Die Welt unter Strom. Arthur Firstenberg
Читать онлайн книгу.Apothekern und Wirten in der ganzen Stadt an das Netz angeschlossen wurden.1
Ein Jahr später, als die Universal Private Telegraph Company ihre Türen öffnete, wurde das Stromnetz über den Häusern von London noch dichter gewebt. Im Gegensatz zur ersten Firma, deren Stationen nur öffentliche Dienstleistungsunternehmen akzeptierten, vermietete Universal Telegrafenanlagen an Unternehmen und Einzelpersonen für den Privatgebrauch. Kabel mit jeweils bis zu 100 Drähten bildeten das Rückgrat des Systems. Jeder Draht verließ dabei das Gewirr der restlichen Drähte und zweigte sich ab, sobald er sich seinem Ziel näherte. Bis 1869 hatte diese zweite Firma mehr als 4.000 Kilometer Kabel und ein Vielfaches davon an Drähten über den Köpfen der Londoner gespannt und unter den Füßen verlegt.1.500 Abonnenten, verstreut über die die ganze Stadt, waren somit versorgt.
Eine ähnliche Transformation fand mehr oder weniger überall auf der Welt statt. Die Tragweite der Geschwindigkeit und der Intensität jedoch, mit der dies geschah, wird heute nicht richtig eingeschätzt.
Die systematische Elektrifizierung Europas hatte 1839 mit der Eröffnung des magnetischen Telegrafen auf der Great Western Railway zwischen West Drayton und London begonnen. Die Elektrifizierung Amerikas begann einige Jahre später: Samuel Morse errichtete 1844 entlang der Eisenbahnstrecke Baltimore–Ohio die erste Telegrafenlinie zwischen Baltimore und Washington. Davor wurden jedoch bereits Häuser, Büros und Hotels mit elektrischen Türklingeln und Meldern ausgestattet. Das erste vollständige System wurde im Jahr 1829 im Tremont House in Boston installiert, in dem alle 170 Gästezimmer über elektrische Leitungen mit einem Glockensystem im Hauptbüro verbunden waren.
Elektrische Alarmanlagen waren 1847 in England und bald darauf in den Vereinigten Staaten und in Deutschland erhältlich.
Im Jahr 1850 wurden auf allen Kontinenten, mit Ausnahme der Antarktis, Telegrafenleitungen aufgebaut. Über 35.000 Kilometer Draht wurden in den Vereinigten Staaten unter Strom gesetzt; fast 6.500 Kilometer rückten in Indien vor, wo sich „Affen und Schwärme großer Vögel“ auf ihnen niederließen.“2 1.600 Kilometer Draht breiteten sich in drei Richtungen von Mexiko-Stadt aus. Bis 1860 waren Australien, Java, Singapur und Indien miteinander durch Seekabel verbunden. Bis 1875 wurden die ozeanischen Kommunikationsbarrieren durch fast 50.000 Kilometer Unterseekabel aufgehoben. Jetzt hatten die unermüdlichen „Netzweber“ schon ein Kupfernetz von 1,1 Millionen Kilometer Länge auf der Erde unter Strom gesetzt – genug Draht, um den Globus fast 30 Mal zu umwickeln.
Der Stromverkehr nahm noch stärker zu als die reine Anzahl der Drähte. Zunächst das Duplexing, dann das Quadriplexing und später auch das automatische Keying ermöglichten es, dass der Strom jederzeit fließen konnte, nicht nur beim Senden von Nachrichten. Jetzt konnten auch mehrere Nachrichten gleichzeitig über denselben Draht geschickt werden – und das mit immer schnellerer Geschwindigkeit.
Fast von Anfang an war die Elektrizität im Leben eines durchschnittlichen Stadtbewohners präsent. Der Telegraf war dabei von Anfang an mehr als nur eine nebensächliche Ergänzung zu den Eisenbahnen und Zeitungen. Bevor es Telefone gab, wurden Telegrafenmaschinen zuerst in Feuerwehr- und Polizeistationen, dann an Börsen und in den Büros von Kurierdiensten und bald auch in Hotels, Privatunternehmen und Privathaushalten installiert. Das erste kommunale Telegrafensystem in New York City wurde 1855 von Henry Bentley gebaut und verband 15 Büros in Manhattan und Brooklyn. Die 1867 gegründete Gold and Stock Telegraph Company lieferte telegrafisch und unverzüglich Hunderten von Abonnenten Preisnotierungen von den Aktien-, Gold- und anderen Börsen. Im Jahr 1869 wurde die American Printing Telegraph Company gegründet, um Unternehmen und Privatpersonen private Telegrafenleitungen zur Verfügung zu stellen. Die Manhattan Telegraph Company wurde zwei Jahre später in Konkurrenz dazu aufgebaut. Bis 1877 hatte die Gold and Stock Telegraph Company beide Unternehmen erworben und bediente fast 2.000 Kilometer Draht. Bis 1885 verbanden die Netze der fleißigen Spinnen fast 30.000 Häuser und Geschäfte miteinander. Diese Netze über New York waren noch komplexer als die in London, die Dickens beschrieben hatte.
Im Verlauf dieser Transformation schrieb der Sohn eines schmächtigen, etwas schwerhörigen Geistlichen die ersten klinischen Aufzeichnungen einer bisher unbekannten Krankheit, die er in seiner neurologischen Praxis in New York City beobachtete. Obgleich Dr. George Miller Beard sein Studium an der medizinischen Fakultät erst vor drei Jahren beendet hatte, wurde seine Arbeit dennoch im Jahr 1869 von dem renommierten wissenschaftlichen Magazin Boston Medical and Surgical Journal – später umbenannt in New England Journal of Medicine – angenommen und veröffentlicht.
Beard war ein selbstbewusster junger Mann, der eine Gelassenheit und einen versteckten, charismatischen Sinn für Humor besaß. Er war ein scharfer Beobachter, der schon zu Beginn seiner Karriere keine Angst hatte, medizinisches Neuland zu betreten. Obwohl er manchmal von erfahreneren Medizinern wegen seiner neuartigen Ideen verspottet wurde, sagte einer seiner Kollegen viele Jahre nach seinem Tod, dass Beard „nie ein unfreundliches Wort gegen irgendjemanden geäußert hat“.3 Neben dieser neuartigen Krankheit spezialisierte er sich auch auf die Elektro- und Hypnotherapie. Er hatte maßgeblich daran teil, dass der gute Ruf beider Disziplinen ein halbes Jahrhundert nach dem Tod von Mesmer wiederhergestellt wurde. Darüber hinaus trug Beard zur Erkenntnis der Ursachen und Behandlung von Heuschnupfen und der Seekrankheit bei. Und im Jahr 1875 untersuchte er gemeinsam mit Thomas Edison die von Edison entdeckte „Ätherkraft“, die sich durch die Luft übertrug und ohne einen Kabelstromkreis Funken in nahe gelegenen Objekten erzeugte. Beard hatte richtig vermutet – ein Jahrzehnt vor Hertz und zwei Jahrzehnte vor Marconi –, dass es sich hier um Hochfrequenzstrom handelte, der eines Tages die Telegrafie revolutionieren sollte.4
Dr. George Miller Beard (1839–1883)
Was die neuartige Krankheit betrifft, die er 1869 beschrieb, so erahnte Beard ihre Ursache nicht. Er nahm einfach an, es sei eine Krankheit der modernen Zivilisation, die durch Stress verursacht wurde und bisher selten aufgetreten war. Der Name, den er ihr gab, „Neurasthenie“, bedeutet lediglich „schwache Nerven“. Obwohl einige der Symptome anderen Krankheiten ähnelten, schien die Neurasthenie wahl- und grundlos zuzuschlagen. Es war auch nicht zu erwarten, dass jemand daran sterben würde. Auf keinen Fall verband Beard die Krankheit mit der Elektrizität; sie war sogar seine bevorzugte Behandlungsweise für Neurasthenie – sofern der Patient dies tolerieren konnte. Als er 1883 starb, war die Ursache für Neurasthenie zu jedermanns Enttäuschung immer noch nicht bekannt. Aber in weiten Teilen der Welt, in denen der Begriff „Neurasthenie“ bei Ärzten nach wie vor üblich ist – und das ist fast überall außerhalb der Vereinigten Staaten der Fall – wird die Elektrizität heute als eine der Ursachen dafür anerkannt. Und die Elektrifizierung der Welt war zweifellos dafür verantwortlich, dass die Krankheit in den 1860er-Jahren aus dem Nichts erschien und sich in den folgenden Jahrzehnten zu einer Pandemie entwickeln sollte.
Heute ziehen sich Millionen-Volt-Stromleitungen durch die Landschaft, 12.000-Volt-Leitungen zerteilen die Wohngegenden und 30-Ampere-Leistungsschalter wachen über jedes Haus – da fällt es leicht zu vergessen, wie sehr diese Situation eigentlich wider die Natur ist. Keiner von uns kann sich vorstellen, wie es sich anfühlen würde, auf einer nicht verdrahteten Erde zu leben. Seit der Präsidentschaft von James Polk (Anm. d. Verlags: 1845–1849) haben unsere Zellen, die in dieser Hinsicht wie Marionetten an unsichtbaren Fäden hängen, keine Sekunde Pause von den elektrischen Vibrationen gehabt. Der allmähliche Spannungsanstieg in den letzten anderthalb Jahrhunderten war nur graduell. Die schlagartige Überwältigung der Nährböden der Erde in den ersten Jahrzehnten dieser ungezügelten technologischen Entwicklung, an der sich alle beteiligten, hatte auf die Natur und den Charakter des Lebens drastische Auswirkungen.
Zu Beginn errichteten Telegrafenfirmen auf dem Land und in Städten ihre Leitungen mit nur einem Draht, wobei die Erde selbst den Stromkreis vervollständigte. Keiner der Rückströme floss entlang eines Drahtes, wie dies heute in elektrischen Systemen der Fall ist, sondern sie bewegten sich auf unberechenbaren Pfaden durch den Erdboden.
Siebeneinhalb Meter hohe Holzmasten stützten die Drähte auf ihren Wegen zwischen den Ortschaften. In Städten, in denen mehrere Telegrafenfirmen