Dann mal ab nach Paris. Hubert Becker

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Dann mal ab nach Paris - Hubert Becker


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der Nase lang, Kurt, wohin die Sehnsucht mich treibt.“ Und nichts wie weg, bloß nicht zu schnell!

      Missglückter Versuch, cool zu wirken. Der wird sich seinen Teil denken, besonders wenn er erfährt, was los ist.

      „Blödmann!“ höre ich ihn noch hinterherrufen. Seit Ewigkeiten nicht gesehen, aber ausgerechnet jetzt um diese Zeit.

      Ja, wohin treibt mich eigentlich die Sehnsucht oder besser gesagt die Verzweiflung? In mir reift ein Gedanke, ein Gedanke, der sicherlich bald Hildegard auch umtreiben wird. Wohin werde ich wohl gehen, wenn ich glaube, untertauchen zu müssen? Tausendmal im Scherz mit ihr besprochen. Dorthin, wo alles so groß und anonym ist, dass niemand von mir Notiz nimmt. Nach Paris. In eine Stadt, die tatsächlich für mich ein Sehnsuchtsort ist und wo ich mich noch dazu auskenne.

      Geld am Automat meiner Bank abzuheben, traue ich mich nicht. Alles zu nahe am Geschehen. Ich entschließe mich, die sechs Kilometer nach Lampertheim zu Fuß zu gehen. Also los und „immer an der Wand lang“, wie es in einem alten Lied heißt.

      Es ist inzwischen stockdunkel; das kommt mir sehr entgegen.

      Die Luft wird mir eng, mein linkes Auge zuckt, wie immer, wenn ich aufgeregt bin, und ich spüre, wie mir Schweißperlen über’s Gesicht rinnen.

      Nein, das alles strengt mich eigentlich nicht an, ich bin gut durchtrainiert, schaue mir sämtliche Sportsendungen im Fern-sehen an. Das ist Angstschweiß. Auf Feldwegen gibt es gewöhnlich keine Beleuchtung. Plötzlich höre ich in absoluter Dunkelheit aufgeregtes Grunzen unmittelbar vor mir. Ich weiß, dass es hier Wildschweine gibt, und die Viecher sind alles andere als handzahme Kuscheltiere.

      Cool bleiben, raune ich mir zu. Ich versuche ein langsames Schlendern. Jetzt bloß nicht rennen, die Biester sind bestimmt schneller als ich. Der schwarze Schatten vor mir wird größer und da steht er vor mir: ein kapitaler Keiler. Ich glaube ein mordlüsternes Funkeln in seinen Augen zu sehen.

      „Glaub mir“, versuche ich das Tier zu beruhigen, „ich hab noch nie Wildschweinbraten gegesse und ich werd’s auch nie tun.“

      Versteht der mich überhaupt? Ich rede Mannemer Dialekt!

      Ein verhaltenes Grunzen, das ich nur als zufrieden bezeichnen kann, dann macht sich das Untier aus dem Staub. Aha, doch ver-standen! Beruhigt setzte ich meinen Nachtspaziergang fort.

      Mehrmals hinzufallen, weil ich über irgendeine Wurzel oder sonst was stolpere, geschenkt! Vor mir sehe ich jetzt ein Licht auf mich zukommen. Heiliger Strohsack, was ist das jetzt? Die Polizei? Haben die mich geortet? Ich hab doch mein Handy ausgeschaltet!

      Das Licht kommt näher und rauscht auch schon mit einem freundlichen „Guten Abend“ vorbei. Ein Jogger. Muss der ein Rad abhaben: Ich sehe einen nackten Hintern in der Nacht verschwinden. Mannomann, das ist nicht nur ein Nacht-, sondern ein Nacktjogger. Der ist doch sicher aus irgendeiner Psychiatrie entlaufen. Gut, dass ich den Kerl von vorne nicht richtig gesehen habe; der Anblick eins baumelnden Gemächts nachts auf dem Feld hätte mich sicher aus der Fassung gebracht.

      Fassung? Hab ich überhaupt noch eine angesichts der Umstände, in denen ich mich befinde?

      Da tauchen die ersten Lichter von Lampertheim auf.

      Bin ich außer Atem nach dieser langen Nachtwanderung? Nö, bin ich komischerweise nicht. Hab wohl einen gewaltigen Adrenalinüberschuss im Blut. Kein Wunder, ich bin abgehauen, weil ich vermutlich unter Mordverdacht stehe, obwohl ich so unschuldig bin wie die Jungfrau Maria. Ich habe deshalb meine Frau verlassen, ohne mich zu verabschieden und bin auf der Flucht nach Paris, obwohl ich nicht weiß, ob ich dort jemals ankommen werde.

      War wohl eine Scheißidee das Ganze. Aber ich war noch nie einer, der auf halbem Weg stehen bleibt. Wenn ich aufgeben wollte, hab ich mich selbst in den Arsch getreten. Symbolisch natürlich, so gelenkig bin ich nicht mehr. Hat mir ja schon meine Frau vorgeworfen, beim Sex!

      Ja, jetzt bin ich also in Lampertheim. Da werden Erinnerungen wach. Ich setze mich auf die Treppe vor einem Hotel und hänge wehmütig meinen Gedanken nach.

      Alte Zeiten – Ingrid

      Die „Stadt meiner Väter“, so habe ich die „Spargelstadt Lampertheim“ als Fünfzehnjähriger genannt. Ein Blödsinn eigentlich. Ich habe nur einen Vater und der stammt aus Sandhofen. Gott, oder wer auch immer, hab ihn selig! Aber dieses Städtchen habe ich damals geliebt, ich war mehrmals in der Woche dort. Warum wohl? Na, ich habe nicht nur diesen Ort geliebt, sondern auch ein Mädchen, Ingrid, hübsch, ein wenig pummelig, mit allem versehen, was man als junger, pubertierender Kerl, kaum trocken hinter den Ohren, braucht. Wehmütig denke ich an unsere ersten zaghaften Küsse und dann das ausgiebige Petting in der letzten Reihe des Kinos zurück.

      Und plötzlich fühle ich wieder diesen Schmerz um mein linkes Auge. Mir fällt dieser stadtbekannte Schläger ein, der mir damals auf eben dieses Auge gehauen hat. Ich sehe die Situation, die seit 45 Jahren in meinem Hinterkopf schlummert, glasklar vor mir: Zu dritt sind diese Arschlöcher, zwei halten mich fest und der Obermotz haut mir mit der Faust aufs linke Auge und stellt sich dabei mit Namen vor, begleitet vom hämischen Gelächter seiner Kumpane.

      „Scheiß Kerl“, schreit Ingrid und tritt dem Schläger auf den Arsch. „Bloß weil ich dich nicht rangelassen hab. Haut bloß ab, ihr feigen Schweine!“

      „Halt’s Maul, dumme Fotze!“, schreit der Schläger. „Sei froh, dass ich dir nicht die Fresse poliere!“

      Mut hatte sie schon, meine kleine Ingrid. Sie wusste, wie sie diesen Idioten behandeln musste. Sie kannte den schon seit dem Kindergarten. „Alleine ist der so klein mit Hut“, sagte sie mir einmal und zeigte es mir mit Zeigefinger und Daumen.

      Jedenfalls begleiten uns die drei mit höhnischem Gekicher bis zur Haltestelle und warten bis der Bus kommt.

      „So, rein mit euch und verpisst euch nach Sandhofen!“

      Ingrid ist feuerrot im Gesicht vor Zorn: „Feiges Dreckpack und du“, sie deutet auf den Schläger, „hast es bei mir verschissen bis in die Steinzeit und zurück!“

      „Mir doch egal!“ Die Stimme des Schlägers zittert und klingt seltsam belegt.

      „Mensch Ingrid, der heult doch tatsächlich, siehst du das?“

      „Klar seh ich das, wir waren mal ziemlich dicke miteinander, der tut nur so hart. Ohne seine Leibgarde ist der aufgeschmissen.“

      „Aha. Wie dicke wart ihr denn miteinander?“ Ob sie die Eifersucht in meiner Stimme hört?

      „Ach lass, les temps sont perdu!“

      Ja, Französisch konnte sie auch, meine Ingrid, und nicht nur die Sprache. Sie war überaus intelligent. Aus der ist sicher etwas geworden. Ich hab’ sie leider aus den Augen verloren. War wohl meine Schuld, weil ich gleichzeitig mit ihrer Freundin etwas angefangen hatte, Schuft der ich war. Aber schlechtes Gewissen? Keine Spur, schließlich musste man in diesem Alter so manches ausprobieren.

      An der nächsten Bushaltestelle zerrt sie mich wieder aus dem Bus und kühlt mir im Hotel „Darmstädter Hof“ mein lädiertes Auge.

      Lampertheim

      Seltsam, genau vor diesem Hotel sitze ich jetzt auf der Treppe und hänge trüben Gedanken nach. Da hat mir wohl das Unterbewusstsein den Weg gewiesen.

      Ingrid, bist du noch in Lampertheim, bist verheiratet und hast ein Dutzend Kinder? Hoffentlich sieht das Älteste nicht mir ähnlich! Mir fällt ein Lied von Peter Cornelius ein, in dem es heißt: „Bist du nicht die Klaane, die ich schon als Bua gern ghabt hab? Die mit fünfzehn schon kokett war und die enge Jeans anghabt hat!“ Oder waren’s dreizehn?

      Sie war jedenfalls fünfzehn, genau wie ich und ebenfalls ziemlich kokett. Mensch Ingrid, wenn ich wüsste, wo du wohnst, ich würde klingeln und wenn mir dein Alter, wenn du einen hast, aufs rechte Auge haut.

      Du hattest schon recht, les temps sont perdu! Ich sentimentaler Hund. Stiehlt sich doch da tatsächlich eine Träne aus meinem malträtierten linken Auge. Der französische Spruch erinnert mich daran,


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