Totkehlchen. Thomas Matiszik

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Totkehlchen - Thomas Matiszik


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Brammenkemper richtete sich hinter dem Rednerpult auf, setzte ihre Lesebrille ab und ging dann langsam auf Modrich zu. Sie war eine äußerst stattliche Erscheinung. Dem Anlass entsprechend trug sie hohe Schuhe, die sie auf eine wirklich beeindruckende Größe wachsen ließen. Ihr war nicht entgangen, dass die meisten der anwesenden Pressevertreter und natürlich auch die versammelten Kollegen einen Mordsspaß an dem hatten, was Modrich gerade abzog. Als amtierende Oberstaatsanwältin musste sie in dieser Situation die Ruhe bewahren und diesen vorlauten Polizeikommissar souverän und ausschließlich verbal in seine Schranken weisen, auch wenn ihr in diesem Moment die Hand relativ locker saß. Ehe es jedoch dazu kommen konnte, hatte sich Gregor Frobisch von seinem Platz in der ersten Reihe erhoben und stellte sich nun mit einer beschwichtigenden Geste hinter das Rednerpult.

      „Ich freue mich außerordentlich, einen so verdienten Kollegen wie Kommissar Modrich an meiner Seite zu wissen“, legte Frobisch los. Thea Brammenkemper machte eine schnelle Drehung und hob protestierend den Zeigefinger. Niemand sollte sie jetzt daran hindern, an diesem Polizeiflegel ein Exempel zu statuieren.

      „Verehrte Oberstaatsanwältin Brammenkemper“, fuhr Frobisch fort. „Ich bin mir sicher, dass es Kommissar Modrich gut gemeint hat. Da Sie mich allen Anwesenden eingangs ausführlich vorgestellt haben, sollten wir den offiziellen Teil nun schnell hinter uns bringen und drüben in den Büros des Morddezernats noch ein Gläschen zur Feier des Tages trinken. Ich habe alkoholfreien Sekt besorgt. Ach ja, die geschätzten Kollegen von der Presse sind natürlich ebenfalls herzlich dazu eingeladen.“

      Der folgende Applaus stimmte Thea Brammenkemper für den Moment wieder milde. Auch sie hatte nun offenbar eingesehen, dass es besser war, gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Diesen Modrich konnte sie sich auch noch ein anderes Mal vorknöpfen. Niemand bemerkte in diesem Augenblick, dass Peer sein Handy am Ohr hatte und seltsam blass wurde. Mit der freien Hand fuchtelte er abwechselnd wild herum und hielt sich den Zeigefinger vor die Lippen.

      „Sag das bitte noch mal. Ich habe den letzten Satz nicht verstanden!“

      Mit einem Mal verstummten alle Anwesenden einschließlich des neuen Polizeichefs und der Oberstaatsanwältin. Peer nahm das Handy vom Ohr und wandte sich an die Journalisten.

      „Bitte nicht böse sein, aber die Party ist leider vorbei, ehe sie beginnen konnte. Ich muss Sie nun bitten, den Raum zu verlassen, und zwar sehr zügig!“ Dann hielt er sich das Handy wieder ans Ohr. „Okay, warte noch einen Moment.“

      Die Pressemeute verließ etwas missmutig den Raum. Natürlich hätten sie zu gern gewusst, was für die plötzliche Blässe im Gesicht des Kommissars verantwortlich war. Als kein Journalist mehr zu sehen war und der neue Polizeichef die Tür leise schloss, setzte Modrich das Telefonat fort.

      „So, jetzt bitte noch mal, und zwar langsam und deutlich!“

      Frobisch und die Oberstaatsanwältin blickten Modrich erwartungsvoll an, als dieser das Telefonat beendete und seinen Blick kurz zu Boden senkte.

      „Wir haben einen ziemlich brutalen Mordfall zu beklagen. Haben Sie beide Zeit und Lust, mit mir den Dortmunder Zoo zu besuchen?“

      Thea Brammenkemper schüttelte verständnislos den Kopf.

      „Modrich, es kann ja sein, dass Sie einen besonders schrägen Humor haben, aber Sie können nicht erwarten, dass jeder über Ihre Witze lacht. Was soll das also jetzt bedeuten?“

      „Wenn es um Mord geht, scherze ich nicht“, gab Peer unumwunden zurück. „Ich möchte mit Ihnen den Tatort inspizieren, und dafür müssen wir in den Dortmunder Zoo.“

      Brammenkemper schien immer noch nicht ganz zu verstehen, folgte Modrich aber, ebenso wie Gregor Frobisch.

      8

      Das Schlimmste, das Johannes Baldauf jemals erlebt hatte, war der Christopher Street Day vor zwei Jahren in Berlin. Er war kurz zuvor mit seiner Frau und seinem heranwachsenden Sohn in die Hauptstadt gezogen. Das Sanitärunternehmen, für das Baldauf fast zwei Jahrzehnte im ostwestfälischen Oelde gearbeitet hatte, war von der internationalen Konkurrenz geschluckt worden. Fast die Hälfte der 250 Angestellten stand auf der Straße. Baldauf hatte das große Glück gehabt, als einer der Ersten gefragt worden zu sein, mit nach Berlin zu kommen, wo der neue Eigentümer seinen Stammsitz hatte. Wobei das mit dem Glück so eine Sache war. Johannes Baldauf fielen Veränderungen schwer. Er war in seinem fast fünfzig Jahre langen Leben nie gerne gereist und auch nur einmal über die deutsche Landesgrenze hinausgekommen. Kurz nach dem Mauerfall hatte er mit zwei Freunden eine dreiwöchige Reise nach Budapest gemacht. Noch heute erzählte er bei jedem Anlass, wie unfassbar günstig Speisen und Getränke damals in der ungarischen Hauptstadt waren und wie sehr sich die Zeiten und Sitten seither geändert hätten. Die wenigen Freunde, die Baldauf und seine Frau Martina noch besuchten, waren aus der alten Heimat Westfalen. In Berlin hatten die Baldaufs keine engen Kontakte knüpfen können. Oder wollen. Der Besuch des Christopher Street Days machte Johannes Baldauf diese Stadt noch suspekter als zuvor.

      „Überall Multikulti, jeder scheint hier mit jedem zu vögeln“, sagte er und verzog dabei angewidert sein Gesicht, während sein Sohn Frank dem bunten Treiben des CSD aufmerksam folgte. Ein Transvestit auf Plateausohlen näherte sich Frank mit riesigen Schritten und blieb unmittelbar vor ihm stehen. Franks Gesicht steckte plötzlich in einem künstlichen Dekolleté, er wurde von zwei kräftigen Armen gepackt und hochgehoben. Der Kuss, den er bekam, war ein überaus intimer.

      In diesem Augenblick brannten bei Johannes Baldauf alle Sicherungen durch. Das wilde Kriegsgeschrei, das er anstimmte, ließ die umstehenden Besucher des CSD wie auf Kommando herumfahren. Sie sahen einen völlig entfesselten Mann, der erst einen Mülleimer aus seiner Verankerung riss, um dann mit demselben auf den Transvestiten und seinen bedauernswerten Sohn einzuschlagen. Körperlich eigentlich hoffnungslos unterlegen, war es die unbändige Wut, die Johannes Baldauf an diesem Tag um ein Haar zu einem Mörder werden ließ. Zwei der unzähligen Schläge hatten den Transvestiten schwer am Kopf getroffen, sodass dieser erst taumelte und dann zu Boden sank. Frank Baldauf lag blutüberströmt auf dem Bürgersteig und hielt schützend die Hände vor sein Gesicht. Wären dem Transvestiten nicht zwei couragierte CSD-Besucher zur Hilfe geeilt, wer weiß, was noch alles geschehen wäre. Mit vereinten Kräften wurde Johannes Baldauf niedergerungen und so lange festgehalten, bis die Polizei vor Ort war und ihn in Gewahrsam nehmen konnte.

      Tatsächlich musste man Baldauf bereits zwei Stunden später wieder laufen lassen, weil der Transvestit im allgemeinen Chaos verschwunden war und sein Sohn vor lauter Angst keine Aussage machen wollte. Die Zeugen, die Baldauf schlussendlich überwältigt hatten, sagten lediglich aus, dass der Transvestit und Baldauf offenbar in eine Schlägerei verwickelt waren und sich die Verletzungen vermutlich daraus ergeben hätten. Baldauf selbst hatte auf Notwehr abgestellt und zudem betont, dass er seinen Sohn in Gefahr sah. Zu Hause angekommen, nahm Baldauf sich Frank noch mal vor.

      „Um deinen Vater zu verteidigen, machst du dein Maul wohl nicht auf? Aber wehe, es kommt so eine Tucke daher und will dir ihre Zunge bis zum Anschlag in den Hals stecken! Das scheint genau dein Ding zu sein, richtig? Ich weiß nicht, was bei dir schiefgelaufen ist, aber ich komme mehr und mehr zu dem Entschluss, dass es damals eine Fehlentscheidung war, dich nicht abzutreiben. Hätte ich mich mal durchgesetzt.“

      Frank Baldauf schnappte nach Luft und sah seinen Vater ungläubig an.

      „Ja, du hast schon richtig gehört. Du warst ein Unfall. Eigentlich hättest du von einer Gummiwand abprallen und dann im Müll landen sollen. Das Scheißding ist aber geplatzt und wir hatten den Salat. Na ja, kein Wunder, dass du dich nun in eine solche Richtung entwickelt hast.“ Baldauf zog seine Spucke hoch und spie Frank vor die Füße. „Von heute an bist du nicht länger mein Sohn. Geh deinen Weg, lass dich meinetwegen von jedem Dahergelaufenen begrapschen. Ist mir ab sofort wurscht. Was deine Mutter daraus macht, geht mir ebenfalls am Arsch vorbei.“

      Martina Baldauf arbeitete seit knapp sechs Monaten in einem Berliner Kinderkrankenhaus. So gelang es ihr wenigstens während der Schichten, dem täglichen Wahnsinn, der sich zu Hause abspielte, zu entfliehen. Sie hasste ihren Mann. Mit jedem Tag wurde es schlimmer. Viel länger würde sie es mit ihm nicht


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