Introvertiertheit. Karin Ackermann-Stoletzky

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Introvertiertheit - Karin Ackermann-Stoletzky


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       Man kann sagen: Introvertierte Menschen sind stärker dem Bereich Stabilität zuzuordnen, Extrovertierte dagegen dem der Plastizität.

      Diese beiden Grunddimensionen unserer Persönlichkeit werden von Hirnforschern mit zwei grundlegenden „Schaltkreisen des Gehirns“ in Verbindung gebracht. Unser Gehirn arbeitet mit chemischer Hilfe: Informationen werden durch sogenannte Botenstoffe weitergegeben. Jeder Botenstoff ist dabei für bestimmte Funktionen zuständig und steuert unser Gefühl, unser Erleben, unser Denken und unser Verhalten.

      Das Merkmal „Stabilität“ ist dabei Ausdruck einer hohen Betriebsamkeit des „Serotoninsystems“ unseres Gehirns. Der Botenstoff Serotonin hebt die Stimmung, wirkt aber auch allgemein im Stoffwechsel, steuert die Darmtätigkeit mit – er ist also ein vielbeschäftigter Botenstoff und wirkt „systemisch“. Dieses System zielt darauf, unser Innenleben stabil zu erhalten. Es erzeugt eine ausgeglichene, entspannte Stimmung, indem es Wut und andere negative Emotionen eindämmt und gleichzeitig dafür sorgt, dass wir nicht zu spontan handeln. Man spricht hier von einer Hemmung des „Reiz-Reaktionssystems“: Ein Reiz trifft mein Gehirn (z. B. mein Gegenüber beleidigt mich) und setzt Ärger in Bewegung. Reagiert mein „Reiz-Reaktionssystem“ ungehemmt, gebe ich dem Impuls nach, den dieses Empfinden auslöst: Ich schreie zurück. Das Serotoninsystem nun steht für Selbst- und Impulskontrolle. Es hilft mir, kurz innezuhalten und eine Entscheidung zu treffen. Es steht auch für Freundlichkeit und Kompromissbereitschaft, für Ordnung und die Sicherheit des Vertrauten.

      Das Merkmal „Plastizität“ steht für die Aktivität des „Dopaminsystems“. Man nennt es auch „Belohnungssystem“, und es belohnt alles Neue. Es sorgt dafür, dass der Mensch in seiner Umgebung nach Anregungen Ausschau hält, nach Musik und Kunst, interessanten Gesprächen und Vorträgen, aber auch nach Aufregung, feiern, Sex – dem nächsten „Kick“. Das Belohnungssystem motiviert den Bungeejumper und belohnt ihn mit einem „High“ bis hin zur Euphorie. Das alte Raumschiff-Enterprise-Motto, „dorthin zu gehen, wo noch nie ein Mensch zuvor war“, passt ebenfalls gut dazu. Es geht um das Bedürfnis, die bisherigen Erfahrungen durch neue Erkenntnisse und Anstöße von außen zu erweitern. Es macht das Denken breiter und kreativer – aber nicht unbedingt sorgfältiger. Untersuchungen (zum Beispiel der Universität Liverpool im Jahr 2004) behaupten, bei eher Introvertierten sei dieses Belohnungssystem nicht so aktiv wie bei Extrovertierten, sodass sie auch seltener euphorisch reagierten.

       „Keine Aufregung, keine Auswüchse, keine Experimente!“

       Konrad Adenauer

      Bis vor kurzem war die Theorie, dass zwei grundlegende Motivationssysteme des Gehirns sich auf diese Weise in der Persönlichkeit spiegeln, noch relativ spekulativ. Erhärtet wird sie nun aber von einer Studie eines Teams von Persönlichkeitsforschern der Universitäten von Toronto und Minnesota. Ihnen gelang es zu beweisen, dass sich „Plastizität“ und „Stabilität“ tatsächlich im Verhalten niederschlagen.

      Die Forscher Jacob Hirsch, Colin De Young und Jordan Peterson befragten 186 Frauen und 121 Männer aller Alters- und Bildungsschichten. Zunächst machte jede/​r einen Persönlichkeitstest, in dem auch die Eigenschaften Plastizität und Stabilität festgestellt wurden. Dazu wurde den Teilnehmern eine lange Liste mit 400 Verhaltensweisen vorgelegt, zum Beispiel „Fütterte einen streunenden Hund“ oder „Stellte bei einem Vortrag Fragen“. Die Versuchspersonen mussten jeweils angeben, wie häufig oder selten sie sich im letzten Jahr so verhalten hatten. Um auch die Außenwahrnehmung miteinzubeziehen, wurden zusätzlich jeweils drei den Teilnehmern nahestehende Personen befragt.

      Wie sich herausstellte, hing das Merkmal Plastizität erkennbar mit dem Ausführen und das Merkmal Stabilität mit dem Vermeiden bestimmter Verhaltensweisen zusammen.

      Menschen mit hohen Werten auf der Grundachse „Plastizität“ zeigten sich als Menschen voller Tatendrang, Begeisterungsfähigkeit und mit einem hohen Kommunikationsbedürfnis. Sie liebten es, eine Party vorzubereiten, erzählten gerne Witze und Geschichten, hatten eine große Anzahl von Freunden und Bekannten, schrieben gerne Liebesbriefe, besuchten oft Veranstaltungen, gingen gerne aus, fühlten sich häufig positiv gestimmt und zeigten das auch – konnten aber genauso Stunden mit Tagträumereien verbringen. Ein großer Teil von ihnen zeigte Wärme und Humor, sie blickten auf viele Dates, Reisen und Vergnügungen zurück. Die Anzahl der Sexualpartner war deutlich höher als bei ihren „Stabilitätskollegen“. Sie hatten aber auch mehr Alkoholsorgen und machten häufiger Diäten.

      Menschen mit einer hohen Ausprägung des Persönlichkeitsmerkmals „Stabilität“ fielen weniger durch ein bestimmtes Verhalten als durch Vermeidung auf. Ganz oben auf der Vermeidungsliste standen Kontrollverlust und ganz allgemein Risiken. Sie verloren selten die Fassung, machten keine Schulden, waren vorsichtig im Umgang mit Suchtmitteln wie z. B. Alkohol, schafften sich kein Motorrad oder andere potenziell gefährliche Geräte an, bei einem Streit flippten sie nicht aus und knallten nicht vor Wut mit Türen. Sie vermieden aber auch angenehme Überschwänglichkeit wie eine Partynacht, eine ausgedehnte Shoppingtour oder auch nur ein Frühstück im Bett. Für ihre Abgeklärtheit wurden sie mit einem ruhigeren Schlaf und seltenen Albträumen belohnt. Menschen von hoher Stabilität erleben weniger Ärger, weniger Nervosität und Gereiztheit, weniger Übergewicht, aber auch: weniger Sex, weniger Heiterkeit und weniger angenehmen Überschwang.

      Übrigens sind Stabilität und Plastizität keine Gegensätze, sondern voneinander unabhängige Systeme. Es ist also nicht ungewöhnlich, dass eine lebhafte Person, die ihre Zeit gerne mit anderen verbringt und Anregungen sucht, gleichzeitig ein hohes Bedürfnis nach Sicherheit und Behaglichkeit hat. Das kann sich hervorragend ergänzen (dann spricht man von „Stimmigkeit“ – beides passt zu der Person und widerspricht sich nicht). Es kann aber auch zu einem Widerstreit der Bedürfnisse kommen, der dann Stress und innere Konflikte heraufbeschwört.

      Dass Stabilität und Plastizität wichtige Teile der Persönlichkeit sind, ist unter Persönlichkeitsforschern inzwischen eine anerkannte Tatsache. Allerdings erklärt jedes Modell nur einen Bruchteil der bunten Vielfalt der Persönlichkeiten. Denn: Jeder Mensch ist einzigartig. Kein Raster wird all den vielen Facetten und Widersprüchen seines Wesens gerecht.7

      Unsere Persönlichkeit wird durch drei Bereiche geformt und beeinflusst:

       „Introvertiert: Ruhe ausstrahlen – Zeit für mich und andere nehmen – sich auf das Wesentliche fokussieren – achtsamer mit sich sein – einfach über den Dingen stehen.“

       Helga Rohra, Demenzaktivistin

      Biologie, Prägung und Selbststeuerung formen meine Persönlichkeit. In der Grafik oben sind alle Bereiche gleich aufgeteilt – das ist in der Realität nicht so. In Wirklichkeit ist der Einfluss der drei Kräfte von Mensch zu Mensch unterschiedlich und verschiebt sich im Laufe des Lebens immer wieder. Der Anteil Schöpfung allerdings ist nachgewiesen stark und bleibt im Laufe unseres Lebens eine stabile Größe: Was mir in die Wiege gelegt wurde, das ist eben da. Ich kann lernen, damit umzugehen, es zu nutzen und zu akzeptieren, aber ich kann in diesem Bereich kein anderer Mensch werden. Ein introvertierter Mensch zu sein ist also weniger eine Sache der Lebensgeschichte, sondern vor allem eine Sache der Biologie (des Geschaffenseins) und, im Laufe unseres Lebens, unserer eigenen Entscheidungen.

       Introversion prägt uns also, aber sie legt uns nicht fest.

      Ein in seiner Veranlagung eher extrovertierter Mensch kann trotzdem durch Erfahrungen, Prägungen und Entscheidungen dahin kommen, sich introvertiert zu verhalten – und umgekehrt. Dazu ist zum Beispiel die Kultur, in der ich aufwachse, mitentscheidend. Ein in China aufwachsender „Extro“ wird sich wahrscheinlich anders entwickeln als einer in den USA. „Da sich unser Gehirn nach der Geburt noch stark weiterentwickelt, haben auch die Umgebung und die Kultur einen großen Einfluss auf die Ausprägung


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