Ins Weiße zielen. Ricardo Piglia
Читать онлайн книгу.um etwas zu hören?«
»Um durch das Schlüsselloch zu linsen, glaube ich.«
Ein Vertreter wollte gesehen haben, wie Yoshio das Bad im Flur betrat, um sich die Hände zu waschen. Er habe schwarze Kleidung und ein gelbes Halstuch getragen, und die Ärmel an seinem rechten Arm seien bis zu den Ellbogen hochgekrempelt gewesen.
»Und was haben Sie im Bad gemacht?«
»Meine Notdurft verrichtet«, antwortete der Vertreter. »Ich stand mit dem Rücken zu ihm, aber ich konnte ihn deutlich im Spiegel erkennen.«
Ein anderer Gast, ein Viehauktionator aus Pergamino, der regelmäßig im Hotel abstieg, sagte aus, er habe Yoshio gegen zwei Uhr aus dem Badezimmer im dritten Stock kommen und dann aufgeregt – ohne auf den Fahrstuhl zu warten – die Treppe hinunterrennen sehen. Auch eins der Zimmermädchen gab an, sie habe den Japaner etwa um dieselbe Uhrzeit aus dem Zimmer kommen und den Gang durchqueren sehen. Und Prono, ein großer, massiger Typ und früherer Profiboxer, der auf der Suche nach Ruhe in das Dorf gezogen war, wo er sich seitdem als eine Art Wachmann um die Sicherheit des Hotels kümmerte, beschuldigte Dazai auf der Stelle.
»Der Japs war’s«, erklärte er mit der nasalen Stimme eines Schauspielers aus einem argentinischen Gangsterfilm. »Ein Streit zwischen Tunten.«
Die anderen schienen seiner Meinung zu sein. Alle hatten sie es eilig gehabt auszusagen, und der Kommissar wunderte sich über so viel Einstimmigkeit. Einige hatten sich mit ihren Aussagen sogar selbst in Schwierigkeiten gebracht. Es war möglich, dass gegen sie ermittelt würde, um ihre Aussagen zu überprüfen. Der Großgrundbesitzer aus Sauce Viejo, ein Mann mit hochrotem Kopf, hatte beispielsweise eine Geliebte im Dorf, die Witwe des alten Corona, während seine Frau im Krankenhaus von Tapalqué lag. Das Zimmermädchen, das beobachtet haben wollte, wie Yoshio überstürzt aus Duráns Zimmer gerannt kam, hatte keine Erklärung dafür, was sie um diese Zeit im Gang zu suchen hatte, wo sie doch eigentlich schon Feierabend hatte.
Yoshio selbst hatte sich in seinem Zimmer eingeschlossen – völlig verstört, wie es hieß, verzweifelt wegen des Todes seines Freundes – und antwortete nicht auf die Rufe.
»Lassen Sie ihn, bis ich ihn brauche«, sagte Croce. »Der haut nicht ab.«
Sofía schien sich zu ärgern und sah Renzi mit einem sonderbaren Lächeln an. Sie sagte, Tony sei verrückt nach Ada gewesen, vielleicht nicht unbedingt verliebt, eher geil, aber er sei nicht allein ihretwegen ins Dorf gekommen. Die Geschichten, die man sich über das Trio erzählte, hätten nichts mit dem Verbrechen zu tun gehabt, das seien nichts als Hirngespinste, Hirngespinste, von denen sie ihm ein andermal erzählen könne, falls es sich ergebe, denn sie habe nichts zu verbergen, sie werde nicht zulassen, dass eine Bande alter, nachtragender Klatschweiber ihr vorschreibe, wie sie zu leben habe oder mit wem – »oder mit wie vielen«, sagte Sofía später – sie und ihre Schwester ins Bett gehen dürften. Auch von diesen provinziellen Frömmlern, die aus der Kirche kommen, um gleich anschließend in den Puff der Bizca zu gehen – oder andersherum –, ließen sie sich nicht fertigmachen.
Die Menschen auf dem Land lebten in zwei Realitäten, in zwei Welten, mit zwei unterschiedlichen Moralvorstellungen. Auf der einen Seite trugen sie englische Kleidung, fuhren mit ihren Pick-ups übers Land und grüßten die Bauern und Tagelöhner, als wären sie feudale Herren, und auf der anderen Seite waren sie in jede erdenkliche Gaunerei verwickelt und trieben krumme Geschäfte mit den Viehauktionatoren und den Exporteuren aus der Hauptstadt. Als Tony kam, hätten sie sofort gewusst, dass noch etwas anderes im Spiel sein müsse als eine Liebesgeschichte. Warum sollte ein Amerikaner auch sonst hierherkommen, wenn nicht, um Geld herzuschaffen und Geschäfte zu machen?
»Und sie hatten Recht«, sagte Sofía, während sie sich eine Zigarette ansteckte. Eine Zeitlang rauchte sie schweigend, die Zigarettenglut leuchtete im abendlichen Dämmerlicht auf. »Tony hatte einen Auftrag, und deshalb hat er uns gesucht, und dann sind wir mit ihm durch die Casinos an der Küste gezogen, haben in Luxushotels oder in verlausten Motels an der Landstraße haltgemacht, haben uns vergnügt und das Leben genossen, während er alles Weitere regelte, was seinen Auftrag anging.«
»Ein Auftrag?«, fragte Renzi. »Was war das? Hatte er den schon, als er auf euch stieß?«
»Ja, ja«, sagte sie. »Im Dezember.«
»Dezember, das kann nicht sein … Wieso Dezember, wenn dein Bruder …?«
»Dann eben Januar, was soll’s, das spielt keine Rolle. Er war ein Gentleman, er hat nie zu viel gesagt und uns nie angelogen … Er hat sich nur geweigert, bestimmte Details preiszugeben …«, sagte Sofía und setzte ihre Litanei fort, wie ein Mädchen, das im Kirchenchor singt. Und Renzi sah das Bild vor sich, das kleine rothaarige Mädchen in der Kirche, das im Chor singt, ganz in Weiß … »Zu allem Überfluss war Tony auch noch Mulatte, und das, was meine Schwester und mich erregte, machte den Bauern in der Gegend Angst, oder fingen sie etwa nicht an, ihn den Zambo zu nennen, so wie mein Vater es ihm prophezeit hatte?«
Man könne Tonys Tod nicht verstehen, wenn man die dunkle Seite ihrer Familiengeschichte nicht kenne, vor allem die Geschichte von Luca, dem Sohn einer anderen Mutter, ihrem Halbbruder, sagte sie und Renzi unterbrach sie, »warte, warte …«, und Sofía war für einen Moment irritiert, bevor sie fortfuhr. Oder besser gesagt, bevor sie die Geschichte noch einmal ganz anders erzählte.
»Als es mit der Fabrik bergab ging, weigerte sich mein Bruder, sie zu verkaufen. ›Weigerte sich‹ ist schon zu viel gesagt, er zog die Möglichkeit gar nicht erst in Betracht, die Fabrik aufzugeben und zu kapitulieren. Begreifst du? Stell dir einen Mathematiker vor, der entdeckt, dass zwei plus zwei fünf ist, und damit niemand auf die Idee kommt, er sei verrückt, muss er das ganze mathematische System anpassen, wo zwei plus zwei natürlich nicht fünf ist, und auch nicht drei – und es gelingt ihm.« Sie schenkte sich Weißwein nach, gab etwas Eis dazu und schwieg einen Moment, dann sah sie Renzi an, der etwas von einer Katze an sich hatte, so wie er in seinem Sessel dasaß. »Du siehst aus wie eine Katze«, sagte sie zu ihm. »Eine im Sessel liegende Katze, und weißt du was? So war es nicht, es ist nicht so abstrakt. Stell dir einen Schwimmchampion vor, der ertrinkt. Oder besser noch, stell dir einen berühmten Marathonläufer vor, der in Führung liegt, und als er fünfhundert Meter vor dem Ziel ist, hat er einen Anfall, irgendeinen Krampf, der ihn lähmt, aber er schleppt sich weiter, denn er will unter keinen Umständen aufgeben, und als er schließlich den Zielstrich überquert, ist es bereits dunkel und alle haben das Stadion verlassen.«
»Was für ein Stadion?«, fragte Renzi. »Was für eine Katze? Hör auf mit diesen Vergleichen, erzähl einfach, was los war.«
»Nur die Ruhe, wir haben Zeit, oder?«, sagte sie und betrachtete das erleuchtete Fenster zwischen den Bäumen auf der anderen Seite des Innenhofs. »Er begriff«, fuhr sie nach einer Weile fort, als hörte sie von Neuem eine Melodie in der Luft, »dass sich das ganze Dorf gegen ihn verschworen hatte, um ihn loszuwerden. Zwei plus zwei, fünf, dachte er, aber niemand weiß es. Und er hatte Recht.«
»Womit hatte er Recht?«
»Nun … die Erbschaft seiner Mutter, verstehst du? Alles, was wir besitzen, haben wir geerbt, das ist unser Fluch.«
Sie phantasiert, dachte Renzi, sie ist betrunken, wovon redet sie?
»Wir haben unser ganzes Leben lang um die Erbschaft gestritten, erst mein Großvater, dann mein Vater und schließlich wir. Ich muss immer an die Totenwachen denken, an die im Bestattungsinstitut streitenden Verwandten, die erbosten, nur mühsam unterdrückten Stimmen, die von hinten zu uns drangen, während der Tote beweint wurde. So war es bei meinem Großvater und meinem Bruder Lucio, und so wird es auch bei meinem Vater und bei uns beiden sein. Der Einzige, der sich aus allem rausgehalten hat, nie etwas erben wollte und sich um alles allein gekümmert hat, war mein Bruder Luca … Denn es gibt nichts zu erben, außer den Tod und das Land. Das Land darf nicht in andere Hände gelangen, das Land ist das Einzige, was zählt, sagt mein Vater immer,