Krähwinkeltod. Thomas L. Viernau

Читать онлайн книгу.

Krähwinkeltod - Thomas L. Viernau


Скачать книгу
Dorfes stand das Haus Nummer Eins, eigentlich mehr eine Ruine, denn ein Haus. Es war das alte Krähwinkel, das Vorwerk, welches dem Dorf seinen Namen gegeben hatte. Früher musste es einmal ein ansehnliches Gebäude mit Stallungen und einer gemauerten Umzäunung gewesen sein.

      Aus roten Backsteinen erbaut, zweistöckig, mit diversen Anbauten versehen, wirkte es aus der Ferne wie eine kleine Burg.

      Zum alten Krähwinkel gehörte eine Brennerei, die allerdings schon lange nicht mehr funktionierte. Sie stand etwas abseits direkt an der Landstraße, war inzwischen ein dachloses Geviert ohne Fenster und ohne Türen. Nur der große, viereckige Schornstein stand noch unerschütterlich an seinem Fleck, darauf ein großes Storchennest, welches schon verlassen war. Die Störche flogen bereits Anfang September wieder Richtung Afrika.

      Das Hauptgebäude war baupolizeilich gesperrt, Einsturzgefahr.

      Das Dach größtenteils verschwunden, nur das Gebälk gab dem Gebäude noch so etwas wie eine Idee seiner früheren Würde.

      Die Dorfbewohner konnten sich nicht mehr daran erinnern, dass jemals Leute in dem Vorwerk lebten. Man munkelte, dass gleich nach dem Krieg ein paar Flüchtlinge aus Ostpreußen dort gehaust haben sollten. Sie wären aber nicht lange geblieben. Schon damals war das Vorwerk eine Ruine.

      Später erzählte man sich Spukgeschichten über den Bau. Dunkle Gestalten würden darinnen umgehen und es roch auch immer nach Schwefel. Als ob der Teufel höchstpersönlich ein- und ausgehen würde.

      Die vielen Raben, die neuerdings im Dorf gesehen wurden, kämen alle aus dem verfallenen Vorwerk. Dort würden sie nisten und dorthin würden sie sich zurückziehen, wenn wieder einmal ein erboster Dorfbewohner ihnen mit dem Luftgewehr nachstellte.

      Dieses Schicksal sollte die Nummer Sieben nicht erleiden. Zumal die Sieben mitten unter bewohnten Häusern stand. Nebenan die Sechs war auch nur zeitweise bewohnt. Die beiden alten Leutchen, die Baierstedts, waren ins Pflegeheim eingewiesen worden und der Schwiegersohn hatte im fernen Angermünde ein Haus gebaut, kam nur noch ab und an, um nach dem Rechten zu sehen. Im Sommer wollte er das Haus als Ferienwohnung vermieten, aber bisher gab es keinerlei Interessenten. Auf alle Fälle kümmerte er sich um Hof und Garten. Die Sechs machte daher auch nicht den verwahrlosten Eindruck, den inzwischen die Sieben bot.

      Linthdorf hatte den Plan der Siedlung vor sich ausgebreitet. Alle Grundstücke waren fein säuberlich nummeriert und mit ihren Besitzern beschriftet. Daneben lag die ausgedruckte Liste der Bewohner des Dorfes. Schwertfeger hatte ihm gleich am Morgen die Liste mit einem schuldbewussten Gesicht ausgehändigt. Daraufhin war der Kommissar losgefahren. Allein.

      Den Weg kannte er nun. Kurz nach Zehn traf er mit seinem SuV im Dorf ein, parkte den Wagen hinter der verlassenen Brennerei und holte den Plan hervor.

      Er studierte den Plan, verglich immer wieder die Anwesen auf dem Papier mit denen der Wirklichkeit. Langsam entstand ein Bild des Dorfes in seinem Kopf. Die Menschen, die es bevölkerten, bekamen einen Platz zugewiesen, wurden von Linthdorf mit den entsprechenden Häusern, Autos und Gärten zu lebendigen Personen. Wo sollte er anfangen?

      Die Leiche war am Ausgang des Dorfes gleich hinter dem Ortsschild gefunden worden. Das nächstgelegene Grundstück war die Nummer Zwölf. Linthdorf überprüfte in seiner Liste, wer dort wohnte. Herbert Golm, Lehrer, sechsundsechzig Jahre, pensioniert. Die meisten Leute des Dorfes waren Rentner.

      Linthdorf kannte das Problem. Brandenburgs ländliche Regionen waren tickende Zeitbomben. Die biologische Uhr lief gnadenlos ab. Nach der Wende hatte sich eine ganze Generation aufgemacht, ihr Glück im Westen zu suchen. Zurück blieben neben den Alten die damals Fünfzigjährigen, die an ihrem Besitz hingen und die beruflich keine größeren Ambitionen mehr hatten.

      Achtzehn Jahre nach der Wende waren die Alten von damals bereits tot und die Zurückgebliebenen ins Rentenalter gekommen. Händeringend suchten die Agrargenossenschaften inzwischen Nachwuchs. Die fehlende Generation der jetzt Vierzigjährigen hätte eigentlich den Staffelstab übernehmen sollen, aber die war einfach nicht mehr da.

      Die Überalterung brachte große Probleme mit sich. Immer mehr Häuser standen zum Verkauf, immer mehr Dörfer wurden zu Geisterdörfern. Ein Prozess, der unumkehrbar war. Denn neben der verlorengegangenen Generation der Vierzigjährigen fehlte natürlich auch deren Nachwuchs.

      Nur selten siedelten sich hier im Niemandsland Großstadtflüchter an. Die bevorzugten den Berliner Speckgürtel mit seiner guten Infrastruktur und der Nähe zur Metropole.

      Also Golm, ein Lehrer. Linthdorf klingelte nun schon das dritte Mal. Endlich kam Bewegung. Eine Tür wurde geöffnet.

      Vor Linthorf stand ein älterer Herr in bequemer Strickjacke und mit einer Pfeife zwischen den Zähnen, auf der er genüsslich herumkaute. Wie er da so stand, hätte er gut und gerne auch als Mittfünfziger durchgehen können. Wache Augen, ein federnder Gang und braungebrannt, wie gerade aus dem Urlaub gekommen. So präsentierte sich Herbert Golm dem Kommissar.

      »Was gibt’s?«

      Er ließ sich nicht anmerken, dass er überrascht war von dem Besuch. Seine Augen musterten Linthdorf, als ob er ein Staubsaugervertreter sei. Erst als der sich vorstellte und seinen Dienstausweis hervorholte, änderte sich der misstrauische Gesichtsausdruck.

      »Kommen Sie herein.«

      Das Haus Nummer Zwölf war ein Neubau aus den sechziger Jahren. Der Rauputz hatte inzwischen eine solide Graufärbung angenommen. Die Fenster waren allesamt frisch gestrichen, der kleine Garten machte einen gepflegten Eindruck.

      Eine Garage war erst später angebaut worden. Sie wirkte seltsam fremd in der genügsamen Wohnwelt der Nummer Zwölf. Sie war blendend weiß gestrichen, hatte ein futuristisches Aussehen und wirkte ein bisschen protzig.

      Golm führte seinen Gast in ein geräumiges Wohnzimmer, das mit Bücherregalen vollgestellt war. Ein großer schwarzer Ledersessel verriet, dass der Besitzer genau hier die meiste Zeit verbrachte. Direkt neben dem Sessel lagen auf einem Beistelltisch ein paar aufgeklappte Bücher, eine Kaffeetasse stand ebenfalls in Griffweite und der Aschenbecher für den Pfeifentabak.

      Golm nahm in seinem Sessel Platz, bot Linthdorf einen bequemen Polsterstuhl an, der zu dem runden Tisch gehörte, der sich in der Mitte des Zimmers befand.

      Zwei große Fenster ließen genügend Licht in das Zimmer fallen, so dass man ohne Probleme tagsüber lesen konnte. Golm war Junggeselle. Er lebte hier seit seiner Kindheit. Seine Eltern waren vor über zwanzig Jahren gestorben. Sie hatten damals in den frühen Sechzigern das Haus erbaut. Er hatte studiert, war verbeamteter Lehrer am Gymnasium in Wittstock und seit einem Jahr pensioniert.

      Linthdorf konnte mit einem Blick auf die Bücherwand sofort erkennen, welche Fachgebiete Golm unterrichtete. Es war unschwer zu erraten, überall standen Bücher zu physikalischen und astronomischen Themen herum. Auch auf dem Tisch lag ein dicker Wälzer, der sich mit der Stringtheorie beschäftigte. Gleich daneben ein Büchlein über die exotische Welt der Quanten, der kleinsten Bestandteile einer unsichtbaren Welt, des Mikrokosmos.

      »Sie ahnen sicherlich, weshalb ich hier bin. Es geht um den Toten, der unweit Ihres Hauses im Straßengraben gefunden wurde.«

      Golm nickte bedächtig. Natürlich hatte er am Sonnabend den Aufmarsch der Polizeikarawane gesehen. Von seinem Küchenfenster aus hatte er einen direkten Blick auf die Landstraße.

      Schnell hatte es sich im Dorf herumgesprochen, dass der Tote ein junger Bursche gewesen war, den keiner zu kennen schien. Er hatte keinen Blick auf den Toten geworfen. Es war ja auch alles abgesperrt. Und zu den Gaffern wollte er sich nicht stellen.

      Ob er in der letzten Woche etwas Ungewöhnliches bemerkt habe? Fremde Leute? Oder fremde Autos, die im Ort parkten?

      Golm zuckte mit den Schultern, er ging nicht oft im Dorf spazieren. Wohin auch? Innerhalb von fünf Minuten war man am anderen Ende angekommen. Meist lagen die paar Häuser verlassen und still da. Er hatte wenig Kontakt zu den Leuten, galt ein bisschen als Sonderling, der sich mit Dingen beschäftigte, die den meisten Dorfleuten suspekt waren. Er wurde auch der Sternengucker genannt.

      Da


Скачать книгу