Das kleine Narrcoticum. Thomas C. Breuer

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Das kleine Narrcoticum - Thomas C. Breuer


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zu tragen, dass alle Hemden ordentlich durchgeglonkt wurden.

      Viel mehr weiß man nicht über die örtlichen Sitten und Gebräuche im Wandel der Zeiten; in Bad Dürrheim wurde seit Anfang des 14. Jahrhunderts so viel gefeiert, dass sie die Archivierung und geschichtliche Aufarbeitung der Fasnet darüber schlicht vergessen haben. Die Faktenlage bleibt also dürr.

      Balingen

      Streng genommen hat die Zollernmetropole keinen Platz an der Baar – ihr Einfluss auf das Narrentreiben darf dennoch nicht unterschätzt werden. Keine kühne Behauptung: Balingen hat weniger mit dieser indonesischen Insel mit vier Buchstaben zu tun als mit der Bundeshauptstadt. Dies ist auf die „Große Nebenalemannische Lautverschiebung“ zurückzuführen, die im Bereich Zollernalb zu verheerenden Vokalverschleppungen und – vor allem – Konsonantenschleifungen geführt hat. So haben viele Sueben auf ihrer Wanderung vom südlichen Barling nach Nordosten das „G“ liegen gelassen, das „R“ aber mitgenommen und das „A“ gegen ein „E“ getauscht. Dort siedelten sie in einer Sumpflandschaft, aus der später die Hauptstadt Berlin wurde, wobei sich der Sumpf an vielen Stellen erhalten hat. Viele der Sueben leben heute noch bevorzugt am Prenzlauer Berg. So wurde aus Barling im Laufe der Jahrhunderte Berlin – und den Rest überließ man den Balingern. Zum Glück für die Berliner, sonst hätte John F. Kennedy bei seinem Besuch am Brandenburger Tor am 26. Juli 1963 ausgerufen: „Ich bin ein Balinger!“, was die Leute doch sehr verstört hätte. (Tontechniker war damals übrigens ein gewisser Peter Lustig – Tatsache.)

      Der Autor dieses Buches hatte noch kein Jahr in der Region gelebt, als man ihn in eine Metzgerei schickte, um „Mannheimer“ zu besorgen. Er glaubte zunächst an einen recht einfach gestrickten Scherz. Obwohl (oder weil?) er fünfundzwanzig Jahre in der Metropolregion Rhein-Neckar gewohnt hatte: Von „Mannheimern“ hatte er bis dato nie gehört, und erst eine detailliertere Beschreibung brachte ihn auf die Spur: Schweinefleisch, das in ein Netz gezogen und dann gepökelt und leicht geräuchert wird – aber hey, das ist doch Kassler? Wie das wohl in Kassel heißt? Rottweiler? Natürlich musste eine Recherche her: Mit Kassel hat das Kassler nichts zu tun. Angeblich soll ein Fleischer namens Cassel Pate gewesen sein – in Berlin. Noch wahrscheinlicher ist die Ableitung des französischen Wortes Casserolle, das von den Hagebutten nach Berlin eingeschleppt worden sein soll. Von den Hugenotten, um genau zu sein.

      Im Mai 1805 bot der Fleischhauer Johann Peter Lahner erstmals seine „Original Wiener Frankfurter Würstel“ an. Die Schweizer „Wienerli“ heißen beim Schwaben wiederum „Saiten“. Auf einer Speisekarte irgendeiner Autobahnraststätte stand einmal im Angebot: „Zürcher Rahmgeschnetzeltes Nürnberger Art.“ Und irgendwo auf der Welt gibt es sicher das „Chinarestaurant Akropolis“. (Das hat der Autor vor dreißig Jahren erfunden, in seinem Text „Zorba the Buddha“. Mittlerweile gibt es einen Song dieses Titels von der Kölner Band „Domstürmer“.)

      Jetzt aber zum Fasnets-Signature-Dish, dem Superfood der tollen Tage: Berliner, ein Siedegebäck, das mehr Aliasnamen spazieren führt als ein gewöhnlicher Internetbetrüger. Im Osten sagen sie Pfannkuchen, im Westen Berliner Ballen, in Hessen Kräppel, Kreppel oder Krebbel, im Allgäu Ignazkiechle, in Österreich Faschingskrapfen. In Finnland wiederum verspeisen sie „hillomunkki“ mit Marmelade oder eine Variante mit rosafarbenem Zuckerguss namens „berliininmunkki“. Süßer Hefeteig wird in Fett ausgebacken und, wenn man Glück hat, mit Marmelade gefüllt, mit Vanille oder Eierlikör. Wenn man Pech hat, mit Senf oder Sägespänen – Späßle gmacht! Die Bäurinnen haben in vergangenen Jahrhunderten ihr letztes Fett vor den Festtagen verbacken, und alle haben so knapp vor der Fastenzeit noch einmal tüchtig reingehauen. Lange hielt sich das Märchen, der Name „Krapfen“ sei auf die Hofratsköchin Cäcilie Krapf zurückzuführen. Tatsächlich ist sie nur für die „Cillykugeln“ verantwortlich. Da schon die Römer Unmengen davon vertilgt haben – gut erhaltene Restexemplare wurden bei Ausgrabungen in Frommern entdeckt –, liegt der Bezug zum lateinischen Wort „crassos“ nahe, also fett. Voll fett, also krass. Auch gab es zu Zeiten Karls des Großen ein Gebäckstück namens „Crapho“. Schließlich findet sich im „Praktischen Kochbuch“ einer Henriette Davidis ein Rezept für „Berliner Pfannkuchen“.

      Nach dem Backen werden die Berliner gemeinhin mit Zucker bestäubt bzw. betäubt, aber der Variationen sind viele: Zuckerguss, kakaohaltige Fettglasur, Zuckerwerk, Smarties oder Schokostreusel. Egal, in welcher Form, unter welchem Namen auch immer: Berliner sind das ultimative Fasnetsgebäck, das vor allem am Montag und am Dienstag vertilgt wird, und dies in unvorstellbaren Mengen.

      Nie aber sollte man vergessen, dass der richtige Name des „Berliners“ besser „Balinger“ lauten sollte, denn hier stammt er her, aus der Bäckerei Krauth in der Stingstraße, deren Name sich keineswegs von einem englischen Rockmusiker ableitet. Also Sting jetzt. (Die Engländer nennen die Deutschen sowieso „Krauts“.) In Balingen ist das von Bedeutung, die Balinger sind Feuer und Flamme, denn hier wird an der Fasnet lange gefackelt, um den traditionellen Nachtumzug durchzuführen – und Berliner, die meist weiß bestäubt sind, sind im Dunkeln besser zu sehen. Denn das ist ein weiteres Erfolgsgeheimnis: Sie lassen sich einfach hervorragend werfen. Der Umzug ist keinesfalls ein umnachteter, wobei der Begriff Nacht hierbei – wie z. B. in Dietingen – durchaus großzügig interpretiert wird, startet die Parade doch bereits um 18:66 Uhr. Dieser Brauch ist so ungewöhnlich nicht, ohnehin ziehen sich sehr viele Menschen vor dem Schlafengehen um, und das bedeutet: Nachts.

      Beim Nachtumzug paradieren die „Balinger Loable“ (auch „Loable“ hat mit Backwerk zu tun – der Balinger Gruß lautet übrigens: „Hoscht scho gveschpret?“ Womit wir wieder bei der Konsonantenschleifung wären.) Dazu gesellen sich die Hexen, die in drei Geschmacksrichtungen daherkommen: Eyach-, Binsen- und Feuer-. Wieso das hohe Aufkommen? Hexen pflegen sich auf dem nahen Heuberg zu versammeln, um ihre Teufelsspiele zu vollstrecken. Für den allfrühjährlichen Heuschnupfen sind sie allerdings nicht verantwortlich zu machen, heißt es. Jedes Jahr am 5. Januar erfolgt die Feuertaufe auf dem Heuberg, man startet mit einem Becher Ziegenmilch, um Nerven und Magen zu beruhigen.

      Balingen – Perle der Zollernalb: Zwar hat man es nur zu einer einzigen Städtepartnerschaft gebracht, dennoch kann die Stadt einiges in die Waagschale werfen, denn von beidem versteht man was: Waagschalen (Bizerba) und Handball (HBW). Zunächst aber haben sie 1255 eine Stadtmauer gebaut, um dann feststellen zu müssen, dass sie, um das Ensemble komplett zu machen, einen Ort dazu benötigen. Ab 1818 wurde man versehentlich dem Schwarzwaldkreis zugeschlagen, was eine tiefgreifende Verstörung nach sich zog. Bald war die Stadt bekannt für ihre Trikotwebereien, obwohl es zu diesem Zeitpunkt weder die TSG (Fußball) noch die HBW (Handball) gab, die Trikots hätten gebrauchen können. Wegen der Webereien existierte lange Zeit ein Gerberviertel, das heute Klein-Venedig genannt wird – und damit auf einen direkten Bezug zum „Carnevale“ aufweist. Klein-Venedig, das ist in Baden-Württemberg wirklich einzigartig, wenn man mal von den Klein-Venedigs in Konstanz, Esslingen, Freiburg und Reutlingen absieht. Seit dem 1. Januar 1974 ist Balingen „Große Kreisstadt“, und der Sitzungssaal im Rathaus darf sich mit dem Titel „Großer Kreissaal“ schmücken.

      In Balingen geht es hoch her. Für den Brauchtumsabend in der „volksbankmesse“ – schon das klingt urgemütlich – muss man einen „gültigen Partypass“ mit sich führen. Der Eintritt erfolgt als One-Way-Ticket.

      Wir fassen zusammen: Korrekterweise müsste der Berliner also „Balinger“ heißen – das sollten sie sich hinter die Ohren schreiben, die Mannheimer, Kassler, Frankfurter und Wiener – und vor allem die Berliner selbst.

      Beffendorf (& Lackendorf)

      Die Deviaphobie ist die Angst, sich zu verirren. Augie Meyers, Keyboarder des legendären Sir Douglas Quintets („Mendocino“), erzählte einmal in einem Interview, er habe sogar schon den Zimmerservice angerufen, als er sich zu Hause aufhielt. Es gibt Vielflieger, bei denen daheim würde sogar jemand abnehmen. Es dauert eine Weile, bis sie sich in der eigenen Wohnung zurechtgefunden haben. Ohne Smartphone o. ä. kann man das vergessen: Sie sind so selten zu Hause, dass sie dort GPS benötigen.

      Ein Trost: Selbst den Großen dieser Welt bleiben solche Missgeschicke nicht erspart. 1992 scheiterte ein Putsch in Venezuela daran, dass die ortsunkundigen Soldaten sich auf


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