgen, dass es wieder passierte.
Die Unruhen von 1968 trafen mit einer Umwälzung der Wahrnehmung zusammen. Als die erste »Medien«-Generation nach dem Krieg das Erwachsenenalter erreichte und sah, wie die Welt funktionierte, stellte sie fest, dass sie nicht mit ihren Erfahrungen übereinstimmte. Die spielerischen Techniken der Situationistischen Internationale (SI) trugen nicht nur zum Ausbruch der Unruhen bei – das von den Situationisten inspirierte Über das Elend im Studentenmilieu hatte den Studentenprotesten in Nanterre Zündstoff geliefert –, sondern bestimmten auch den paradoxen Stil der Graffiti und Poster.
»Ich hatte im radikalen Milieu von den Situationisten gehört«, sagt McLaren. »Man ging zu Compendium Books. Wenn man nach Literatur fragte, musste man einen Blicktest bestehen. Dann bekam man diese wunderschöne Zeitschrift mit dem spiegelnden Umschlag in verschiedenen Metallicfarben: gold, grün und mauve. Der Text war französisch: Man versuchte, sich durchzukämpfen, aber es war sehr schwer. Immer, wenn man sich zu langweilen begann, gab es eine dieser wunderbaren Abbildungen, und die brachen die ganze Sache auf. Wegen ihnen habe ich sie gekauft, nicht wegen der Theorie.«
Ebenso wie die psychedelischen Grafiken in den englischen und amerikanischen Underground-Magazinen zeigten diese Slogans und Poster, die die Praktiken der Medien sowohl parodierten als auch angriffen, dass Leuten, die selbst nicht Zeugen der Ereignisse waren, eine Vorstellung von deren Möglichkeiten vermittelbar war. Als der aggressive rhetorische Stil mit dem Maoismus der Zeit verschmolz, traten die verwirrenden Wahrnehmungstricks der SI, ebenso wie der Anarchismus, zunächst in den Hintergrund – bis sie durch entsprechend veränderte Bedingungen wieder reaktiviert wurden.
Wie Michèle Bernstein 1964 schrieb: »Die Situationistische Internationale wurde 1957 auf einer Konferenz in Italien von Künstlern aus verschiedenen europäischen Ländern gegründet. Einige kamen aus den um 1950 entstandenen Avantgarde-Bewegungen, die damals aber noch völlig unbekannt waren: COBRA in Nordeuropa und der Lettrismus in Paris. Zu Beginn bestand das Ziel darin, über die künstlerische Spezialisierung hinauszugehen – über die Kunst als getrennte Aktivität.«
»In der Anfangsphase«, schrieb Peter Wollen in Bitter Victory, »entwickelte die SI eine Reihe von Ideen, die ursprünglich aus der Lettristischen Internationale kamen, von denen die bedeutendsten der urbanisme unitaire, die Psychogeographie, das Spiel als freie und kreative Aktivität, das derive (Umherschweifen) und das detournement (Entwendung) sind. Künstler sollten die Trennung zwischen individuellen Kunstformen überwinden, um Situationen zu schaffen, konstruierte Begegnungen und kreativ gelebte Momente in urbanen Umgebungen, Augenblicke eines veränderten Alltagslebens.«
Dies war ein ehrgeiziges, aber dynamisches Projekt. Pinot Gallizios pittura industriale – mit Malmaschinen und Sprühpistolen nach dem Zufallsprinzip bearbeitete Papierrollen – konnten eine ganze Stadt bedecken und gleichzeitig einen bissigen Kommentar zur Industrialisierung der bildenden Kunst abgeben. 1959 stellte Asger Jorn seine Modifications aus, Kitschkunst, die auf Flohmärkten gekauft und übermalt wurde.
In den frühen 60er Jahren wurde die Situationistische Internationale zunehmend vom theoretischen und dogmatischen Guy Debord dominiert. 1967 veröffentlichte er Die Gesellschaft des Spektakels, ein Buch, das sich bei Philosophen wie Sartre, Lefebvre und Lukács, sowie Urbanisten wie Lewis Mumford bediente. Mittels dieser brillanten Collage aus avantgardistischer Kunst, marxistischer Theorie und existentialistischer Anstößigkeit gestaltete Debord eine Sprache, eine Art negatives Mantra, mit dem das Unbewusste bearbeitet wurde.
Das Buch bringt die Kritik des Alltagsleben auf den neuesten Stand und beschreibt die Nachkriegsbedingungen, durch die Menschen mittels gleichgeschalteter Medien – Fernsehen, Zeitungen, Popmusik und Kultur – versklavt werden. »Die durch und durch zur Ware gewordene Kultur«, schrieb Debord in These Nummer 193, »muss auch zur Star-Ware der spektakulären Gesellschaft werden. [...] In der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts (wird die Kultur) die treibende Rolle in der Wirtschaftsentwicklung spielen, die in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts vom Automobil und in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts von der Eisenbahn gespielt wurde.«
In den 60er Jahren dominierte Debords Persönlichkeit die SI, was sowohl die Dynamik der Bewegung beeinflusste – ablesbar an den Spaltungen und Ausschlüssen – als auch die Verbreitung der Produkte und Ideen der SI im Vereinigten Königreich forcierte. Bereits 1960 fand eine SI-Konferenz in Großbritannien statt, an der auch die britischen Mitglieder teilnahmen, wie der Maler Ralph Rumney und der schottische Dichter und Beat-Autor Alex Trocchi. Abgesehen von Trocchis utopischer »Sigma«-Bewegung übersprang Großbritannien größtenteils die erste, konventionell-künstlerische Phase der SI und rezipierte sie vor allem über die Flugschriften.
SI-Material kam nur sporadisch ins Land. Vieles an den Situationisten wurde in Großbritannien als Pop verstanden, als philosophische Neufassung der Pop Art. Denn wegen der Verbindung von Großbritannien zu Amerika wurde die Zukunft nicht in philosophischen Begriffen, sondern in Begriffen gesehen, die Richard Hamilton in seinem Manifest von 1956 umriss: »Populär, vergänglich, entbehrlich, massenproduziert, jung, geistreich, sexy, albern, glamourös, big business.« Ab 1966 wurde diese Zukunft von aggressiven Popgruppen wie den Beatles, den Kinks und den Rolling Stones in die Welt getragen.
Die englische Reaktion auf die SI bestand in einer Zeitschrift, Heatwave, deren erste Ausgabe (Juli 1966) Material von den Amsterdamer Provos und aus amerikanischen anarchistischen Veröffentlichungen wie dem Rebel Worker enthielt und das alles zu einer Collage verarbeitete. Die programmatischen Bestandteile handelten von britischer Popkultur: John O’Connor schrieb eine Kritik über den ersten »Teen Take-Over«-Roman, Only Lovers Left Alive von Dave Wallis, der die nahe Zukunft beschreibt, in der »die Erwachsenen mit ›Drückeberger‹-Pillen Selbstmord begingen und die Teenager die Macht übernahmen.«
In Die Saat der Zerstörung legte Charles Radcliffe die Grundlagen für die kommenden zwanzig Jahre subkultureller Theorie. Radcliffe griff sechs »inoffizielle Jugendbewegungen« – die »Teddy Boys«, »The Ton-up Kids« (Biker), die »Raver« etc. – heraus, die gleichermaßen Symptom und Kritik des Nachkriegskapitalismus sind. »Die Tatsachen künden davon«, schlussfolgerte er, »dass die revoltierende Jugend eine bleibende Wirkung auf diese Gesellschaft hat, da sie deren Voraussetzungen und ihren Status hinterfragt und bereit ist, den eigenen Abscheu auf die Straße zu kotzen. Sie hat ihre ersten unsicheren politischen Gesten mit einer Unmittelbarkeit vorgebracht, die Revolutionäre nicht bestreiten, sondern beneiden sollten.«
Die zweite Ausgabe von Heatwave reproduzierte Material der SI, das Radcliffe, Mit-Herausgeber Christopher Gray, Timothy Clark und Donald Nicholson-Smith in der zweiten Jahreshälfte 1966 zusammengetragen hatten. SI-Texte wurden verbreitet: »Ten Days that shook the University wurde großzügig unter den Studenten, die sich für aktuelle radikale Aktivitäten interessierten, verteilt«, erzählt Paul Sieveking, ein Student in Cambridge, der die erste Übersetzung von Raoul Vaneigems Handbuch der Lebenskunst für die jungen Generationen ins Englische anfertigte. »Es war eine Entdeckung: es verschaffte einem einen gewissen Vorteil vor Leuten, die nichts davon wussten. Danach kam Vaneigems Basisbanalitäten heraus, in einem dunkelblauen Umschlag, das von einem komischen