1984. George Orwell
Читать онлайн книгу.nachdem er ein Gespräch belauscht hatte, das seiner Ansicht nach kriminelle Absichten erkennen ließ. Mit siebzehn war er Bezirksleiter des Junioren-Anti-Sex-Bunds geworden. Mit neunzehn hatte er eine Handgranate entworfen, die daraufhin vom Ministerium für Frieden übernommen worden war und gleich beim ersten Testeinsatz einunddreißig eurasische Gefangene mit nur einem Schlag getötet hatte. Mit dreiundzwanzig war er im Kampf gefallen. Während eines Fluges über dem Indischen Ozean, im Gepäck wichtige Nachrichten, verfolgt von feindlichen Düsenjets, hatte er sich das Maschinengewehr umgehängt und war mitsamt den Nachrichten aus dem Hubschrauber ins Meer gesprungen – ein Ende, sagte der Große Bruder, über das man nicht nachdenken könne, ohne Neidgefühle zu hegen. Der Große Bruder fügte noch ein paar Worte hinzu, wie anständig und zielstrebig Genosse Ogilvy im Leben gewesen sei. Er war überzeugter Abstinenzler und Nichtraucher gewesen, hatte keine andere Erholung gekannt als täglich eine Stunde in der Sporthalle und hatte gelobt, zölibatär zu leben, war er doch überzeugt davon, dass die Ehe und die Versorgung einer Familie mit der Pflichterfüllung rund um die Uhr unvereinbar seien. Für ihn gab es keine anderen Gesprächsthemen als die Grundprinzipien des Engsoz und kein anderes Ziel im Leben als die Niederwerfung des eurasischen Feindes und die Jagd auf Spitzel, Saboteure, Gedankenverbrecher und Verräter aller Art.
Winston überlegte ernsthaft, ob er dem Genossen Ogilvy den Orden für besondere Dienste verleihen sollte: Letzten Endes entschied er sich dagegen, da dieser Schritt unnötige Querverweise nach sich ziehen würde.
Erneut schaute er zu seinem Konkurrenten in der gegenüberliegenden Nische hinüber. Etwas schien ihm mit Gewissheit zu sagen, dass Tillotson mit derselben Aufgabe beschäftigt war wie er. Man konnte unmöglich wissen, wessen Version schlussendlich übernommen werden würde, aber er war zutiefst davon überzeugt, dass es die seine sein würde. Genosse Ogilvy, der noch vor einer Stunde nicht einmal in der Vorstellung existiert hatte, war jetzt eine Tatsache. Es kam ihm eigenartig vor, dass man tote Menschen erschaffen konnte, nicht aber lebende. Genosse Ogilvy, der nie in der Gegenwart existiert hatte, existierte nun in der Vergangenheit, und sobald der Akt der Fälschung vergessen wäre, würde er genauso echt und nachweislich existieren wie Karl der Große und Julius Cäsar.
5
In der niedrigen Kantine, tief unter der Erde, bewegte sich die Schlange zur Mittagsstunde nur langsam vorwärts. Im Raum war es bereits sehr voll, und es herrschte ein ohrenbetäubender Lärm. Aus dem Lüftungsgitter an der Ausgabetheke wallten Schwaden des Eintopfgerichts mit einem säuerlich-metallischen Geruch herüber, der die Ausdünstungen des Victory-Gins nicht ganz überdeckte. Am anderen Ende des Raums befand sich eine kleine Bar, eigentlich nicht mehr als eine Nische in der Wand, an der man einen großen Schluck Gin für zehn Cent kaufen konnte.
»Genau dich hab ich gesucht«, sagte jemand in Winstons Rücken.
Winston drehte sich um. Es war sein Freund Syme, der in der Forschungsabteilung arbeitete. »Freund« war vielleicht nicht die richtige Bezeichnung. Heutzutage hatte man keine Freunde mehr, man hatte Genossen: Es gab aber einige Genossen, deren Gesellschaft angenehmer war als die anderer. Syme war Philologe, ein Spezialist für Neusprech. Tatsächlich gehörte er zu dem riesigen Team von Experten, die im Augenblick damit beschäftigt waren, die elfte Auflage des Neusprechwörterbuchs zusammenzustellen. Er war ein kleiner Mann, kleiner als Winston, hatte dunkles Haar und große, hervortretende Augen, die traurig und spöttisch zugleich wirkten und einen genau zu mustern schienen, wenn er sich mit einem unterhielt.
»Ich wollte dich fragen, ob du noch ein paar Rasierklingen hast«, sagte er.
»Keine einzige!«, sagte Winston mit schuldbewusster Hast. »Ich habe überall versucht, welche zu bekommen. Es gibt einfach keine mehr.«
Dauernd wurde man von Leuten nach Rasierklingen gefragt. In Wahrheit hatte er noch zwei unbenutzte, die er zurückhielt. Seit Monaten waren sie Mangelware. Ständig gab es irgendwelche notwendigen Artikel, die die Parteiläden nicht liefern konnten. Manchmal waren es Knöpfe, manchmal Stopfwolle, dann wiederum Schnürsenkel; im Augenblick waren es Rasierklingen. Wenn überhaupt, kam man nur an welche heran, wenn man sich mehr oder weniger heimlich auf dem »freien« Markt etwas zusammenschnorrte.
»Ich benutze dieselbe Klinge seit sechs Wochen«, fügte er verlogen hinzu.
Die Schlange bewegte sich wieder ein Stück weiter vorwärts. Als sie zum Stehen kamen, drehte Winston sich wieder zu Syme um. Beide nahmen sich ein schmieriges Metalltablett von einem Stapel am Rande der Theke. »Hast du gestern zugeschaut, wie die Gefangenen gehängt wurden?«, wollte Syme wissen.
»Ich habe gearbeitet«, sagte Winston gleichgültig. »Ich werde es wohl im Kino sehen, denke ich.«
»Ein ziemlich ungenügender Ersatz«, sagte Syme.
Sein spöttischer Blick glitt über Winstons Gesicht. »Ich weiß, wer du bist«, schienen diese Augen ihm zu sagen, »ich durchschaue dich. Ich weiß genau, warum du dir nicht angesehen hast, wie die Gefangenen gehängt wurden.« Auf intellektuelle Weise war Syme boshaft linientreu. Mit unerträglich genießerischer Befriedigung konnte er von Hubschrauberangriffen auf feindliche Siedlungen, von Prozessen und Geständnissen von Gedankenverbrechern, von den Hinrichtungen in den Kellergewölben des Ministeriums für Liebe erzählen. Wenn man sich mit Syme auf ein Gespräch einlassen wollte, musste man ihn von solchen Themen abbringen und ihn, falls möglich, in die technischen Aspekte des Neusprech verwickeln, da er auf diesem Gebiet ein großes Wissen besaß und Interessantes wusste. Winston drehte den Kopf ein wenig zur Seite, um dem forschenden Blick dieser großen, dunklen Augen zu entgehen.
»War gar nicht schlecht, das Hängen«, sagte Syme und schwelgte in Erinnerungen. »Ich finde, es verdirbt die Sache, wenn sie ihnen die Füße zusammenbinden. Ich mag es, wenn sie zappeln. Und vor allem am Ende, wenn die Zunge rausguckt, blau – so richtig leuchtendblau. Das gefällt mir immer ganz besonders.«
»Nächster, bitte!«, rief die Prole mit der weißen Schürze und der Schöpfkelle.
Winston und Syme schoben ihre Tabletts unter dem Gitter durch. Auf jedes wurde schnell die vorgeschriebene Mahlzeit ausgegeben – eine metallene Schale mit einem rötlich-grauen Eintopf, dazu ein Kanten Brot, ein gewürfeltes Stück Käse, ein Becher mit Victory-Kaffee ohne Milch und eine Tablette Süßstoff.
»Dort drüben ist ein Tisch frei, unter diesem Telemonitor«, sagte Syme. »Nehmen wir auf dem Weg noch einen Gin mit.«
Der Gin wurde in henkellosen Porzellanbechern ausgegeben. Sie bahnten sich einen Weg durch den vollen Saal und stellten Geschirr und Besteck auf die metallene Tischplatte, auf der jemand an einer Ecke einen Klecks Eintopf hinterlassen hatte, eine klebrige Flüssigkeit, die auf den ersten Blick wie Erbrochenes aussah. Winston nahm seinen Becher Gin, hielt einen Moment inne, um sich zu sammeln und kippte das ölig schmeckende Zeug runter. Als er die Tränen fortgeblinzelt hatte, spürte er mit einem Mal, dass er hungrig war. Löffelweise schlang er den Eintopf hinunter, in dessen Brei Würfel aus schwammartigem, rötlichem Zeug trieben, die vermutlich aus Formfleisch bestanden. Keiner der beiden sagte etwas, bis sie ihre Schalen geleert hatten. Am Tisch linker Hand von Winston, ein Stück weit hinter seinem Rücken, redete jemand schnell und ununterbrochen, ein hastiges Geplapper, fast wie das Quaken einer Ente, das den allgemeinen Lärm im Saal durchdrang.
»Wie geht es mit dem Wörterbuch voran?«, fragte Winston, der die Stimme ein wenig erhob, um gegen den Lärm anzukommen.
»Nur langsam«, sagte Syme. »Ich bin gerade bei den Adjektiven. Das ist faszinierend.«
Seine Miene hatte sich sogleich aufgehellt, als vom Neusprech die Rede war. Er schob seine Schale beiseite, nahm sein Stück Brot in die eine und den Käse in die andere zierliche Hand und beugte sich über den Tisch, um normal sprechen zu können, ohne schreien zu müssen.
»Die elfte Auflage wird die endgültige Ausgabe sein«, sagte er. »Wir bringen die Sprache in ihre letztgültige Form – die Form, die sie beibehalten wird, wenn keiner mehr irgendetwas anderes spricht. Wenn wir damit fertig sind, werden Leute wie du sie ganz von vorn lernen müssen. Ich schätze, du denkst, dass unsere Hauptaufgabe darin besteht, neue Wörter zu erfinden. Weit gefehlt! Wir vernichten Wörter