Zurück. Fabian Vogt
Читать онлайн книгу.hoch: „Dann musst du es herausfinden!“
„Eine großartige Idee! Was meint Ihr, warum ich Euch das alles erzähle? Ich hoffe, dass Ihr in meinen Geschichten etwas entdeckt, das Euch und mich dem Geheimnis etwas näher bringt.“
Der Künstler beugte sich nach vorne, um eine weitere Kerze anzuzünden. „Gut, dann lass uns weitermachen. Was geschah nach, entschuldige, vor dem 11. Januar 1989?“
1988 Ich war durch und durch müde. Nicht unausgeschlafen, sondern von einer lähmenden Schwere erfüllt, die jede Bewegung zu einer Qual und jeden Gedanken zu einer unliebsamen Anstrengung macht. Seit ich mein Los akzeptiert hatte, ergab ich mich ihm. Ich wusste nicht, wohin, und darum gab es auch keinen Grund, einen ersten Schritt zu tun. Tagsüber wanderte ich unstet durch das ehemalige Bundesgartenschaugelände an der Nidda, diesem stinkenden Kanal, der sich übermütig Fluss nennt, schaute kleinen Kindern beim Spielen zu und kehrte früh in die Hütte zurück. Ich existierte, aber ich lebte nicht.
Am 12. Januar 1988 wachte ich gegen ein Uhr morgens auf, weil ich fror. Die Kälte kroch in den alten Armeeschlafsack meines Vaters und legte sich heimtückisch um meinen nackten Körper. Zwischen den Wolken lugte bisweilen der Mond hervor, um sich gleich darauf wieder schamvoll zu verstecken.
Ich stand auf und sprang schlotternd umher, bis die Kälte aus meinen Gliedern gewichen war. Und erst dabei wurde mir bewusst, was passiert war: Durch meinen mitternächtlichen Zeitsprung war ich in einem Jahr gelandet, in dem es das kleine Blockhaus noch gar nicht gegeben hatte. 1988 hatten meine Eltern ein neues „Gartendomizil“, wie sie ihre Hütte immer nannten, gebaut und es bewusst in den hinteren Teil des Gartens gesetzt, um nicht wie vorher ab dem späten Nachmittag den Schatten des kleinen Unterschlupfes auf dem Rasen zu haben. Aber das war nur ein Grund gewesen. Mein Vater hatte sich auch deshalb wütend zum Kauf einer festeren Hütte entschlossen, weil die alte Baracke jedes Jahr im Winter aufgebrochen wurde, „von einem dieser Penner, die dann darin übernachten“, wie der stets korrekte Ingenieur in unregelmäßigen Abständen bemerkte.
Mir fiel auf, wie oft meine Reise in die Vergangenheit in meinem ersten Leben Spuren hinterlassen hatte, ohne dass es mir aufgefallen war. Denn es gab keinen Zweifel: Der Penner war ich; ich würde gleich die alte Hütte aufbrechen, zu der ich natürlich keinen Schlüssel hatte. Aber was blieb mir anderes übrig? Ich musste Gewalt anwenden, wenn ich nicht erfrieren wollte. Und genau das tat ich. Glücklicherweise war der alte Heizlüfter noch oder schon da, sodass ich bald wieder im Warmen saß.
Als mein Blick am nächsten Morgen in den ovalen Spiegel fiel, der über dem durchgesessenen Sofa in der alten Hütte hing, wurde mir zum ersten Mal bewusst, dass ich inzwischen wirklich wie ein Penner aussah. Ich hatte mich zwar einige Male gewaschen, eine Dusche aber gab es in dem Kleingarten natürlich nicht. Unrasiert, mit fettigen, verzottelten Haaren, langen, dreckigen Fingernägeln und ungepflegten Zähnen grinste ich mich verstohlen an – und schämte mich.
Da beschloss ich, endlich wieder zu leben. Ich fand es plötzlich unendlich dumm, mit dem Schicksal zu hadern. Und als ich an diesem Morgen an der Bahntrasse entlang in die Stadt lief, war ich sehr zuversichtlich. Ich hatte mir fest vorgenommen, mich wieder um mich zu kümmern. Und zwar um uns beide: nicht nur um den verwirrten Reisenden, der jeden Morgen froh war, dass ihn zumindest die Dinge, die er am Körper trug, in die Vergangenheit begleiteten, sondern auch um mein altes Ich.
Dieser Gedanke beflügelte mich. Da war dieser ahnungslose Max, der in den achtziger Jahren vor sich hinlebte, ohne zu wissen, was ihm bei der Jahrtausendwende passieren sollte – und keiner kannte ihn so gut wie ich. Ich wollte mir helfen, mich begleiten und mir wichtige Ratschläge geben. Was hätte ich auch sonst tun sollen? Das war das einzige Ziel, das mir blieb. Ich konnte versuchen, aus mir das Beste zu machen.
1986 Am Dienstag, den 14. Januar, besuchte ich mich zum ersten Mal in der Universität. Mein altes Ich war gerade 21 geworden, und ich war immer noch 35 und hatte mir in den vergangenen zwei Wochen so viel Bart wachsen lassen, dass ich mich auf keinen Fall erkennen würde. Ich war lange unsicher gewesen, ob ich diese Begegnung riskieren sollte, aber dann hatte ich mich daran erinnert, dass mir 1986 eine merkwürdige Kneipen-Tour mit einem ausgeflippten Unbekannten, der sich „Christoph“ nannte, den ersten Anstoß gegeben hatte, von Sonderpädagogik zur Altphilologie zu wechseln.
Ich hatte damals die Nase gestrichen voll von all den Schulpraktika, in denen es nicht um die Qualität des Unterrichtsstoffes, sondern um reine Machtfragen ging. Wer zeigt hier wem, was eine Harke ist? Der Lehrer den Schülern oder umgekehrt? (Van Dyck blickte mich verständnislos an.) Und wenn mir meine Schutzbefohlenen einmal nicht den Krieg erklärten, dann hingen sie wie gelähmt in den Stühlen, ließen meine anfangs noch sehr motivierten Unterrichtsentwürfe gähnend über sich ergehen oder starrten Löcher in die Decke.
Ich war 21 und sehr frustriert. In meiner Fantasie existierte Schule so unterhaltsam und freundlich wie im „Fliegenden Klassenzimmer“ von Erich Kästner, in der Realität aber war von diesem Vertrauen zum Lehrer, von der Freundschaft, der Wissbegierde und der Sehnsucht nach Gemeinschaft bei den Schülern nur wenig zu spüren. Und trotzdem wäre ich ohne einen äußeren Anstoß sicher Lehrer geworden, denn einen Wechsel des Studiengangs hätte ich aus eigener Kraft kaum vorangetrieben.
Ich stieg an der Bockenheimer Warte aus der Straßenbahn und schlenderte an den ewig gleichen Ständen mit gebrauchten Büchern vorbei, die sich dort vor dem Campus in Reih und Glied auf wackeligen Tapeziertischen nach neuen Lesern sehnten. Zeigefinger wanderten die Buchrücken entlang, verharrten bei einzelnen Titeln, um sich dann ab und an doch zwischen den Seiten zu verlieren. Eine junge Frau, die erschreckend hohe Absätze trug, holte gerade ihr Portemonnaie heraus, stellte aber offensichtlich fest, dass ihr Geld nicht für die gewählten antiquarischen Angebote reichte. Missmutig steckte sie die Börse zurück und lief eilig davon. ‚Es hat sich nichts geändert‘, dachte ich und wusste doch, dass alles anders war. Und dann sah ich es auch: Das „Depot“ hatte sich aus einer modernen Kultur- und Begegnungsstätte wieder in eine alte Eisenbahnhalle verwandelt und der McDonald‘s im Eckhaus war noch nicht da.
Mehrfach traf ich Bekannte aus der Studienzeit, traute mich aber nicht, sie zu grüßen. Sie hätten mich ohnehin nicht erkannt. Außerdem ging es mir ja um mich. Ich hatte mich daran erinnert, dass zu jener Zeit jeden Dienstag eine gut besuchte Vorlesung über „Die Pädagogik des 20. Jahrhunderts“ angeboten wurde, und mir vorgenommen, mich dort zu treffen, sah mich dann aber schon vorher vor dem Schaufenster des studentischen Reisebüros stehen und nach billigen Reisen Ausschau halten. Das Wissen, dass ich mit einem Flugzeug in wenigen Stunden in einer anderen Welt sein konnte, hatte mich schon immer fasziniert.
1635 Van Dyck wirkte angestrengt. Erst jetzt wurde mir bewusst, dass es für ihn fast unmöglich sein musste, sich diese Zukunft vorzustellen. Immer wieder verzog er sein Gesicht, wenn meine Erzählung seinen Erfahrungshorizont überstieg, hörte mir aber tapfer weiter zu und nippte gedankenverloren an seinem Wein. Meine Geschichte war für ihn nicht nur durch die Reise in die Vergangenheit eine Zumutung, sie erforderte darüber hinaus seine ganze Vorstellungskraft. Kaum etwas von dem, was ich beschrieb, existierte in seiner Welt. Die 365 Jahre, die uns trennten, waren wie ein unüberbrückbarer Graben. Trotzdem nahm er erst die Flugzeuge, die ich ihm gegenüber salopp als Reisevögel bezeichnet hatte, zum Anlass nachzufragen.
Er blickte mich durchdringend an: „Wie lange braucht so ein Reisevogel von London nach Florenz oder Palermo?“
Ich stutzte, weil er mich unterbrochen hatte: „Na ja, ungefähr zweieinhalb Stunden! Und in vier Stunden ist er in Jerusalem.“
„Das ist unmöglich! In dieser Zeit kommt man ja nicht einmal bis Brighton. Ein Reisevogel? Was soll das eigentlich sein? Ein gigantischer Geier oder was?“
„Nein, Sir, eine Maschine aus Metall. Sie hat Flügel, aber auch Räder, auf denen sie immer schneller rollt, bis sie abhebt. Aber ich kann Eure Zweifel verstehen: Fast alles, was Menschen erfunden haben, galt einmal als unmöglich.“
Der Künstler schenkte sich noch etwas Wein ein. Dann atmete er hörbar aus und lehnte sich zurück: „Vergiss meine Fragen und erzähl weiter!“
1986 Ich stand neben mir, also neben dem Maximilian des