Das Erwachen der Gletscherleiche. Roland Weis
Читать онлайн книгу.In der Umgebung Aschendorffers sowieso. Aber hier wollte sie fürs Erste nicht mehr erfahren.
„Und wo ist denn nun Ihr Ötzi?“, lenkte sie ab.
Aschendorffer zog sie zur streng verriegelten Tür, die in die Kühlkammer führte. Während der Professor mit verschlüsselten Geheimcodes die Verriegelung löste, erklärte er: „Ich habe ihn noch nicht angerührt, er ist noch den vollkommen identischen Verhältnissen ausgesetzt, wie in den letzten 5500 Jahren im Eis.“
„Ah, verstehe!“
Sie betraten den Kühlraum. Der Gletschermann lag aufgebahrt auf einem in die Wand eingelassenen Podest, eingebacken in seinen kantigen Eiskäfig. Das war es aber nicht, was Aschendorffer und Biesthal nahezu synchron erschrocken zurückweichen ließ. Es war vielmehr der bis unter die Decke reichende Stapel gefrorener Brathähnchen, der eine ganze Seitenfront des Kühlraumes einnahm. Ein Brathähnchenklotz kullerte mit vernehmlichem Poltern vor ihre Füße.
„Was ist das?“ Frederike Biesthal konnte sich einen spöttischen Unterton nicht verkneifen. „Gehören die auch zum Fund?“
Aschendorffer stürzte zum Haustelefon, das draußen im Gang in die Wand eingelassen war.
„Kaymal, Sie Hornochse! Kommen Sie sofort runter in den Kühlraum“, hörte Biesthal ihren Chef brüllen. Wenig später stürmte Meslut Kaymal herein. Er hatte keine Minute gebraucht, wo auch immer im Gebäude er zuvor gewesen war. Als er die geöffnete Tür des Kühlraumes sah und die beiden Wissenschaftler zwischen den gefrorenen Hähnchen, legte sich sofort eine Maske der Zerknirschung auf sein Gesicht. „Oh jeh, oh jeh“, jammerte er.
„Was ist das?“, fragte Aschendorffer streng.
Kaymal schob die Unterlippe vor: „Isse Bratenhähnche.“
„Das sehe ich selber. Wo kommen sie her? Wem gehören sie? Wer hat sie hierher gebracht?“
Kaymal murmelte undeutlich ein Geständnis: „Habe ich gemacht. Wo solle hin die viele Bratehähnche aus Lieferwage? Müsse kalt bleibe.“ Er hob schuldbewusst die Schultern: „Isse Vorratslager. Kann jeden Tag eine Bratehähnche auftauen und Futter machen für die Ratten.“
Biesthal schaute irritiert, weil sie die Zusammenhänge nicht kannte.
„Und das übrige Zeugs? Die Gemüseschachteln? Die Fischstäbchen?“, fragte Aschendorffer.
„Musse nix Sorge mache“, beschwichtigte Kaymal. „Habe ich Bruder wo mache Kauflade in Stühlinger. Echt türkisch Spezialitäte.“
„Ich kenne einen türkischen Lebensmittelladen im Stadtteil Stühlinger“, entfuhr es Frederike Biesthal. „Ist das nicht an der Ecke zur Eschholzstraße?“
Kaymal grinste: „Isse meine Bruder.“
Aschendorffer schenkte ihm einen zweifelnden Blick. Das mit Kaymals Brüdern war so eine Sache. Er hatte für jeden Bedarf einen Bruder, man musste aufpassen.
„Was ist an Fischstäbchen eine türkische Spezialität?“, fragte Aschendorffer spitz.
„Musse du auftaue Fischestabe un ganz kleine Stücke mache. Isse dann Spezialitäte aus dem Mittelmeer. Verstehsch du?“
„Das Zeug muss trotzdem hier raus. Haben Sie keinen Bruder, der einen Brathähnchengrill betreibt?“
Kaymal überlegte kurz, dann wanderte ein Strahlen über sein Gesicht. „Doch! Da fallt mir einer ein. Morge vielleicht. Oder nächste Woche.“
„Hauptsache Sie schaffen das Zeug weg. Ich brauche den Platz. Und jetzt verschwinden Sie! Gehen Sie die Katzen füttern!“
Aschendorffer kickte einen Brathähncheneisklotz zur Seite und näherte sich auf Armlänge dem Gletschermann. Er schaute auffordernd zu Frederike Biesthal, die immer noch nicht verdaut hatte, dass ihr türkisches Spezialitätengeschäft im Stühlinger umdeklarierte Tiefkühlkost als anatolische Spezialität verkaufte. „Schauen Sie ihn sich an: ein Prachtexemplar, vollkommen erhalten.“
„Ich kann nicht viel erkennen“, mäkelte Biesthal, die jetzt ganz nahe an den Eisklotz herangetreten war. „Ja, die Hand kann man sehen, und dahinter einen Schatten im Eis. Ist das ein Fell? Vielleicht ist es ein Tier?“
„Unsinn!“, berichtigte Aschendorffer. „Das ist ein Mann in einem Fellumhang. Sehen sie hier, die Schultern. Hier, diese Form, das ist der Kopf. Ebenfalls mit einem Fellüberhang.“ Aschendorffer deutete mit einem Metallstab auf die Stelle im Eis, wo er den Kopf vermutete. „Und hier“, er ließ den Zeigestab bis ans andere Ende des Eisklotzes wandern, „das sind die Füße. Sie stecken in Fellschuhen.“
Frederike Biesthal bestaunte stumm das Exponat. Aschendorffers Kühlkammer barg eine wissenschaftliche Sensation. Daran bestand kein Zweifel.
„Und wie wollen Sie ihn ... äh ... zum Leben erwecken?“
Aschendorffer hob eine geöffnete Hand vor sich hoch wie ein Wanderprediger, der zum Segen ausholt: „Was glauben Sie, Frau Kollegin?“
Frau Kollegin! Das sagte er nur in Ausnahmefällen. Eigentlich immer nur dann, wenn er sich sicher war, dass er gleich einen unglaublichen wissenschaftlichen Triumph kundtun würde. Frederike Biesthal kannte diese Momente. Sie waren beängstigend. Und gleichzeitig magisch.
„Ich nehme an, Sie wollen ihn klonen? Oder rechnen Sie damit, dass sie zeugungsfähiges Sperma finden, wenn Sie ihn auftauen?“
Er ruckte überrascht mit dem Kopf: „Oh, an diese Möglichkeit habe ich gar nicht gedacht.“ Er zögerte kurz, als überlegte er. „Aber nein, das würde dauern bis wir einen Fötus hätten und dann einen Menschen, der erst noch erwachsen werden müsste.“ Er rieb sich über die Nase, als dächte er weiter darüber nach: „Und die Leihmutter?“ Sein Blick wanderte abschätzend an Frederike Biesthal hinunter bis zu ihren Zehenspitzen und wieder hinauf bis ans Kinn. Zog er sie etwa in Erwägung? Er streichelte zärtlich über den Eisblock: „Wäre nur eine halbe Sache. Wir hätten dann nicht diesen Steinzeitmenschen zum Leben erweckt, sondern lediglich eine genetische Kopie oder einen Nachfahren von ihm geschaffen. Völlig unbefriedigend. Das kann jeder.“
Frederike Biesthal, die sehr wohl den taxierenden Blick Aschendorffers bemerkt hatte und sich überlegte, ob sie dafür die Ohrfeige noch nachreichen sollte, sagte spitz: „Eine Leihmutter würden Sie ja wohl auch schwerlich finden, so wie Sie mit Frauen umspringen.“
Aschendorffer überhörte es. Später, wenn er alleine war, in seinen Träumen, würde er sich schmerzlich an diese spitze Bemerkung erinnern. Er verkündete in beiläufigem Ton: „Ich werde ihn auftauen und reanimieren.“ Zur Bekräftigung klopfte er mit der flachen Hand auf den Eisklotz.
Frederike Biesthal räusperte sich vorsichtig: „Wie?“
„Ich habe eine Nährlösung vorbereitet. Der Eisklotz kommt in eine Wanne und wird langsam aufgetaut, indem wir die Temperatur in der Wanne um etwa ein Grad pro Tag steigen lassen. In dem Maße, in dem das Eis zu Wasser wird, wird diesem Wasser die genau vorberechnete Dosis dieser Nährlösung zugeführt. Ich erläutere ihnen gleich, aus was sie besteht. Es ist bestechend einfach. Am Ende wird nach einigen Tagen der Leichnam komplett in seinem eigenen Schmelzwasser liegen. Das ist wichtig, weil wir wegen der möglichen Krankheitskeime und sonstigen Unwägbarkeiten kein Wasser aus der Gegenwart für die Herstellung der Nährlösung verwenden dürfen. Diese Nährlösung wird unseren Eismann nach spätestens 72 Stunden reanimieren. In der letzten Phase brauchen wir Elektroschocks. Zuerst werden die Organe wieder arbeiten, das Blut wird wieder zirkulieren, das Gehirn schaltet sich ein. Sobald die Lunge 20 Prozent ihrer früheren Funktionsfähigkeit erreicht, müssen wir zunächst künstliche Beatmung einsetzen. Das wird nur vorübergehend sein, denn das weitere Setup geschieht ziemlich schnell und der Mensch wird bald in der Lage sein, selbstständig zu atmen.“
Aschendorffer erzählte in fiebrigen, hastigen Sätzen. Der Professor erläuterte die chemische Zusammensetzung seiner Nährlösung. „Unlängst habe ich Labormäuse lebendig in eiskaltes Wasser getaucht und binnen weniger Minuten tiefgefroren. Sie hatten keinerlei