Schicksalspirouetten (Gesamtausgabe). August Schrader

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Schicksalspirouetten (Gesamtausgabe) - August Schrader


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Richard wie begeistert. »Haben Sie die himmlisch schönen Züge gesehen?«

      »Ja«, antwortete Wilibald.

      »Die göttlichen Augen, in denen die Engelsseele des Mädchens lag?«

      »Ja.«

      »Und die schöne weiße Stirn, den Sitz der Unschuld und Tugend?«

      »Ja.«

      »Und das braune Lockenhaar, das wie Wellen das reizendste Gesicht der Erde umspielte?«

      »Richard«, sprach der Alte lächelnd, »dies alles haben Sie mit einem Blick wahrgenommen? Denn soviel ich weiß, haben Sie nicht mehr als einen Blick auf die Jungfrau gerichtet.«

      »Es ist wahr«, antwortete Richard mit leuchtenden Augen, »nur einen Blick, aber er traf das Ideal meiner Träume, meiner Dichtungen; ich sah das Madonnenköpfchen nicht zum ersten Mal!«

      »Wie mir scheint, wird Ihnen das aufgetragene Geburtstagsgedicht gelingen, denn der erforderliche Grad von Inspiration ist vorhanden.«

      »Noch heute gehe ich an die Arbeit!«

      »O mein Gott«, seufzte der Greis leise vor sich hin, indem er an das offene Fenster trat, »auch ich war einst so glücklich, von einem Ideal begeistert zu sein; die feuchten Mauern des Kerkers verlöschten aber das Feuer des Jünglings, der geträumte Himmel wurde durch die Wahrheit der Hölle zertrümmert und ich erwachte, um lebendig unter dem Elend der Erde begraben zu werden.«

      Richard saß wie träumend auf dem Stuhl, auf dem zuvor Anna gesessen hatte; er schien alles um sich her vergessen zu haben und bemerkte darum den alten Wilibald nicht, der mit düsteren Blicken in die Wolken hinausstarrte. Der junge Mann schwärmte in der Gegenwart, der Greis gedachte mit einem bitteren Gefühl der Vergangenheit.

      »Junger Freund«, begann Wilibald plötzlich, als ob er seine Gedanken redend fortsetzte, »steigen Sie herab aus Ihrem Himmel und kehren Sie zur Erde zurück, denn sie erschließt Ihnen eine hoffnungsreiche Zukunft. Der Alb, der die Geister drückte, ist verjagt und mit ihm die Finsternis, die uns umfangen hielt, uns, die wir jetzt Greise sind. Wir durften nur das zu hoffen wagen, was nicht außer dem Bereich der Knechtschaft lag und die künstlich gestalteten Verhältnisse erlaubten; Ihnen aber ist das Geschick in die Hand gelegt, der Geist darf sich eine Bahn brechen und frei nach seinem Ideal ringen. Darum Mut, mein Freund, und gehören Sie der Erde an, die im ersten Morgenrot der jungen Freiheit zittert. Der Träumer ist ein Verräter an sich selbst!«

      »Würdiger Freund«, rief Richard, »Sie haben recht! Meine Mutter, meine arme Mutter wurde ein Opfer der Verhältnisse, ich will es nicht werden! Noch bin ich jung, noch sind Körper und Geist voller Kraft, sich diesen Verhältnissen entgegenzustemmen, sie zu überwinden und eigene zu schaffen. Mein Mut und meine Überwindung sollen meine Mutter rächen!«

      »Ihre Hand, Richard«, sprach Herr Wilibald zufrieden lächelnd; »ich sehe, Sie haben mich verstanden!«

      »Zwar bin ich arm«, fuhr der junge Mann fort und seine Augen wurden trübe, »so arm, dass ich oft mit Entbehrungen zu kämpfen habe, doch seit Sie mich gelehrt haben, mich selbst zu erkennen, fühle ich mich wie ein Krösus. Die Schätze, die mir der Himmel verliehen hat, kann mir niemand rauben; durch sie will ich meiner armen Mutter das Alter zu verschönern suchen!«

      »Brav, Richard«, sprach der Greis, »Sie sind ein guter, wackerer Sohn! Wie werden Sie das Gedicht fertigen?«, fügte er betonend hinzu.

      »Als ob ich es für meinen eigenen Vater schriebe.«

      »Der Himmel stärke Sie in Ihrem Vorsatz. Jetzt gehen Sie zu Ihrer Mutter!«

      Mit einem herzlichen Handschlag schieden die beiden Männer. Richard ging in das Zimmer seiner Mutter, die er zu seiner Freude außerhalb des Bettes antraf, und der greise Wilibald setzte sich, nachdem er seine Tür verschlossen hatte, wieder an seine Arbeit.

      Im Haus des Herrn Hubertus herrschte bereits vollkommene Ruhe, der Haupteingang des Vordergebäudes war geschlossen und die große Laterne im Hof ausgelöscht; nur in dem Kontor des Erdgeschosses, dessen Fenster zum Hof hinausgingen, flimmerte noch ein Licht. Franz, der erste Kommis und Geschäftsführer des Fabrikherrn, saß hier an seinem Pult und arbeitete. Die großen Register und Rechnungsbücher waren beiseite geschoben; statt ihrer hatte der junge Mann eine französische Grammatik vor sich, die seine ganze Aufmerksamkeit fesselte.

      Die Stille, die in dem großen gewölbten Zimmer herrschte, wurde plötzlich durch das Eintreten eines alten Mannes unterbrochen: Es war Kaleb, der alte bewährte Kassierer des Herrn Hubertus, der sich zur Ruhe begeben wollte und vorher, seiner Gewohnheit gemäß, noch einmal die Runde durch die Geschäftszimmer machte, um sich zu überzeugen, dass die Fensterläden und Büros ordentlich verschlossen waren. Erstaunt blieb der alte Diener an der Tür stehen, als er den fleißigen Arbeiter sah. Dieser schien den Eingetretenen nicht bemerkt zu haben, denn er wandte keinen Blick von seinem Buch ab und fuhr in seinem Studium ruhig fort.

      »Wie, Herr Franz«, sprach Kaleb näher tretend, »es ist elf Uhr in der Nacht und Sie arbeiten noch? Ei, ei, was haben Sie denn für eine wichtige Arbeit? Kann ich helfen?«

      »Sie sind es«, antwortete der junge Mann lächelnd, indem er aufblickte und dem Fragenden die Hand reichte.

      »Ich will nicht stören«, fuhr der Greis fort, »ich werde mich sogleich zur Ruhe begeben, denn morgen muss ich eine Stunde früher aufstehen, um die Vorbereitungen für Herrn Hubertus’ Geburtstag zu treffen. Doch auch Sie sollten dies bedenken und Ihre Arbeit für heute beenden.«

      »Der Geburtstag des Herrn Hubertus ist es eben, lieber Kaleb, der mich noch wach hält. Ich habe bis jetzt für Fräulein Anna gearbeitet, die ihren Vater morgen früh durch ein Gedicht überraschen will. Ich repetiere nur noch einige Regeln der französischen Grammatik, dann gehe ich auch zu Bett.«

      »Ein Gedicht!«, rief der greise Kaleb eifrig und rieb sich dabei freudig die Hände, »sind Sie auch Dichter? Ah, ich begreife – die Liebe hat Sie begeistert.«

      »Ach nein«, antwortete Franz seufzend, »ich bin ein höchst prosaischer Mensch; mein ganzes Verdienst besteht darin, dass ich die Verse sauber abgeschrieben habe.«

      »So! Wer aber ist der Dichter?«

      »Ich weiß es nicht. Fräulein Anna bat mich, die Reinschrift zu besorgen, und Sie wissen …«

      »… dass sie sich an den rechten Mann gewendet hat«, fiel Kaleb rasch ein, »denn Sie haben in der Tat eine prachtvolle Handschrift. Ja, ja, man sehe nur unsere Bücher an – eine wahre Musterarbeit; ich freue mich, sooft ich sie in die Hand nehme!«

      »Die schönen Buchstaben und Zahlen nützen aber nicht viel; ich wünschte nur, dass sie unser Geschäft förderten.«

      »Eine richtige und genaue Buchführung fördert stets das Geschäft!«

      »Aber nicht den Absatz der Waren. Wissen Sie, wie die Einnahmen dieses Monats zu den Ausgaben stehen?«

      »Nun«, fragte Kaleb mit befürchtender Miene.

      »Wie eins zu drei! In einigen Tagen ist Monatsende, und immer laufen nur Briefe, aber keine Gelder ein. Dieser Umstand liegt mir wie ein Stein auf dem Herzen; ich wage nicht, ihn Herrn Hubertus, der kaum von seiner schweren Krankheit genesen ist, mitzuteilen, und doch bin ich dazu gezwungen, da ich der Kasse kein Geld überliefern kann.«

      »O mein Gott«, rief Kaleb und der Zorn schwoll die Adern seiner Stirn, »das sind nun die Folgen der Revolution, das sind die Früchte der errungenen Freiheit! Handel und Wandel stocken, kein Mensch will sein Geld hergeben, weil er fürchtet, es selbst gebrauchen zu müssen, einer traut dem andern nicht und die Kapitalisten vergraben ihr Geld, weil sie dem Frieden nicht trauen. Es ist ja ganz natürlich, dass der Geschäftsmann zugrunde gehen muss, da der Kredit fehlt. Ach, mein armer Herr wird von Neuem krank, wenn er diese trostlose Nachricht erhält! Nein, lieber Franz, er darf sie noch nicht erfahren; wir müssen Rat schaffen, um vorderhand die Ausgaben zu decken; vielleicht gehen die Gelder im nächsten Monat ein. Welch eine Schande


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