Liebe auf den zweiten Blick. Doris Lott

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Liebe auf den zweiten Blick - Doris Lott


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Aichhalden im Schwarzwald. Als er an einem Sonntagmorgen die Fenster in seiner Wohnung putzte, fragte ihn eine Frau: ‚Ganget se net in d’Kerch?‘ Und der Günther antwortete selbstbewusst und provozierend: ‚Nein, ich gehe ins Theater, da werden ähnliche Bedürfnisse befriedigt!‘

      Ich erinnere mich noch, wie er schon ziemlich krank war und im Rollstuhl saß. Christa Ludwig kam nach Karlsruhe zur Opernklasse. Sie war sehr direkt mit ihrer Meinung und nicht einfach im Umgang, eine Diva halt. Dann wollte er anschließend zum Empfang, der eigentlich nur für geladene Gäste gedacht war. Ein Glück, dass Peter Spuhler uns das ermöglichte. Dort unterhielt er sich großartig und plauderte ungeniert mit der Sängerin über die alten Zeiten an der Wiener Staatsoper, an der er ja auch hospitiert hat. Theater, das war unsere Leidenschaft und Günther hielt sich für den Mittelpunkt der Welt. Er hatte einen Wunsch, und ich versuchte ihn zu erfüllen. Und als er unbedingt bei den Salzburger Festspielen dabei sein wollte, aber nicht mehr so gut laufen konnte, da habe ich mir ein Klappfahrrad gekauft. In Salzburg fuhr er dann mit dem Rad und ich rannte nebenher. Das war ein Bild für Götter und meiner Figur tat das gut! Dafür gab’s am Abend für mich eine ‚Mehlspeis‘ extra! Wir fielen auf, wie der sprichwörtliche ‚Rossbollen auf der Autobahn‘, aber was taten wir nicht alles für die Musik. Ich habe mir doch auch schon als 14-Jähriger an Weihnachten die Concerti Grossi von Händel gekauft. Das gefiel mir, aber damals auch Schlager und die Operettenmusik aus der Musiktruhe meiner Eltern. Wir lebten in Offenburg, fuhren mit dem Bus ins Karlsruher Theater und ich schmolz dahin, als Anton de Ridder ‚Komm in die Gondel mein Liebchen ...‘ sang.

      Später hat sich mein Geschmack geändert. Die Richarde haben es mir angetan! Zunächst lernte ich den Wagner zu schätzen. Meine große Liebe wurde aber Richard Strauss. Aus seinem Werk und damit verbundenen Zahlen schöpfe ich sogar die Kombinationen für die vielen Passwörter, die man heute braucht. Dann kam natürlich Mozart dazu und mit Günther die Italiener und überhaupt alle anderen.

      Ich denke zurück an die Zeit vor sechs Jahren, als sich Günther einen Oberschenkelhals-Bruch zuzog und seine Leidenszeit begann. Ich habe meinen Freund gepflegt in unserer Wohnung mit den über fünfhundert Teddybären und der riesigen Platten- und CD-Sammlung. Wir waren ja beide ,Jäger und Sammler‘, die jedes Programmheft seit Beginn unserer Theaterbesuche aufgehoben habem. Als Günther sich nicht mehr selbstständig zu Hause mit Essen und Trinken versorgen konnte, kam Freund Hans-Peter vom Theater zu Hilfe und unterstützte uns mit fast täglichen Besuchen zur Mittagszeit. Das war für Günther eine schöne Abwechslung und er konnte übers Theater und die Kultur mit Hans-Peter fachsimpeln. Zusammen mit Günthers Schwester Gerlinde waren die beiden eine große Hilfe für mich und später im Heim ein willkommener Besuch für Günther. Ein paarmal kam sogar eine kleine Sängerinnen-Abordnung aus dem Theater, um zu sehen wie’s dem Günther geht.

      Als Günther gestorben war, haben wir uns mit einer bewegenden Trauerfeier von ihm verabschiedet. Viele Freunde haben mitgewirkt. Die musikalische Gestaltung übernahmen Daniel Kaiser an der Orgel und die Mezzosopranistin Christina Niessen vom Badischen Staatstheater. Und viele von vor und hinter der Bühne waren dabei.“

      Pfarrer Manfred Wiedemer, der mit Georg und Günther befreundet war, beeindruckte alle mit seiner Trauerrede, die mit den Worten „True love“ endete. Er berichtete von der Liebe und Fürsorge, mit der der Freund auch in den letzten Jahren der schweren Krankheit seinen Lebensgefährten begleitete.

      „Georg hat die Theaterbesuche im Rollstuhl und den anschließenden Besuch in der Theaterkantine noch bis kurz vor seinem Tod ermöglicht. So konnte Günther ganz im Augenblick und im inneren Frieden leben.“

      Georg fehlt Günther.

      „Ich halt‘s zu Hause nicht aus, ich bin immer auf der Flucht! Als Günther im Heim war, kamen wir uns auf neue Weise wieder näher und es war mit die schönste, innigste Zeit, die wir miteinander hatten. Die Beziehung vertiefte sich wieder, denn auch bei uns gab es in den einunddreißig Jahren unserer Partnerschaft Höhen und Tiefen, viele ,graue Jahre‘ und auch das ‚verflixte 7. Jahr‘ ...

      ‚Aber der Richtige, wenn’s einen gibt für mich auf dieser Welt‘, wie die Arabella von Strauss singt, ‚der wird einmal dastehen, da vor mir und wird mich anschauen und ich ihn ...‘

      Der erste Mann, in meinem Leben, war’s auf jeden Fall nicht. Schon nach einem halben Jahr ging’s unter Tränen wieder auseinander, denn er war nicht der Richtige.

      Kurze Zeit später erschien Günther. Ich habe ihn immer mal wieder in einer Theater-Clique getroffen. Dies und jenes hat man über ihn erzählt. Auf dem Karlsruher Theaterfest 84/85 hat es dann langsam begonnen mit uns. Er war ja nicht so ganz mein Traumprinz mit seinen über 20 Jahren mehr und der ‚Dächle-Frisur‘ (das schüttere Haupthaar wurde kunstvoll mit Hilfe von Unmengen Haarspray zu einem ‚Dächle‘ zementiert). Aber seine Stärke, seine Redegewandtheit und seine Kennerschaft auf allen erdenklichen Gebieten haben es mir angetan. ‚Der ist zu alt für dich‘, ging mir anfangs immer wieder durch den Sinn und ich stellte mir so viele Fragen. Aber heute bin ich so dankbar, dass wir gemeinsam so viel erlebt haben auf dem Weg zu den großen Musikereignissen. Erst nahmen wir den Zug, und später dann das Auto. So fuhren wir quer durch Europa auf der Jagd nach der Kunst. Günther hatte keine Fahrerlaubnis und sagte immer: ‚Ich bin zu intelligent für einen Führerschein‘! Beim Autofahren erklärte er mir immer, wie ich fahren oder richtig einparken solle.

      Als ich im Alter von vierundzwanzig Jahren meiner Mutter erzählte, dass ich jetzt mit einem Mann zusammenlebe, war sie nicht überrascht. Sie sagte nur: ‚Das haben Papa und ich uns schon immer gedacht‘.

      Meine Eltern haben den Günther gleich quasi als Schwiegersohn akzeptiert und in ihr Herz geschlossen, denn auch sie waren beeindruckt von seinem selbstbewussten Auftreten, seinem Wissen und seinen Sprachkenntnissen. Sie stehen zu mir. Sie sind nicht wie jener Vater, der damals im Fernsehen meinte: ‚Wenn ich so einen Sohn hätte, würde ich ihn totschlagen‘. Wir waren bei jedem Familienfest mit meinen Eltern, meinen beiden jüngeren Brüdern, Schwägerinnen, Neffen und Nichten, Onkel, Tanten Cousinen und Cousins zusammen ... bis hin zu Günthers Trauerfeier. Das gilt natürlich auch für seine Verwandtschaft.

      Auch Günther, der ursprünglich mit seiner Familie aus Tschechien kam, hatte ein gutes, enges Verhältnis zu seiner Mutter. Von ihr habe ich ihn praktisch übernommen, denn ein halbes Jahr bevor wir uns kennenlernten, war seine geliebte Mutter Valerie überraschend gestorben.“

      Der Bauingenieur Georg und der Lehrer Günther haben sich für immer voneinander verabschiedet.

      „Als ich an diesem 11. November spürte, dass es mit Günther zu Ende geht, habe ich ihm ‚La Boheme‘ mit dem jungen Carreras aufgelegt und dann seine Lieblingsarie ‚Casta Diva‘ aus Bellinis ‚Norma‘. Gesungen von der geliebten Maria Callas. Dabei hatte er Tränen in den Augen. Dann machte er ein paar letzte Atemzüge und schloss friedlich die Augen. Die Krankenschwestern hatten ihm am Morgen sein T-Shirt mit dem Bild der Callas angezogen, sein Sterbehemd.“

      Der Freund und die Musik waren die letzten Wegbegleiter des Günther J. – „True love!“

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