Nirvana. Michael Azerrad

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Nirvana - Michael  Azerrad


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„Blew“, „Sliver“, „Milk It“, „Heart Shaped Box“. Gegen Ende spielen sie ihren Hit, und obwohl Kurt die Anfangsakkorde fast bis zur Unkenntlichkeit entstellt, werden die Moshers im Publikum zu Berserkern. Als schließlich zu den Klängen von „Lithium“ Feuerzeuge und Streichhölzer hochgehalten werden, weiß jeder Einzelne in diesem höhlenartigen Schuppen ganz genau, warum er Nirvana liebt.

      Obwohl Chris Novoselic und Kurt mindestens zehn Meter voneinander entfernt stehen, bewegen sie sich und reagieren sie aufeinander, als wären sie viel näher beisammen; ihre Kommunikation ist mühelos. Irgendwann in der Mitte des Auftritts ruft Kurt zu Chris hinüber: „Ich fühl’ mich großartig! Ich könnte noch eine Stunde lang spielen!“ Und genau das passiert. Sie verdichten vierundzwanzig Songs in eineinhalb Stunden, darunter acht aus dem neuen, noch nicht erschienenen Album. Die Menge beklatscht die neuen Songs enthusiastisch, vor allem die wilde Attacke „Scentless Apprentice“ und das majestätische „All Apologies“, das sich in einem Nebel aus Mantra-Gesängen und Feedback auflöst.

      Eddie Vedder von Pearl Jam beobachtet alles von der Seite der Bühne aus; unweit von ihm Dale Crover von den Melvins. Frances Bean Cobain ist bei ihrem Kindermädchen oben in der Garderobe ihres Vaters; Courtney kommt herunter und muss gleich einer Mineralwasserflasche aus Plastik ausweichen, die Kurt gerade achtlos wegwirft. Sie winkt ihm spöttisch zu.

      Am Ende des Sets verschwinden Kurt, Chris und Dave Grohl hinter dem Schlagzeug und rauchen gemeinsam eine Zigarette. Sie diskutieren, welche Songs sie noch spielen sollen. Dann kommen sie zurück und geben eine halbstündige Zugabe aus sieben Songs, die ihren Höhepunkt in „Endless, Nameless“, der geheimnisvollen Schlussnummer von Nevermind, findet. Die Band beschleunigt den Gitarrenriff, über dem die Nummer liegt. Sie spielen wie in Trance. Kurt springt auf den Verstärkerturm und marschiert darauf herum. Er ist zwar nicht sehr hoch, aber trotzdem zieht er alle Aufmerksamkeit auf sich – wie ein Selbstmordkandidat, der auf einem Fenstersims balanciert. Die Musik wird noch schneller. Die Gitarren kreischen, Chris hat seinen Bass abgeschnallt und schwenkt ihn wild vor dem Verstärker; Dave Grohl drischt präzise und hemmungslos auf seine Trommeln ein. Als die Musik ihren Höhepunkt erreicht, wirft sich Kurt krachend in die Drums, Trommeln und Beckenständer fallen herunter. Das Schlagzeug sieht aus wie eine fleischfressende Pflanze, die sich öffnet, um ihr Opfer zu verschlingen. Ende der Show.

      Die Leute fragen sich, ob Kurt in Ordnung ist. Das ist keine Show-Einlage, denn dann wäre die Bühne gepolstert gewesen. Vielleicht zieht Kurt eine Nummer ab wie ein Grundschulkind, das seine Nase zum Bluten bringt und sich das Blut dann ins Gesicht schmiert, um von einem älteren Schläger verschont zu bleiben – so eine Art „Ich verletzte mich lieber selber, bevor du es tust“ –, und das von dem Kerl, der das Konzert mit einem Lied namens „Rape Me“ („Vergewaltige mich“) eröffnet hat. Vielleicht ist es auch eine Hommage an zwei der Lieblingsstuntmänner Kurts: Evel Knievel und Iggy Pop. Oder ist er so aufgewühlt von der Musik, dass er unempfindlich für jeden körperlichen Schmerz ist wie ein aufgeputschter Swami, der über heiße Kohlen gehen kann? – Nach dem atemlosen und vor Begeisterung strahlenden Publikum zu urteilen, scheint Letzteres am ehesten zuzutreffen.

      Nachher feiert der ganze Tross den triumphalen Auftritt im Innenhof des schicken Phoenix-Motels – alle außer Kurt und Courtney, die sich in ein elegantes Hotel auf der anderen Seite der Stadt zurückgezogen haben. Das Phoenix ist mit einigen bösen Erinnerungen für sie verknüpft, sagt Courtney. Außerdem sind die Badetücher zu klein. Aber auch ohne die beiden hat sich der Ort in ein kleines Nirvana-Dorf verwandelt. Dave und seine Mutter und seine Schwester sind da, Chris und Shelli, außerdem der immer lächelnde Gitarrentechniker Ernie Bailey mit seiner Frau Brenda, Tourmanager Alex Macleod, Licht-Designerin Suzanne Sasic, Leute vom Gold Mountain Management, Mark Kates von Geffen/DGC, sogar zufällig in der Stadt weilende Mitglieder von Love Battery aus Seattle. Chris besorgt aus dem nächsten Supermarkt eine Menge Bier, und die Party dauert bis in die frühen Morgenstunden.

      Am nächsten Tag pilgert Chris zum City Lights Bookstore, dem sagenumwobenen Denkmal aus der Beat-Ära. Er geht zu einem Bankomaten. Dort steht ein Obdachloser und verkündet: „Gute Neuigkeiten, Leute! Wir freuen uns mitteilen zu können, dass wir zu Ostern auch 20-Dollar-Noten annehmen!“ Chris gibt ihm eine.

      Die Show im Cow Palace war ein Triumph. Sie war ein weiterer Beweis dafür, dass eine Punkrock-Band, die den Mainstream-Jackpot geknackt hatte, nicht nur einen Zufallstreffer gelandet hatte. Dieser Erfolg würde Auswirkungen haben, nicht nur für die Band selbst, sondern für alle Bands, die so wie sie waren, vielleicht sogar für das kulturelle Leben ganz allgemein. So sagte etwa Kim Gordon von Sonic Youth: „Wenn eine Band wie Nirvana aus dem Underground ganz nach oben kommt, dann drückt das eine echte Bewegung in der Kultur aus. Das ist nicht nur eine kommerzielle Angelegenheit.“

      Was sich da in der Kultur bewegte, spiegelte sich nicht nur im Klang der Musik wider. Mindestens genauso wichtig war die Geschichte, wie diese Art Musik populär werden konnte. Das Phänomen Punkrock hat praktisch in dem Moment begonnen, als Johnny Ramone die erste Gitarrensaite anschlug. Er hat damit eineinhalb Jahrzehnte harter Arbeit von zahllosen Bands, unabhängigen Plattenfirmen, Radiosendern, Magazinen und Fanzines inspiriert. Kleine Schallplattenläden hatten sich in der Folge bemüht, eine Alternative zu dem unverbindlichen, herablassenden Mainstream-Rock zu schaffen, der der Öffentlichkeit von den großen Labels, den Mega-Plattenläden, den Radio-Stationen und den vom Starruhm geblendeten landesweiten Rock-Magazinen aufgehalst wurde.

      Der von der Revolution des Punkrock aufgeputschte musikalische Underground baute ein weltweites Netzwerk auf, eine Art Schatten-Musikindustrie. Sie wuchs so lange, bis nicht einmal mehr die größten Anstrengungen der von den Baby Boomern kontrollierten Musikindustrie sie aufhalten konnte. R.E.M. waren die erste Explosion gewesen, später Jane’s Addiction, und dann kam der große Knall: Nevermind wurde über acht Millionen mal verkauft, setzte sich gegen Michael Jackson, U2 und Guns n’ Roses durch und erreichte die Nummer eins der Billboard Charts.

      Damit begann eine neue Zeitrechnung: Alles war ab nun entweder prä- oder post-Nirvana. Radio und Presse begannen, das „Alternative“-Ding ernstzunehmen. Plötzlich änderten die Plattenfirmen ihre Strategien. Anstelle leichtgewichtiger, aber mit großem Aufwand beworbener Pop Acts, die sich zwar zu Beginn schnell verkauften, dann aber in die Bedeutungslosigkeit versanken, waren sie nun auf der Suche nach Verträgen mit Bands mit längerfristigem Potential. Auch die Promotion-Aktivitäten wurden bodenständiger – Schluss mit dem So-lange-Geld-hineinstopfen-bis-sich-etwas-verkauft. Gefragt war nun eine genaue Kopie davon, wie Nirvana ihren Weg gemacht hatten: eine kleine Kerngruppe bodenständiger Medien und Musikfans, deren unbezahlbare Mundpropaganda die Basis der Gruppe zunächst in kleinen Schritten, später dann sprunghaft verbreitert hatte. Ein Minimum an Werbung, einfach gute Musik.

      Der Forscherdrang, den man entwickeln musste, um den Weg durch den Wust der Independent-Musik zu finden, war die Gegenbewegung zum passiven Herdenkonsum. Das war eine ziemlich vertrackte Entwicklung für die großen Plattenfirmen. Diese hatten sich nämlich mit der Zeit angewöhnt, sich bei der Bildung des Publikumsgeschmacks lediglich auf die Macht ihrer Werbedollars zu verlassen. Independent-Musik erforderte unabhängiges Denken, vom Künstler angefangen über den Vertrieb bis hin zu den Käufern. Es ist immerhin um einiges schwieriger, eine neue Single von Calamity Jane aufzuspüren, als auf dem Heimweg schnell die neueste C+C-Music-Factory-CD mitzunehmen.

      1990 war es keinem Rock-Album gelungen, die Nummer eins der allgemeinen Album-Charts zu werden. Das veranlasste einige Experten in der Industrie sogar dazu, das Ende der Rockmusik vorherzusagen. Das Musikpublikum war von den Radio-Programmachern so sehr in einzelne Gruppen zergliedert worden, dass es immer unwahrscheinlicher schien, dass sich genügend Rock-Fans um ein einziges Album scharen würden, um es zur Nummer eins zu machen. Und während Rock immer mehr zu einer luftgetrockneten, zerkochten Pseudo-Rebellion verkam, trafen Strömungen wie Country oder Rap die Stimmungen und Anliegen der Massen viel genauer. Und dann gelang es plötzlich Nevermind, ein Publikum zu vereinigen, das noch nie einig gewesen war – diejenigen zwischen zwanzig und dreißig.

      Diese „Twentysomethings“ wollten eine eigene Musik. Sie hatten genug von alten Knochen wie Genesis und Eric Clapton und wollten auch keine künstlichen Schöpfungen wie Paula Abdul oder Milli Vanilli in den Rachen geschoben bekommen.


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