Von einem, der auszog, einen Staat aufzubauen. Martin Heipertz

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Von einem, der auszog, einen Staat aufzubauen - Martin Heipertz


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Schießen war bereits in vollem Gange. Einzelschüsse und Salven von unterschiedlicher Dauer hallten in rascher Folge über das Areal, der Geruch von Pulverdampf hing in der Luft, und der Schießstand war schon anhand des über ihm stehenden Qualms erkennbar. Harnagel leitete die Veranstaltung von seinem kleinen Feldherrenhügel aus, wo er guten Überblick hatte. Er thronte mit Funkgerät in der Hand auf einem Klappstuhl, die Feldmütze tief im gebräunten Gesicht. Als ich ihn erreicht hatte, grüßte ich militärisch.

      »Melde mich wie befohlen.«

      Dann umarmten wir uns in dem überschwenglichen Bewußtsein eines unerklärlichen, vor- und außerzivilisatorisch aufschwingenden Gefühls von Männlichkeit. Ich sagte zu Harnagel, wie sehr ich mich freue, einen wahren Freund bei KFOR zu haben. Wer weiß, wozu das noch gut sein würde.

      »Mit dir würde ich in den Krieg ziehen«, antwortete er.

      Vorerst aber wurde mir nur ein amerikanischer Unteroffizier zur Seite gegeben, und unter Aufsicht dieses stämmigen, wortkargen, aber wohlwollenden Profis durfte ich nach Herzenslust mit allem schießen, was in Deutschland und Amerika an Handfeuerwaffen in militärischem Gebrauch stand. Das war der vordergründige Sinn eines solchen Vergleichschießens. Munition und Waffen gab es in einem Gefechtszelt ohne jegliche Formalitäten. An Auswahl und Menge alles, was des Narren Herz begehrte. Da Soldaten meist kindlichen Gemüts sind und kindlichen Gemütern das Unbekannte immer das Faszinierende ist, waren die Amerikaner besonders an den deutschen Waffen interessiert und unsere Leute an den amerikanischen. Die Amis bewunderten den Rückschlag, der bei ihrem Schießgerät weniger stark war, und raunten ehrfurchtsvoll Hitlersäge beim Anblick unserer Maschinengewehre, deren Bauart seit dem Krieg nur unwesentlich verändert worden war. Sie versuchten, eine deutsche Schützenschnur zu ergattern, während die Männer der Bundeswehr es auf das US-Rifle-Abzeichen abgesehen hatten. Es sieht einem Eisernen Kreuz ähnlich und darf zu einer deutschen Uniform sogar getragen werden. Seinem preußischen Vorbild ist es angeblich nachempfunden, weil dieses bei amerikanischen Scharfschützen während beider Weltkriege die begehrteste Trophäe gewesen sei. Und da man seither in Deutschland glaubte, auf militärische Orden verzichten zu können, muß man das Eiserne Kreuz heutzutage über den Umweg einer amerikanischen Schießübung erlangen. Als Offizier trüge man es freilich nicht, doch mein zur Aufsicht abgestellter Sergeant wurde ehrgeizig, als er merkte, daß ich recht ordentlich schoß. So bedrängte er mich, die für das Abzeichen vorgesehenen Schießprüfungen komplett zu absolvieren. Noch vor Einbruch der Dunkelheit erhielt ich dann neben einigen anderen, stolz grinsenden Kameraden das begehrte Metall mitsamt seinen gottlob nicht allzu langen Nadeln durch die Uniform mit einem kräftigen Faustschlag an die stolzgeschwellte Brust geheftet. Für einen Abend also war ich Träger des Eisernen Kreuzes und nicht minder als die anderen gewillt, den heroischen Anlaß gebührend zu feiern.

      Auf das Schießen folgte ein feucht-fröhliches Bankett der an der Übung beteiligten Offiziere – und zwar im allseits gerühmten Kasino von Camp Casablanca. Die schon erwähnten Schweizer Köche ließen nichts zu wünschen übrig; die mir noch Jahre später in lebhafter Erinnerung gebliebene Speisefolge umfaßte eine Lachsvariation, Kalbsmilke an Pfifferlingen, eine Poularde mit Buchweizenbisquit und Gemüse sowie eine Schokoladenkomposition mit Himbeeren. Harnagel hatte das arrangiert, denn vermutlich umfaßte sein Budget zur Ausbildung kosovarischer Unteroffiziere, von denen freilich kein einziger zugegen war, auch das eine oder andere Abendessen im Kasino. Ich saß als Ehrengast mitsamt meinem Eisernen Kreuz zwischen dem inzwischen im maßgeschneiderten Dienstanzug mit richtigen Verdienstabzeichen geschmückten Harnagel und dem jovialen amerikanischen Captain. Zu Harnagels Schießen war dieser mit seinen Leuten aus dem sagenumwobenen Camp Bondsteel herübergekommen – der größten amerikanischen Basis auf dem Balkan. Von Uranminen über geheime Bomberflotten und Foltergefängnissen gab es nichts, was die Phantasie nicht über das dortige Treiben der Amerikaner hervorgebracht hätte. Die Höflichkeit verbot es freilich, den Captain hierzu zu befragen. Statt dessen floß portugiesischer Rotwein in Strömen auf die deutsch-amerikanische Waffenbrüderschaft. Schließlich torkelten wir in unsere Container, die dort wie in sämtlichen Einsatzgebieten dieser Welt als militärische Unterkunft dienten.

      Am nächsten Morgen und mit brummendem Schädel nahm ich das Interieur wahr: Das Wellblech des Metallkastens war für die Wohnlichkeit mit hellgrauem Kunststoff verkleidet. Der Fußboden hingegen schimmerte in einem matten, filzähnlichen Grün. Mein vermutlich für Gäste des Camps vorgesehener Container verfügte über ein Fenster, dessen Rollladen, nachdem ich ihn aufgezogen hatte, den Blick auf den gegenüberliegenden Duschcontainer freigab, aus welchem Dampfschwaden emporstiegen, als sei er ein türkisches Badehaus. Die Einrichtung bestand aus einem klappbaren Feldtisch mit ebenfalls klappbarem Feldstuhl aus Metallröhren und olivgrünem Leinentuch, einem metallenen Bettgestell mit Drahtbezug und Schaumstoffmatratze, einem kleinen Kühlschrank, der wohnlich brummte und mich mit Coca Cola labte, sowie, etwas schief hierauf abgestellt, einem altersschwachen Fernseher. Ich stellte ihn probehalber an, und sogleich bot er, satellitengestützt, pornographisches Material dar. An der dem Fenster gegenüberliegenden Längswand der Blechbehausung prangte das Bildnis einer hübsch anzusehenden und nicht übermäßig bekleideten jungen Dame, die mir zuzuzwinkern schien, als ich die neben dem Fenster eingefügte Tür unter fiesem Quietschen öffnete und in das helle Tageslicht hinaustrat. Während ich die Morgenluft einsog und in meinen Beintaschen erst nach der Sonnenbrille, sodann nach dem Schlüssel des Terrano tastete, durchströmte meine Adern ein erhabenes Gefühl von Freiheit und Abenteuer. Genau deswegen hatte ich Frankfurt verlassen…

      Doch ich greife vor. Zurück zum Flughafen Wien und zum Flugsteig nach Priština. Der Gebirgsjäger hatte also nicht mit mir reden wollen, und so schlenderte ich quer durch die Wartehalle zum Zeitungsstand. Da nicht einmal die Offiziere der Österreicher sich dort bedient hatten, stand mir die volle Auswahl der Zeitschriften von Austrian Airlines zur Verfügung. Von jedem Blatt steckte ich ein Exemplar in meine Tasche: Wiener Standard, Frankfurter Allgemeine, Süddeutsche, Financial Times, Kronenzeitung, Bildzeitung, International Herald Tribune, die heute anders heißt, und natürlich Le Monde, El País, Corriere. Nie nämlich war ich ein fleißigerer Zeitungleser wie als Fluggast. Was für andere der Tomatensaft, war für mich die umfassende Lektüre von Printmedien. Wir schrieben Samstag, den 16. Februar 2008, es gab noch Zeitungen zum Fliegen – und sämtliche Blätter waren voll von meinem Reiseziel.

      Es sollte noch einen Tag dauern, bevor das Parlament des Kosovos die Unabhängigkeitserklärung verabschieden würde. Damit würde sich die Republik Kosova von der Republik Serbien lossagen und zu einem souveränen Staat deklarieren. Ein beachtliches Vorkommnis, das in gewissem Widerspruch zu der völkerrechtlich garantierten Unverletzlichkeit der territorialen Integrität von Staaten zu stehen schien, zumal Serbien Mitglied der Uno war. Allerdings ein Vorkommnis, das von gewichtigen Fürsprechern unterstützt wurde, allen voran den Vereinigten Staaten von Amerika. Man hatte sich nämlich in Washington entschlossen, den sogenannten Ahtisaari-Plan umzusetzen, benannt nach dem im wörtlichen Sinne schwergewichtigen finnischen Politiker und Uno-Funktionär, der in mühsamen Verhandlungen eine einvernehmliche Lösung zwischen Serbien und dem Kosovo herbeizuführen beauftragt gewesen war. Aber nicht jedes Problem kennt eine Lösung. Strenggenommen ist ein Problem mit einer Lösung schon gar kein Problem mehr. Das Problem zwischen Kosovaren und Serben ließ sich nicht lösen. Auch die Lossagung des Kosovos von Serbien war in Wahrheit keine Lösung, sondern immer nur die ultima ratio gewesen, das letzte Mittel, die Drohung, mit der man den Serben zugesetzt hatte für den Fall, daß die Verhandlungen scheiterten, weil die Bedingungen für eine autonome Region Kosovo innerhalb der serbischen Republik auf albanischer Seite als nicht annehmbar galten. Wann und warum genau diese Verhandlungen hoffnungslos gescheitert waren, stand in den Gazetten nicht. Dieser Umstand wurde vorausgesetzt, und also schritt man, in der Presse ganz überwiegend begrüßt, zur Radikallösung – der Unabhängigkeit.

      In den Zeitungen las ich mich in die mir bis dahin fast völlig fremde Materie ein. Ich war Ökonom und kannte mich ein wenig mit Staatsfinanzen aus. So hatte ich fast vier Jahre in der Europäischen Zentralbank zugebracht und war dort unter anderem für die Analyse der Finanzpolitik einiger Balkanländer zuständig gewesen. Tiefere Kenntnis aber hatte ich nicht von dieser Region; hinzu kam höchstens noch ein von Studienzeiten und der Offizierschule herrührendes, allgemeines Interesse an Fragen der Sicherheitspolitik und


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