Harzkinder. Roland Lange
Читать онлайн книгу.vorgegebenen, hohlen Phrasen einzustimmen und ein Hohelied auf Partei und Staat zu singen. Schon immer. Sie gehörten nicht unbedingt zu den Menschen, die man als linientreu bezeichnen konnte. Besonders Ulrich war in der Vergangenheit des Öfteren auf der Arbeit durch das eine oder andere falsche Wort unangenehm aufgefallen. Hanka und ihr Mann waren im selben Betrieb beschäftigt, sie als Freizeitpädagogin, er als Fahrer. Also durfte sie die Konsequenzen von Ulrichs unvorsichtigem Verhalten mit ihm gemeinsam ausbaden. Ganz sicher war es seinem vorlauten Mundwerk zu verdanken, dass ihre Urlaubsanträge immer wieder abgelehnt wurden. Aber einmal hatte es ja klappen müssen. Hanka und Ulrich hatten sich keine Gedanken darüber gemacht, woher der plötzliche Sinneswandel rührte. Sie hatten endlich den begehrten Scheck und einen Platz im Ferienheim erhalten! Nur das hatte gezählt!
Joachim Aschoff, der zu spüren schien, dass die Bartkos nur ein geringes Interesse zeigten, das Gespräch richtig in Gang zu bringen, übernahm das Wort und plauderte munter drauf los. Er sei Facharzt für innere Medizin an der Poliklinik Eisenach, sagte er, und Renate, seine Frau, sei Lektorin in einem kleinen Kinderbuchverlag. Eigene Kinder hatte das Ehepaar noch nicht.
Die Aschoffs zog es immer wieder mal auf einen Kaffee zur Wechmarer Hütte. Es sei mit dem Auto ja nur ein Katzensprung von Eisenach, wo sie in einem kleinen Eigenheim wohnten. Auch heute habe sie das herrliche Sommerwetter nach draußen gelockt. Und wo könne man einen der seltenen freien Tage besser genießen als hier, in der Natur, fernab vom städtischen Trubel?
Joachim Aschoff sog tief die würzige Waldluft ein und breitete die Arme aus. Er schien den ganzen Wald umfassen und an sich drücken zu wollen. Seine Frau warf ihm ein flüchtiges Lächeln zu, vielleicht war es aber auch ein geheimes Signal unter Eheleuten, jedenfalls erhob sie sich gleich darauf und verschwand mit einer knappen Entschuldigung in Richtung Toiletten. Ulrich Bartko sah ihr hinterher. Mit einem Blick, der seiner Frau nicht verborgen blieb. Hanka kannte diesen Blick. Die Lektorin gefiel ihm. Zugegeben, sie war attraktiv und man musste als Mann schon blind sein, um das nicht zu bemerken. Trotzdem brauchte Ulrich ihr nicht so ungeniert auf den Hintern zu starren! Mehr, um sich von ihrer aufsteigenden Eifersucht abzulenken als aus Sorge, drehte sie sich nach ihren Kindern um.
Kerstin und Sascha tauchten gerade in den Wald ein, drohten aus ihrem Blickfeld zu verschwinden. Sie rief nach ihnen, wollte, dass sie zurückkamen.
„Lassen Sie die zwei doch“, wurde sie von Joachim Aschoff unterbrochen, „was soll ihnen schon passieren? Der Wald da hinten ist ein idealer Spielplatz. Keine Gefahrenstellen, weder Klippen, ein reißender Bach oder eine viel befahrene Straße.“
Hanka nickte. Der Mann hatte ja recht. Ihre Angst um die Kinder war zuweilen etwas übertrieben.
Zehn Minuten später war die Frau des Mediziners immer noch nicht zurück. Joachim Aschoff hatte ununterbrochen geplaudert und die Bartkos mit amüsanten Anekdoten in seinen Bann gezogen. Jetzt unterbrach er sich selbst in seinem Erzählfluss, schaute auf die Armbanduhr. Abrupt erhob er sich von seinem Platz.
„Ich denke, ich sehe mal nach meiner Renate. Sie wird ja wohl nicht in die Toilette gefallen sein.“ Er lachte glucksend. „Und dann müssen wir auch schon wieder fahren. Es wird höchste Zeit für uns. Schön, dass wir uns kennengelernt haben.“ Mit einem flüchtigen Abschiedsgruß wendete er sich ab und entfernte sich mit schnellen Schritten.
„Nette Leute“, sagte Ulrich Bartko zu seiner Frau gewandt.
„Vor allen Dingen sie“, entgegnete Hanka giftig. „Mit ihrem prallen Hintern!“ Sie konnte sich die Bemerkung nicht verkneifen.
„Hanka, bitte!“, brauste Ulrich auf. „Nicht schon wieder!“
Sie hörte nicht hin, wandte sich zu ihren Kindern um. Kerstin und Sascha waren nirgends zu sehen. Sie kniff die Augen zusammen, versuchte, die bunten Jacken der beiden zwischen den Bäumen zu entdecken. Nichts.
„Uli, siehst du sie?“
„Wen?“, fragte ihr Mann begriffsstutzig.
„Die Kinder! Sie sind verschwunden!“
„Blödsinn! Sie können doch nicht weg sein! Wahrscheinlich spielen sie nur Verstecken.“
Hanka sprang auf. „Los, komm. Wir müssen sie suchen.“ Ihre Stimme klang schrill.
„Jetzt beruhig dich mal. Sie werden gleich wieder auftauchen.“ Ulrich Bartko konnte die Sorge seiner Frau nicht verstehen.
„Dann bleib doch sitzen! Ich suche sie allein“, fauchte Hanka und rannte los. Seufzend erhob sich ihr Mann und lief ihr hinterher. Er hatte Mühe, ihr zu folgen.
Sie erreichten den Waldrand. Von den Kindern keine Spur. Hanka rief ihre Namen, Ulrich stimmte lautstark in das Rufen ein, hatte sich von Hankas Angst anstecken lassen. Auf dem Platz vor dem Ausflugslokal waren etliche Gäste auf sie aufmerksam geworden und beobachteten ihr Treiben. Niemand machte Anstalten, ihnen zu helfen.
„Mami!“
Endlich! Es war Kerstins helle Stimme, die sie hörten, noch bevor sie das Mädchen sahen. Aufgeregt kam die Kleine zwischen den Fichten hindurch auf sie zugestolpert.
„Kind, da bist du ja!“, rief Hanka erleichtert und fing ihre Tochter auf, die sich in ihre Arme stürzte.
„Mami, Mami, da hinten gibt es Rehe und Hasen und einen Fuchs und ...“
„Wo ist dein Bruder? Wo ist Sascha?“, unterbrach Ulrich Bartko das aufgeregte Plappern des Mädchens.
Hanka warf ihrem Mann einen irritierten Blick zu, schien erst in diesem Moment zu begreifen, dass ihre Tochter allein zurückgekommen war. Ohne ihren Bruder. Sie schob das Mädchen auf Armlänge von sich weg, blickte ihr fest in die Augen. „Wo ist Sascha?“, fragte sie ernst.
„Die ... die Frau“, stammelte Kerstin verschüchtert, „die wollte uns die Tiere zeigen.“
„Welche Frau? Los, sag schon!“ Hanka schüttelte ihre Tochter unsanft an der Schulter.
„Die Frau von unserem Tisch“, greinte das Mädchen, „die mit dem Mann da gesessen hat. Ich durfte nicht mit. Weil die Tiere Angst kriegen, wenn zu viele Leute kommen, hat die Frau gesagt. Erst sollte Sascha die Rehe sehen, dann ich. Ich sollte warten. Da hinten.“ Kerstin drehte sich um, deutete auf einen unbestimmten Punkt zwischen den Bäumen.
„Sascha!“ Hanka stürzte, von plötzlicher Panik getrieben, vorwärts. „Sascha!“ Ihre Verzweiflung wurde vom Wald verschluckt.
„Komm!“ Ulrich Bartko schnappte sich seine Tochter, nahm sie auf den Arm, stolperte mit ihr seiner Frau hinterher.
Hanka stoppte abrupt. „Wo lang?“, fragte sie keuchend. Sie drehte sich um, blickte ihre Tochter an. Verzweiflung in den Augen. „Wo habt ihr mit der Frau gesprochen?“
„Da ...“ Kerstin deutete zögernd in eine Richtung, dann in eine andere. „Ich weiß nicht mehr.“
Sie liefen weiter. Ziellos. Rufend. „Sascha! Sascha ...!“
Dann, plötzlich, ein leises Motorengeräusch. Nicht das helle Zweitakt-Hämmern eines Trabbis. Mehr ein Brummen, voller und dunkler. Irgendein größeres Fahrzeug. Sie änderten ihre Richtung, liefen dem Geräusch entgegen. Genau in dem Moment, als sie den Waldweg erreichten, fuhr die dunkelblaue Limousine an ihnen vorbei. Ein Moskwitsch. Am Steuer saß eine Frau. Die Lektorin? Und hinten auf der Rückbank ein Kindergesicht, das ihnen durch die Scheibe entgegenblickte. Das Gesicht eines kleinen Jungen? Dann war der Wagen um eine Biegung aus ihrem Blickfeld verschwunden. Es war alles so schnell gegangen.
„Sascha! Das war Sascha!“ Hanka sah sich panisch nach ihrem Mann um. Der stand nur da, wie zur Salzsäule erstarrt. Kerstin, seine Tochter, rutschte durch seine Arme langsam zu Boden. „Ich weiß nicht“, murmelte er tonlos, „ich habe kaum etwas erkannt. Vielleicht war das jemand anderes. Ein anderes Kind.“
Sie schüttelte den Kopf, kroch auf allen vieren hastig die kleine, steile Böschung zum Weg hinauf, rannte wie eine Verrückte dem Auto hinterher. Zwanzig, dreißig Meter vielleicht, dann wurde sie langsamer, torkelte noch ein