Die Frauen meines Lebens. Petra Nikolic

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Die Frauen meines Lebens - Petra Nikolic


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antwortete ich, weil ich ihre Illusion nicht zerstören wollte.

      So trug ich ihr Geheimnis mit mir wie einen schweren Koffer, den man hinter sich herzieht. Clarissa hatte sich mir anvertraut – sie hatte mir unbedingtes Vertrauen entgegengebracht, das ich nicht enttäuschen konnte. Ich durfte mit niemanden darüber sprechen, auch nicht mit ihrer Mutter. Ihr wäre es bestimmt peinlich, dass mir Clarissa alles erzählt hat. Am Ende würde sie vielleicht auch nicht mehr wollen, dass ich ihrer Tochter weiter Nachhilfeunterricht gab und sie mir dabei vielleicht noch mehr „Familiengeheimnisse“ verraten würde. Mir blieb nichts anderes übrig, als über alles zu schweigen. Ich blickte als Fremde in eine andere Welt und diese Welt hatte ihre eigenen Regeln.

      Mit völlig neuen Gefühlen betrat ich jetzt die Wohnung in dem Hochhaus. Mir kam sie nicht mehr wie ein Bollwerk gegen die Gewalt von außen, sondern von innen vor. Die vielen Tierfiguren und Porzellanpüppchen – wirkten sie nicht wie der Versuch, Ordnung und Struktur in einem chaotischen Leben aufrecht zu halten?

      Eines Abends klingelte es spät an meiner Tür. Als ich öffnete, stand eine frierende und zitternde Clarissa vor mir. Ihre Eltern hatten sich wieder gestritten und sie war davongelaufen. Allein, mitten in einer Regennacht. Ich wickelte sie in eine Decke und ging in die Küche, um eine heiße Schokolade zu kochen. Während ich die Milch auf der Herdplatte erwärmte, dachte ich mit Schrecken daran, dass dieses neunjährige Mädchen ganz allein mit Bus und U-Bahn durch Frankfurt gefahren war. Ich rief ihre Mutter an, da ich mir vorstellen konnte, dass sie sich bereits Sorgen um Clarissa machte. Ich erzählte ihr, dass Clarissa zu mir gefahren sei, um sich ein Buch abzuholen, das sie für die Schule am nächsten Tag brauchte. Es sei jetzt schon zu spät, um nach Hause zu fahren, deshalb würde ich sie bis morgen bei mir behalten. Nur zögerlich willigte sie ein.

      Wir legten uns zusammen in das schmale Bett. Sie schmiegte sich an mich. Bevor sie einschlief, fragte sie mich: „Hast du einen Freund?“

      „Ja.“

      „Streitet ihr euch auch?“

      „Nicht oft, aber manchmal schon.“

      Mit dieser Antwort schien sie zufrieden zu sein. Es war nicht viel, aber es genügte doch, um in der Dunkelheit vertrauensvoll die Augen zu schließen. Sie schlief schnell ein. Ich konnte in dieser Nacht keinen Schlaf finden, denn ich grübelte die ganze Zeit über ihre Frage. Hatte ich ihr die richtigen Antworten gegeben? Hätte ich ihr nicht besser antworten sollen, dass es nicht normal war, wenn sich ihre Eltern ständig stritten und schon gar nicht, dass ihr Vater ihre Mutter schlug? Wie hätte Clarissa mit dieser Antwort weiterleben können? Ihr Vertrauen in das Leben wäre zerstört gewesen. So lebte sie in der Zuversicht, dass diese schlechten Tage und Nächte Teil des Lebens waren und es nach einer düsteren Nacht immer wieder einen hellen strahlenden Tag gab. Es gehörte für sie zum Rhythmus der Welt, so wie es ein Wechsel zwischen Tag und Nacht, Sonnenlicht und Regen, Frühjahr und Herbst gab. Die Hoffnung hatte die Angst überwunden.

      Ihre Eltern schienen sich trotz allem zu lieben, und ich war auch sicher, dass ihr Vater Clarissa niemals schlug. Ich hatte ihre Mutter seit dem Tag, als ich mich vorstellte, nie wieder gesehen. Ich wusste nicht, wie sehr ihr Mann sie schlug, aber wenn sie als Verkäuferin arbeitete, dann konnten schlimmere Verletzungen nicht unentdeckt bleiben. Lange schaute ich in dieser Nacht auf den kleinen, zerbrechlichen Körper neben mir, der so vieles zu tragen hatte. Am nächsten Morgen war sie wieder fröhlich und freute sich, dass ich sie mit dem Auto in die Schule fuhr.

      Langsam begann ich, das Leben mit Clarissas Augen zu sehen. Es war viel einfacher, mit der Gewissheit zu leben, dass alles einen Plan und seinen Sinn im Leben hatte und dass kein Schmerz so groß sein konnte, als dass er nicht zu überwinden gewesen wäre. Auch wenn sich die Ereignisse manchmal wie ein Schatten über ihr Leben legten, so konnte sie sich doch an unendlich vielen Dingen erfreuen. Sie empfand noch die Faszination für das Kleine, die uns Erwachsenen verloren geht. Für sie bestand das Leben aus einer Reihe von kleinen Wundern: der Grashüpfer auf einer Blume, das verlassene Schneckenhaus am Straßenrand, ein schillernder Regenbogen nach einem Wolkenbruch. Allen Dingen schenkte sie ihre Aufmerksamkeit. Unzählige Male hatte sie Werden und Vergehen in der Natur erlebt, war tief eingetaucht in den Fluss des Lebens und immer wieder ans Ufer gelangt. Daraus hatte sie Hoffnung und Kraft geschöpft.

      Wenn ich mit ihr im Treppenhaus stand und wir auf den Aufzug warteten, dann bot sich mir ein Bild, in dem der ganze Widerspruch des Lebens lag. Dieses zarte, engelsgleiche Kind mit dem rosa Blümchenkleid vor einer Wand mit den übelsten Schmierereien – wovon das Wort „fuck“ noch das harmloseste war. Ich schaute in ihre Augen und wusste, dass ihr das alles nichts anhaben konnte.

      Unsere Tage bekamen ihren eigenen Rhythmus. Sobald wir mit den Hausaufgaben fertig waren, liefen wir schnell nach draußen, durchstreiften die Wiese, um Klee und Löwenzahn für Mariechen zu pflücken oder wir fuhren mit den Fahrrädern durch die Weizenfelder nach Steinbach. Dort gab es Streuobstwiesen, Bauernhöfe und Pferdekoppeln. Clarissa liebte alles, was sich auf vier Beinen bewegte und Fell hatte. Eines Tages verriet sie mir, dass es ihr sehnlichster Wunsch war, Tierärztin zu werden.

      Zwei Jahre lang nahm ich Nachhilfe bei Clarissa. Ich lernte Lebensmut, Vertrauen und Tapferkeit. Dann trennten sich unsere Wege. Ich hatte mein Studium abgeschlossen und meine erste Arbeitsstelle lag in einer anderen Stadt. Als ich mich von Clarissa verabschiedete, wusste ich, dass es ein Abschied für immer war. Mein Job als Nachhilfelehrerin war beendet. Ich konnte nicht einfach wieder auftauchen und an ihrer Tür klingeln. Ihre Mutter ahnte nichts von dem unsichtbaren Band, das sich zwischen uns gesponnen hatte. Es gibt viele Bilder, die mir nach den zwei Jahren mit Clarissa noch in Erinnerung bleiben würden.

      Clarissa schenkte mir zum Abschied ein rotes Herz aus Krepppapier, das eine kleine Öffnung mit einer Tür hatte. Als ich die Tür öffnete, entdeckte ich dahinter einen Glückskäfer aus Schokolade. Der Abschied fiel mir schwer, auch wenn ich wusste, dass ich mir um meine kleine Philosophin keine Sorgen zu machen brauchte. Eines Tages würde sie mit ihrem Glauben an den richtigen Weg die Situation zu Hause ändern können, da war ich mir ganz sicher. So wie sie mein Herz geöffnet hatte, konnte sie auch das ihrer Eltern öffnen. Alles würde sich zum Guten wenden. Clarissa spürte, dass die Welt voller unentdeckter Reichtümer steckte. Irgendwann würde ein neuer Kontinent entstehen. Dorthin würde sie dann reisen, wo niemand nach ihrer Vergangenheit fragte. Dort, wo es keine Geschichten gab, würde sie den Anfang machen und eine neue Geschichte erzählen und dabei würde sich alles, was ihre Kindheit überschattet hatte, auflösen und verschwinden. Sie hatte Vertrauen zum Leben und wusste, dass es sie tragen würde. Nach meiner letzten Nachhilfestunde stand ein hübsches Mädchen mit selbstsicherem Blick an der Tür und winkte mir zum Abschied. Es war nicht das Ende der Geschichte, sondern der Anfang von etwas Neuem.

      Ich hatte also keine Angst um ihre Zukunft. Und doch dachte ich immer wieder an Clarissa. Als ich eines Tages, viele Jahre später, wieder auf Verwandtenbesuch in Frankfurt war, hielt ich es nicht mehr aus. Ich fuhr in die Nordweststadt zu ihrem Hochhaus. Als Erstes fiel mir auf, dass der Spielplatz verschwunden war. An seiner Stelle stand ein mehrstöckiges Parkhaus für die Besucher der nahe gelegenen Klinik. Die Fassade des Hochhauses war jetzt schwarz vom Schmutz der Stadt. Viele Fenster hatten keine Vorhänge und starrten wie tote Augen in die Welt.

      Ein alter Mann kehrte vor der Haustür das welke Laub zusammen. Ich erkundigte mich nach Clarissa und ihrer Familie. Er zuckte teilnahmslos die Schultern. Ich deutete auf das Parkhaus und fragte ihn: „Wo spielen die Kinder jetzt?“ „Es gibt hier fast keine Kinder mehr. Die meisten Mieter mit Kindern bleiben nur wenige Monate, dann ziehen sie in eine bessere Gegend. Schauen Sie mal hier unten die Wohnungen. Sie haben die Mauer vom Parkhaus direkt vor dem Fenster. Es kommt kein Licht und es kommt keine Sonne mehr in die Wohnungen. Die Miete haben sie schon heruntergesetzt, aber trotzdem will hier keiner einziehen.“

      Ich ging ins Haus und fuhr in den obersten Stock hoch. Dann stellte ich mich ans Fenster und schaute auf die Felder nach Steinbach. In der Ferne konnte ich Pferde erkennen, die wild und ausgelassen über eine Koppel sprangen. Wenn ich mich anstrengte und den Blick ganz fest auf die Koppel richtete, dann konnte ich am Horizont auch ein Mädchen mit langen dunklen Haaren erkennen.

      Конец


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