Weltgeschichte als Stiftungsgeschichte. Michael Borgolte
Читать онлайн книгу.nicht.“ In der Tosefta (Ergänzung zum Mischnah) wird von König Monobaz I. von Adiabene und der Bekehrung seiner Familie zum Judentum erzählt; als dieser beträchtliche karitative Gaben aufwandte, hätten sich seine Brüder gewundert, weshalb er nicht wie die Vorfahren mit seinem Vermögen eher seine Reichtümer vermehrte. Monobaz habe zur Antwort gegeben: „Die Vorfahren haben Schätze in dieser Welt angehäuft, ich für die kommende Welt.“
Umstritten war, ob auch andere zugunsten eines Menschen intervenieren konnten. Die Gebetshilfe der Lebenden für die Toten begünstigte eine Begebenheit aus dem zweiten Makkabäerbuch. Als Truppen unter Judas Makkabaeus einen Sieg über die Edomiter erfochten hatten und die wenigen eigenen Gefallenen bestattet werden sollten, fand man bei den Leichen Götzenbilder; diese waren natürlich verboten, so dass ihr Tod als Zeichen des göttlichen Zorns gedeutet werden musste. Judas indessen ließ eine Abgabe von 2.000 Drachmen erheben und als Sühnopfer nach Jerusalem bringen: „Und er tat wohl und fein daran“, so lautet die Begründung, „denn er dachte an die Auferstehung. Denn wenn er nicht gehofft hätte, dass die, die erschlagen waren, auferstehen würden, wäre es vergeblich und eine Torheit gewesen, für die Toten zu bitten. Weil er aber bedachte, dass die, die im rechten Glauben sterben, Freude und Seligkeit zu hoffen haben, ist es eine gute und heilige Meinung gewesen. Darum hat er auch für die Toten gebetet, dass ihnen die Sünde vergeben würde“ (2. Makk 12, 39–46).385
Obwohl mit der Geschichte Gegengaben oder Memorialleistungen zugunsten des Seelenheils Dritter begründet werden konnten, widerstrebten ihrer Lehre nicht wenige Gottesmänner. Der Rabbi Maharam Chalawa, der in Tortosa unter christlicher Herrschaft wirkte (ca. 1350), wurde einst gefragt: „Ist es wünschenswert, gute Gaben für Menschen aufzubringen, die schon verstorben sind? Können noch nach ihrem Tod Werke zu ihren Gunsten ihre Lage entscheidend verändern?“ Der Rabbi urteilte kompromisslos: „Es gibt keinen Zweifel, dass, was jemand für einen Verstorbenen tut, diesen nicht unterstützen oder zum Heil bringen kann, denn jedermann wird entsprechend seiner Verdienste zum Zeitpunkt seines Todes gerichtet.“386 Ähnlich hatte sich auch schon Abraham bar Hiyya ha-Nasi (ca. 1070–ca. 1136) in Katalonien geäußert: „Jeder, der glaubt, dass ihm die Taten und Gebete seiner Söhne und Enkel nach seinem Tod behilflich sein könnten, [vertritt] fingierte Gedanken, die in den Augen der Weisen und Vertreter der Wissenschaft einer falschen Erwartung entsprechen“;387 und das Oberhaupt der babylonischen Akademie von Pumbedita (Irak), Hai Gaon (939–1038), lehnte den Effekt reiner Fürbitten auf die Tilgung der Sünden von Toten ab: Diese „haben keinen Nutzen für den Verstorbenen (…). Das Zufügen eines [religiösen] Verdienstes durch eine [finanzielle] Vergütung kann in keiner Weise förderlich sein.“388
In welchem Maße solche Vorbehalte wirkten, müsste sich unter anderem an Stiftungen des Mittelalters ablesen lassen. Es ist allerdings nicht leicht, jüdische Stiftungen und ihre Wirkungen überhaupt zu ermitteln. Die Probleme ergeben sich hier aus der unbefriedigenden Forschungslage,389 vor allem aber aus der Sache selbst und der entsprechenden Überlieferung. Stiftungen waren im Judentum fast ausschließlich der Fürsorge (ṣedaqa) gewidmet;390 als Empfänger der Gaben traten aber in aller Regel nicht die Armen und Bedürftigen selbst, sondern die Gemeinden beziehungsweise die Gemeindefonds in Erscheinung, die die Verwaltung und Distribution der aufgebrachten Mittel ausübten.391 Die Bezeichnung des Gemeindefonds heqdesh/qodesh, die vom Tempelschatz abgeleitet war, wurde auch für Stiftungen verwendet; ein eigener Begriff hierfür fehlte also.392 Eine Wechselbeziehung zwischen dem Stifter und dem Begünstigten, der die Stiftungen für das Seelenheil kennzeichnet, wurde zusätzlich dadurch erschwert, dass die Gabe als besonders fromm und verdienstlich galt, wenn sie unbekannterweise erfolgte.393 Schon in den Sprüchen Salomos hatte es geheißen: „Eine heimliche Gabe stillt den Zorn [Gottes]“ (Spr 21, 14), und im Mittelalter stellte Maimonides in seinem Werk ‚Mischneh Tora‘ (ca. 1180) eine Werthierarchie der Wohltätigkeit auf, in der die Anonymität des Spenders (und des Empfängers) ganz oben rangierte.394 Außerdem kam eine Stiftung durch mündliche Vereinbarung zustande, so dass es überhaupt nur sehr wenige Urkunden gibt, in denen der Stifter seine Motive und Erwartungen hätte festhalten können. Vor allem Rechtsbescheide der Gelehrten (Responsen) und Verwaltungsschriftgut müssen deshalb die jüdische Stiftungstätigkeit und deren geistlichen Hintergrund erhellen.395
Ganz abgesehen von der prekären Überlieferungs- und ungenügenden Forschungslage, werden Urteile über die Motive der Stifter durch die weite Verstreuung der Juden und ihr Leben unter den Einflüssen anderer Religionen erschwert; von einem einheitlichen Judentum kann nicht die Rede sein, sondern nur von der Vielfalt jüdischer Kulturen.396 Generalisierende Schlüsse aus partikularen Befunden sind hier also besonders problematisch. Einen geeigneten Ansatz zur Analyse des jüdischen Stiftungswesens zunächst in regionaler Beschränkung bietet das Nürnberger Memorbuch.397 Die Entstehung ist präzise, der Zweck annähernd genau zu bestimmen. Als Autor und (erster) Schreiber nennt sich Isaak, der Sohn Rabbi Samuels seligen Angedenkens, aus Meiningen. Er habe „dieses Gedenkbuch“ im Jahr 5057 jüdischer Zeit, also 1296/1297 u. Z., geschrieben, als die Nürnberger Gemeinde ein neues Gotteshaus bezog.398 Als Erbauer der Synagoge nennt Isaak den Mar Simson; nach dessen Tod seien die Gebäude „durch die Hilfe der Freigebigen und durch die Freigebigkeit der Edeln“ ausgeführt worden: „Die Namen dieser Spender aber sind in das Buch der Geliebten, welche im Staube schlafen, eingezeichnet worden.“399 Bei dem Codex, der als Sefer Sikaron („Buch der Erinnerung“) und Sefer Sichronot („Buch der Erinnerungen“) bezeichnet wird,400 handelte es sich also um ein Totenbuch. Obschon alle Glieder der Gemeinde, ohne dazu verpflichtet zu sein, angehalten waren, mit ihren Spenden die Synagoge, die Werke der Wohltätigkeit und das zugehörige Personal zu unterhalten, sind vor allem außerordentliche Geber eingetragen worden. So heißt es zum Beispiel: „R(abbi) Jechiel und seine Frau Rahel, Tochter R(abbi) Samuels, welche zwei Gesetzrollen und ein Machsor hinterließen, die Frauensynagoge und das Gemeindebad erbauten, 10 Mark zum Ankauf von Weizen für die Armen auf Pessach, 10 Mark für Lichter zu Sabbaten und Festtagen in der Synagoge, 10 Mark für Öl, um Licht in einem Glasgefäße während des ganzen Jahres zu brennen, 4 Mark für Lichter zu Sabbaten und Festtagen für die Armen, 3 Mäntelchen und noch andere Stiftungen vermachten.“401 Oder von späterer Hand: „Gott möge gedenken der Seele R(abbi) Samuels, Sohn des Märtyrers R(abbi) Nathan halevi, mit der Seele Abrahams, Isaks [sic] und Jakobs, weil er hinterlassen hat 200 Pfund für den Friedhof, 50 Pfund für das Hospital, ein Tallit [Gebetsmantel für die Morgenandacht], ein Sargenes [Totengewand] und 50 Pfund für den Jugendunterricht. Dieserhalb möge der Heilige, gelobt sei er, seine Seele ruhen lassen bei den anderen Frommen, welche im Paradiese weilen. Darauf sprechen wir: Amen!“402 Aber auch geringere Gaben wurden notiert.403 Bemerkenswert ist, dass Spenden zugunsten Dritter belegt sind.404 Für eine Gegengabe des Gebets durch die Gemeinde bietet die Handschrift ein Formular an: „Gott möge gedenken der Seele des N., Sohn des N., mit der Seele Abrahams, Isaks und Jakobs, weil er … für den Friedhof hinterlassen hat. Dieserhalb möge Gott seiner mit all den Frommen, welche im Paradiese weilen, gedenken. Amen!“405
Isaak von Meiningen, der seine Arbeit nur bis zu seinem baldigen Tod im August 1298 leisten konnte,406 griff bei den Toteneinträgen bis in die 1280er Jahre zurück, verband das Nekrolog aber mit einem Martyrolog; älteste Schichten dieses Märtyrerverzeichnisses bezogen sich auf die Pogrome des Ersten Kreuzzuges (1096). Isaaks Werk wurde von Nachfolgern über die Opfer der Verfolgungen in der Zeit der Großen Pest hinaus bis 1392 weitergeführt. Bei dem Codex handelt es sich also um ein Martyrolog-Nekrolog, wie es aus der christlichen Memoria bekannt ist; verglichen mit der lateinischen Überlieferung kann man es auch als eine Mischform von frühmittelalterlichem Gedenk- und hochmittelalterlichem Anniversarbuch bezeichnen.407 Mit dem erstgenannten Typ hat es gemein, dass das Buch mit Märtyrern (Heiligen) und gewöhnlichen Verstorbenen so gefüllt wurde, dass ein bestimmter Name nur schwer auffindbar und ein individuelles Gedenken auf seiner Grundlage kaum möglich war, mit dem anderen teilt es die Nennung des Spenders/Stifters mit seiner Gabe.408 Die Gattungsbezeichnung ‚Memorbuch‘ könnte auf diese Analogien (Liber memorialis) zurückgehen, sich aber auch auf den ‚Almemor‘ beziehen, auf dem in der Synagoge das Pult für die Toralesung stand; damit wäre zugleich der Ort bezeichnet, an dem sich das Gedenkbuch bei der Liturgie befand.409 Ein Seelengedächtnis war nach dem Nürnberger Buch für die Lehrer der Gemeinde, die Märtyrer und die Stifter mindestens an jedem Sabbat des Jahres vorgesehen, dazu