Das Ketzerdorf - In Ketten. Richard Rost

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Das Ketzerdorf - In Ketten - Richard  Rost


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ganz nah an ihn heran.

      »Ich habe dir doch vom Goldschmied David Altenstetter geschrieben, ein wunderbarer Mensch und ein Bruder im Geiste. Er fördert mich, gibt mir Hoffnung und mit seiner Hilfe werde ich dieses Kurzgewehr mit einem neuen Lauf herstellen, der die Treffsicherheit entscheidend verbessern kann. Es soll mein Gesellenstück werden. Mein Freund Jos und ich dürfen für eine Stunde am Tag daran arbeiten, was sehr großzügig ist. Trotzdem läuft uns allmählich die Zeit davon.« Helena hatte begeistert zugehört und am liebsten hätte er sie in den Arm genommen.

      »Wie kommst du denn mit der Schule zurecht?«, fragte er stattdessen.

      »Georg kann mir nichts mehr beibringen. Ich bin die meiste Zeit draußen im Stall bei meinen Tieren. Angefangen hat es mit zwei verwaisten Krähen, inzwischen pflege ich auch noch einen flügellahmen Uhu, ein humpelndes Reh und eine Igelfamilie. Die Tiere wären alle gestorben. Es ist so grausam, dass der Bader nur zu einem kranken Pferd kommt, alle anderen Tiere überlässt man ihrem Schicksal. Karl sagt, dass sei so in der Natur, aber ein Reh lebt doch genauso gerne wie ein Pferd, oder? Ach, Raymund, ich würde auch gerne so wie Hans nach Italien an eine Universität und Medizin studieren, aber Frauen sind ja nicht zugelassen. Ihr Männer habt es einfach! Euch steht alles offen, für uns bleibt nur die Hausfrau und Geliebte.« Das letzte Wort hatte sie sehr leise gesagt und sich eng an ihn geschmiegt. Raymund blickte immer wieder zur Mutter, die am warmen Kamin abwechslungsweise stickte und sich dann wieder in ein Buch vertiefte und den Eindruck erweckte, als würde sie absichtlich wegsehen.

      »Gehst du denn regelmäßig zu den Konventikeln, Raymund?«, fragte sie nach einer Weile.

      »Die Witwe ist immer noch rüstig und bei guter Gesundheit. Ich gehe einmal im Monat mit Onkel Hieronymus zu ihr. Man trifft dort immer wieder weit gereiste und interessante Menschen. In Augsburg gibt es eine strenge Konfessionspflicht, die von den Obrigkeiten genauestens kontrolliert wird. Ich gelte offiziell als katholisch.«

      »Katholisch?«, fragte Helena entsetzt.

      »Nur als Vorwand. Weil ich nicht neben dem Obergsell in derselben Kirchenbank sitzen wollte, bin ich mit meinem Freund Jos in den Dom gegangen. Dass ich einmal im Monat zu der Witwe gehe, darf der Meister nicht wissen. Der Herrgott hat’s mir bisher recht gedankt, dass ich seine Gebote achte und ihm im Denken, Reden und Tun die Treue gehalten habe, wenn es auch manchmal schwierig ist und ich dem Greisinger am liebsten eine Tracht Prügel verpassen möchte.«

      »Der Greisinger, das ist sein Obergsell, Mutter, der ihn ständig schikaniert und hänselt«, erklärte Helena.

      »Sollten wir nicht einmal mit Onkel Hieronymus darüber reden? Vielleicht könnte er beim Benzenauer erreichen, dass er seinen Obergsell ein wenig bremst.«

      »Lasst es lieber so, wie es ist, Mutter. Alles, was an Klagen über den Greisinger eingeht, lässt der Meister ins Leere laufen. Er holt ihn sogar wieder aus dem Gefängnis, weil er ihn ja so dringend braucht. Am Ende muss ich es nur büßen, wenn er erfährt, dass sich Onkel Hieronymus über ihn beschwert hat.« Er wandte sich wieder seiner Schwester zu. »Jetzt erzähl du, was es Neues bei dir gibt?«

      »Wir treffen uns oft mit Georg unten beim Wirt, wo er immer noch wohnt. Er kann es kaum erwarten, bis sein Haus wieder aufgebaut ist. Seit Vater nicht mehr hier ist, leitet er die Bibelstunden. Er besitzt sogar Reden, die er selbst bei Caspar mitgeschrieben hat. Aber ohne dich, Raymund, ist es in Leeder langweilig geworden. Ich vermisse unsere Ausritte in die Wälder oder die Kutschfahrten mit Karl, der uns immer mitfahren ließ, wenn er hinten bei den Höfen Besorgungen machen musste.« Sie kam nahe an sein Ohr. »Ach, Raymund, weißt du was, ganz besonders fehlen mir die Stunden, wo du mich …«, Helena räusperte sich, »… liebkost hast!«

      Raymund wusste nicht, was er sagen sollte. Wie wohltuend das war! Er schaute zu seiner Mutter, die in ihr Buch vertieft war, dann sah er in Helenas blaue Augen und berührte mit seinen Fingern heimlich ihre Schenkel, indem er unter dem Tisch dezent ihre Röcke zurückschob, und er hätte nicht sagen können, ob Mutter nur so tat, als würde sie nichts davon bemerken. Felizitas, Raymunds ältere Schwester, hatte sich längst weggedreht.

      »Mutter hat sich verändert. Irgendetwas trägt sie mit sich herum«, flüsterte er Helena zu, sie zuckte nur mit den Schultern. Aber Raymund kannte seine Mutter. Eben noch in ihr Buch vertieft, saß sie unruhig auf ihrem Stuhl, nippte an ihrem Becher und beschäftigte sich wieder mit ihrem Stickrahmen. Plötzlich stand sie auf, rückte ihren Stuhl an den Tisch heran und setzte sich wieder. Sie holte tief Luft, ehe sie zu sprechen begann.

      »Meine Kinder, ich habe eurem Vater, Gott der Allmächtige hab ihn selig, kurz vor seinem Tod versprochen, dass ich euch, wenn ihr erwachsen seid, diese Geschichte erzählen werde, die sich im August vor siebzehn Jahren zugetragen hat.«

      Es war dunkel geworden, im Kamin war nur noch die rote Glut zu sehen.

      »Es geht um euch beide.«

      Helena sah Raymund fragend an und Felizitas hob interessiert den Kopf.

      »In Leeder war die Pest ausgebrochen, seltsamerweise im Haus unseres Schneiders Hindelang, dem ich nur wenige Monate vorher ein Stück von feinstem orientalischem Stoff habe überbringen lassen, damit er mir ein neues Kleid näht. Ich habe das Kleid nie bekommen. Da ich schwanger war, habe ich das Schloss fast sechs Monate nicht verlassen. Den ganzen Sommer über war es nass und kalt, in den Gärten und auf den Äckern verfaulten die Früchte, unsere Bauern konnten das Vieh nicht mehr ernähren, die meisten der Knechte und Tagelöhner waren aus Angst geflüchtet. Die Markttage wurden abgesagt und der Handel kam zum Erliegen. Wir haben immer wieder in Erwägung gezogen, nach Augsburg zu gehen. Als der Pestbann über das Dorf verhängt wurde, war daran nicht mehr zu denken. Niemand durfte den Ort verlassen, und Leeder zu betreten, war nur unter strengen Auflagen und mit schriftlicher Genehmigung erlaubt. Am 18. August brachte ich dann dich, Helena, zur Welt. Es war eine schwere Zeit, selbst für unsere eigenen Bediensteten war oft nicht genug zum Essen da. Viele Bauern im Dorf mussten Hunger leiden, die Preise für Roggen und Weizen hatten sich vervierfacht. Am letzten Tag im August, es war kalt und hatte tagelang geregnet, stand der Totengräber vor dem Schloss und hielt ein wimmerndes Kind im Arm, das er vor der Kirche gefunden hatte. Es war völlig durchgefroren und hätte wohl die Nacht nicht überlebt. Ich habe dich in meine Arme genommen, Raymund, und gewärmt. Der Herr hatte mir einen wunderschönen Jungen anvertraut. Du warst und bist ein Gottesgeschenk. Und im Dorf wurde alsbald erzählt, dass ich Zwillinge bekommen hätte.« Raymund sah seine Mutter lächeln. Sie schien erleichtert.

      »Was … Mutter … vor der Kirchentür ausgesetzt? Ich … ich habe gar keine Eltern … bin ein Findelkind?« Raymund war bis in die Tiefe seiner Seele getroffen. Mutter setzte sich neben ihn und nahm ihn in die Arme, Helena tat dies von der anderen Seite. Trotz der körperlichen Nähe fühlte er eine nie gekannte Einsamkeit. Er kam sich nackt und schutzlos vor. Allein und angreifbar. Lange verharrten sie so umschlungen, doch je länger er die beiden Frauen umarmte, umso deutlicher wurde ihm bewusst, dass diese Frau, die ihm so viele Jahre Mutter gewesen war, mehr gegeben hatte, als eine leibliche Mutter ihm vielleicht hätte geben können.

      Es war Helena, die ruckartig die Verbundenheit der Umarmung verließ und rief: »Aber dann, Raymund, Raymund … Dann sind wir … Das heißt doch auch, dass wir gar nicht Bruder und Schwester sind.«

      Er verstand nicht, sah aber die Begeisterung in ihren Augen.

      »Wenn wir nicht einmal verwandt sind, dann können wir heiraten! Sagt doch, Mutter, kann ich denn jetzt Raymund heiraten?«

      »Lass Raymund erst einmal zur Ruhe kommen, er hat jetzt weiß Gott an andere Dinge zu denken!«

      »Mutter, wisst Ihr, wer mich vor die Kirchentür gelegt hat? Leben denn meine Eltern noch?«

      »Die Els von Ettringen hatte mir Jahre vorher prophezeit, dass ich ein Kind von einem Pfaffen bekommen würde, daher glaube ich, dass dein Vater ein Geistlicher gewesen sein muss. Mehr wissen wir nicht. Vergesst nicht, dass das Jahr ’63 mit seinen Seuchen, Katastrophen und Hungersnöten eines der schlimmsten war, an das sich selbst die Ältesten erinnern können. Joseph Hueber hat mir nach Wochen erzählt, dass ein Scholar mit einem Säugling bei ihm geläutet habe, er ihm


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