Die Unsterblichen. Anne Boyer
Читать онлайн книгу.zufallenden Macht ab heute die Bildgeblinge zu nennen. »Kommen Sie mit einer vollen Blase«, sagen die Radiologietechniker:innen am Telefon zu den Bildgeblingen, sie wollen in unser interessantes Inneres sehen. Derselbe Ultraschall, der ein neues Leben in einer Gebärmutter finden kann, kann darin auch embryonischen Tod finden.
Wir werden krank und unsere Krankheit fällt unter die harte Hand der Wissenschaft, fällt auf Objektträger souveräner Mikroskope, fällt in süße Lügen, fällt in Mitleid und PR, fällt in neue Browserfenster und neue Bücher im Regal. Und dann ist da dieser Körper (mein Körper), der kein Gefühl für Unbestimmtheit hat, ein Leben, das aufbricht unter der fremden Terminologie der Onkologie, dann in den Riss dieser Sprache hinein, fällt.
Es gibt Menschen, die sich in ihren Körpern unwohl fühlen und nichts tun, und es gibt Menschen, die sich in ihren Körpern unwohl fühlen und ihre Symptome in Suchmaschinen eingeben und nichts weiter. Dann gibt es Menschen, die es sich leisten können, das, was wehtut, unter Expert:innen herumzureichen, die mit Diagnoseangeboten wetteifern. Diese Gruppe von Menschen verfolgt eine Reihe Symptome auf ein Versprechen hin, fragt nach Tests, bezweifelt Antworten, nimmt weite Strecken in Kauf, um Spezialist:innen zu konsultieren, die vielleicht erkennen können, was los ist.
Wenn Symptome lange genug herumgereicht werden, wird einer Schar Beschwerden vielleicht die Gnade eines Namens zuteil: eine Krankheit, ein Syndrom, eine Empfindlichkeit, ein Suchbegriff. Manchmal ist das Heilung genug – als genügte es, sich berufen zu können, um etwas wieder gut zu machen. Jemandem ein Wort zu geben, um sein:ihr Leiden zu bezeichnen, ist manchmal die einzige Behandlung dafür.
In einer Welt, wo sich so viele Menschen so unwohl fühlen, gibt es einen geläufigen vagen Zustand des Sich-krank-Fühlens, der zumindest die Mitgliedschaft in einer Gemeinschaft der Nichtnäher-Bezeichneten gewährt. Beschwerden ohne Diagnose formen eine Gefühlslandschaft aus undefinierten Schmerzen und körperlichen Gebrechen, die von keiner Kategorie Krankheit in Zaum gehalten werden. Die Art von Krankheit, die keinen Namen hat, ist die Art, die in der Schwebe gehalten wird oder im Geläufigen oder abgeschoben in eine Nachbarschaft zur Psychiatrie.
Ein Körper, der unter unerklärlichen Beschwerden leidet, zeigt sich der Medizin in der Hoffnung auf ein Vokabular, um von seinem Leiden zu sprechen. Wenn diesem Leiden keine hinreichende Sprache entgegengebracht wird, müssen die daran Leidenden gemeinsam eine erfinden. Solche Kranken ohne Diagnose haben eine Literatur namenloser Krankheiten hervorgebracht, eine Poesie sogar, und ein Narrativ ihrer Suche nach Antworten. Als Reaktion auf das, woran Medizin versagt, hecken sie Diäten aus, probieren Einschränkungen ihres Lebensstils, und in diesem Mix aus Ernährungskuren, regulierender Schonung und rotierenden Arztkontrollen vagabundieren Gesundheit und Krankheit aus dem Gebiet der Medizin, widerstehen Leiden wie Heilung.
Krebs dagegen taucht selten ohne Ankündigung auf. Krebs wirbelt herein in einer Welle von Spezialist:innen und Spezialtechnologie. Er erreicht uns durch Kontrolle und Erklärung. Unsere Sinne sagen uns fast nichts über unsere Krankheit, aber die Ärzt:innen verlangen von uns zu glauben, dass das, was wir weder sehen noch fühlen können, uns umbringen kann, und so glauben wir.
»Sie erzählen mir«, sagte ein alter Mann im Infusionszimmer der Chemotherapie zu mir, »dass ich Krebs habe, aber«, er flüsterte jetzt, »ich habe da so meine Zweifel.«
Doch wir wussten, dass etwas nicht stimmte, dass die Welt (katastrophal) nicht stimmte, dass wir (katastrophal) nicht stimmten, dass etwas (irgendetwas) überall katastrophal nicht stimmte.
Wir waren krank im Glanz völliger Gesundheit und völlig gesund in einer krank machenden Welt.
Wir waren einsam und doch unfähig, die notwendigen Bindungen einzugehen, um unsere Einsamkeit zu überwinden.
Wir waren überarbeitet, doch unsere Arbeit berauschte uns.
Ich dachte, ich sei (in gewisser Hinsicht) krank geworden, dass mir (in gewissem Sinn) unwohl sei, dass ich kollabierte in einem Anfall faustischen Größenwahns inmitten einer Welt aus Teufelspakten.
2.
Aelius Aristides, ein griechischer Rhetor, geboren zur Zeit Kaiser Hadrians, versuchte seine Krankheit dadurch zu heilen, dass er auf Äskulap, dem Gott der Heilkunst, geweihtem Boden schlief und den Einsagungen seiner Träume folgte. Aristides, der mit 26 Jahren erkrankte, lebte jahrelang unter den Tempelschläfer:innen im Äskulaptempel in Pergamon. Die Kranken warteten dort auf göttliche Weisungen, die sich ihnen im Schlaf offenbarten, und folgten ihnen, wenn sie erwachten. Heute schlafen wir in heiligen Stätten, deren Götter wir vergessen haben, mit Statistik als unserer heimlichen Mystik.
Unser Jahrhundert glänzt mit der Erzeugung von Alpträumen und versagt bei der Deutung von Träumen. Im Schlaf breche ich zusammen mit einem Onkologen, der meinen Kleidungsstil lobte, bei Whole Foods am Lake Merritt in Oakland ein. Oder Madonna besucht zwei meiner Seminare mit nackten Brüsten. Ich habe in einem Dorf zu tun und schleppe zu viel Ausrüstung mit, Prominente sind da, aber ich erinnere mich nicht, wer. Ich gerate in eine Diskussion über Gott und die Welt und ein Mann, mit dem ich diskutiere, schickt mir eine Nachricht: »Ich rätsele noch, aus welchem Zentrum du kommst.«
Jemand mit frischer Diagnose und Internetzugang wird zum:zur Informationstempelschläfer:in. Prognosen suchen uns heim wie ein niederer Gott. Wir verbringen den Tag in den Abgrund des Bildschirms starrend, die schiere Menge beklemmt, versuchen durch die Stäbe aus Diagrammen zu atmen, den Kopf voll mit Stichprobenumfang und Überlebenskurven, die Augen schwer, der Körper ehrfürchtig vor der Mathematik.
Der frisch gelegte Chemoport schmerzt. Die Schwestern erzählen mir, wenn man jung ist, schmerzen Chemoports mehr. Sie erzählen mir, dass alles an Krebs, wenn man jung ist, scheinbar mehr schmerzt. Ich widerstehe Baden und Körperpflege, höre auf, mich frei zu bewegen. An die anderen Körperteile denke ich nicht, daran, zu was sie weiterhin fähig sind, denn der eine, der schmerzt, blendet die anderen aus dem Bewusstsein aus. Jemand schickt mir einen Link zu einem Krebsheilmittel aus Backsoda. Eine ehemalige Studentin fragt mich per E-Mail, ob ich Saftfasten kenne.
Aelius Aristides schreibt sein Buch über die ihm von Äskulap gesandten Träume, Hieroi Logoi, in den frühen 170er-Jahren, viele Jahre nach seiner Erkrankung und während der bangen späten Regierungszeit Marc Aurels.2 Äskulap war, heißt es, der Sohn einer Sterblichen und Appollons, der von einem Zentaur aufgezogen und in der Heilkunst unterrichtet wurde. In einer Version der Geschichte ist Äskulap ein so erfolgreicher Arzt, dass Hades ihn aus Angst vor einer leeren Unterwelt töten lässt. Hieroi Logoi ist aber nicht nur ein Protokoll seiner Orakelträume, sondern auch ein autobiografischer Bericht darüber, was es heißt, einen Körper zu haben, an einem bestimmten Ort, zu einer bestimmten Zeit. Heilige Träumer:innen trugen Papyrus in den Inkubationsraum: Römer:innen, scheint es, hatten Träume, um sie aufschreiben zu können. Aristides gibt an, in seinem Traumtagebuch, das ihm als Rohmaterial für sein Buch dient, über 300.000 Zeilen aufgezeichnet zu haben. Gelehrte nennen das Tagebuch, das wir nie werden lesen können, später »die verworfene Art«, eine Geschichte zu erzählen.3
Auch das Tibetische Totenbuch enthält Weisungen, wie man Träume als prognostische Botschaften deuten kann. Seine Autor:innen prophezeien den Tod, wenn man träumt, von Krähen oder gepeinigten Geistern umgeben zu sein, von einer Horde Toter mitgeschleift zu werden, nackt zu sein mit abgeschnittenem Haar. Durch die Krebsbehandlung bin ich oft halb nackt und ohne Haar. Auf PubMed suche ich unterdessen nach Indizien für meine verbleibende Lebenszeit, und je mehr ich lese, desto mehr überkommt mich die Angst, irgendwo unterwegs zu sterben, während einer dieser teuren und teuflischen Therapien, dann wechseln sich über Stunden Statistiken mit Online-Shopping und Perückenrezensionen ab – alles unbefriedigend. Ich stelle mir Unmengen künstliches Zeug an mir vor, dann Unmengen anderes künstliches Zeug in mir, dann Unmengen mir noch bevorstehendes künstliches Zeug, dann weitere Unmengen künstliches Zeug, das sich bildet, dann wieder andere Unmengen künstliches Zeug, das sich zurückbildet.
Der griechische Arzt Galen schrieb, Aristides habe zu jenem seltenen Typ Mensch gehört, der eine starke Seele, aber einen schwachen Körper hat. Aristides schrieb, lehrte und redete weiter,