Ruanda. Gerd Hankel

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Ruanda - Gerd Hankel


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Teil V Die langen Schatten der Vergangenheit und die fortdauernde Vereitelung ihrer Aufhellung (die Jahre 2011 und 2012)

       1. Gacaca – Ende und Ergebnis eines ambivalenten Unternehmens

       2. Arusha – vom zweifelhaften Sinn einer gezügelten internationalen Strafjustiz

       3. Die Gefährlichkeit oppositioneller Tätigkeiten innerhalb und außerhalb Ruandas

       4. Die Lüge als politisches Prinzip? – Der Fall der Bewegung M 23 und seine grundsätzliche Bedeutung

       Abschließende Bemerkungen, einschließlich eines Rückblicks auf die Jahre 2013 bis 2015 und einer Annäherung an die Frage: Wie viel Unrecht verträgt der Fortschritt?

       Anhang

       Abkürzungsverzeichnis

       Literaturverzeichnis

       Weitere Bücher

       Fußnoten

      Karte von Ruanda (bis 2006)

      Hinweis: Die auf der Karte als Präfekturgrenzen bezeichneten gestrichelten Linien sind nach der 2006 erfolgten administrativen Neuordnung des Landes die Provinzgrenzen. Die als ganz im Süden liegend angegebene Stadt Nyanza liegt tatsächlich zirka 30 Kilometer nördlich von Butare. Zudem sind einige Städte umbenannt worden, so z. B. Gisenyi in Rubavu, Ruhengeri in Musanze, Byumba in Gikumbi, Gitarama in Muhanga, Cyangugu in Rusizi oder Butare in Huye. Häufig werden jedoch die alten und neuen Städtenamen nebeneinander verwendet.

      © Heidrun Simm, 2012

      (beide Karten)

      Von April bis Juli 1994 fand in Ruanda ein Völkermord statt. Zwischen 500 000 und einer Million Menschen verloren ihr Leben.1 Die Täter stammten aus der Bevölkerungsgruppe der Hutu, der die große Mehrheit der Ruander angehörte. Die Opfer waren zumeist Tutsi, die die Minderheit innerhalb der ruandischen Bevölkerung bildeten, oder Hutu, die der Opposition zugerechnet wurden.

      Der Völkermord war grausamer Höhepunkt eines Krieges, der am 1. Oktober 1990 begonnen hatte und der mit dem Völkermord noch nicht zu Ende war. Mal mehr, mal weniger intensiv begleitete dieser Krieg die erste Phase der politischen Konsolidierung in Ruanda und griff dann über auf das benachbarte Zaire. Offiziell zu Ende war er erst 2003, doch noch immer gibt es vor allem in den beiden Kivu-Provinzen im Osten der Demokratischen Republik Kongo, in die Zaire 1997 umbenannt worden war, bewaffnete Auseinandersetzungen, die nicht selten – zuletzt im Herbst 2013 und Frühjahr 2015 – kriegerische Formen annehmen.

      In Ruanda selbst herrscht heute Frieden. Eine neue Verfassung wurde per Referendum angenommen. Sie verspricht politische Pluralität, unbedingte Achtung vor den Menschenrechten und Bewahrung demokratischer Strukturen. Drei Parlaments- und zwei Präsidentschaftswahlen haben stattgefunden, ohne dass es zu ernsthaften Spannungen gekommen wäre. Die Wirtschaft wächst, das Land modernisiert sich und erhöht ständig seine Attraktivität für ausländische Investoren. Kigali, die Hauptstadt, hat heute nichts mehr mit der verschlafenen Stadt zu tun, die es mal gewesen ist. Seit 1994 hat sich ihre Bevölkerung mehr als vervierfacht. Hotels, Bürotürme und Banken bestimmen das Stadtbild, Straßen wurden neu angelegt oder verbreitert und Glasfaserkabel verlegt, nicht nur in Kigali, sondern entlang aller größeren Verkehrsachsen des Landes.

      »Vision 2020« heißt das Programm, das Ruandas künftiges Gesicht prägen soll. Es ist das Gesicht eines Staates, der sein Inlandsprodukt über Dienstleistungen erwirtschaftet und sich als Drehscheibe der ökonomischen Aktivitäten im Gebiet der Großen Seen begreift. Eines Staates, der selbstbewusst seine Zukunft gestaltet und alle Ruander in dieses Vorhaben einbezieht. Der für ein neues, modernes Ruanda steht, auf das die Ruander stolz sind und das wie ein Leuchtturm weit über seine territorialen Grenzen hinaus strahlt.

      Schon jetzt ist das Land zu einem wichtigen Akteur in der afrikanischen Politik geworden. Bei der internationalen Friedensmission in Darfur ist es mit dem größten Kontingent vertreten, in der Afrikanischen Entwicklungsbank stellte es von 2005 bis 2015 den Präsidenten, und in der Ostafrikanischen Gemeinschaft ist ein Ruander seit 2011 Generalsekretär. Staatspräsident Paul Kagame gilt als Inkarnation des neuen afrikanischen Staatsführers, pragmatisch, ideologiefern und von ökonomischem Sachverstand, ein viel umworbener Gesprächspartner, wenn es um die Kooperation mit Afrika geht. Und die Frauenquote, die seine Regierung in Politik und Verwaltung eingeführt und auch der Wirtschaft nachdrücklich empfohlen hat, wird weltweit als vorbildlich gepriesen.

      Es ist unübersehbar: Aus einem kleinen Land, so unbedeutend und entlegen, dass in ihm nahezu unbemerkt Krieg und Völkermord stattfinden konnten, ist ein Staat geworden, der in der Welt zur Kenntnis genommen wird. Ein vormals typischer Schauplatz des destruktiven Zusammenspiels von Ethnizismus, Landknappheit, Armut und Gewalt hat sich zu einem Symbol des Aufbruchs in Afrika entwickelt. Es scheint, dass in Ruanda der reflektierte Umgang mit der eigenen Vergangenheit und der Wille, daraus die notwendigen Lehren zu ziehen, eine überaus fruchtbare Symbiose eingegangen sind.

      So gesehen ist es auch nicht verwunderlich, dass Ruanda große internationale Anerkennung und Unterstützung erfährt. Als Vertreter Afrikas war es ab Januar 2013 für zwei Jahre nichtständiges Mitglied des UN-Sicherheitsrats. Für die weitere wirtschaftliche und soziale Entwicklung stellen Weltbank und Währungsfond immer wieder hohe Summen zur Verfügung, westeuropäische und nordamerikanische Staaten leisten Budgethilfe oder fördern gezielt bestimmte Projekte, vom Straßenbau bis hin zum Wiederaufbau der Justiz. Nichtstaatliche Organisationen (NGOs) arbeiten, gewöhnlich zusammen mit ruandischen NGOs, an der Überwindung der physischen und vor allem psychischen Folgen des Völkermords und engagieren sich in diversen Maßnahmen der offiziellen Versöhnungspolitik. Ausländische Studentengruppen und Mitglieder kirchlicher Vereinigungen gehen aufs Land oder in Provinzstädte und helfen durch ihre »Friedensarbeit« mit, den Appell des »Nie wieder!«, der vor beinahe siebzig Jahren, anlässlich der Verabschiedung der UN-Völkermordkonvention 1948, zur Verhinderung des Völkermordverbrechens lanciert worden ist, endlich Wirklichkeit werden zu lassen.

      Das ist die eine Seite. Die andere ist, dass der weltweiten Anerkennung und solidarischen Unterstützung heftige, erbitterte Kritik gegenübersteht. Folgt man ihr, dann ist es so, als ob es kein Übel der Welt gäbe, das nicht in Ruanda zu Hause ist. Massenmord, Beseitigung politischer Gegner mitsamt ihren Familien, Folter, Erpressung, Betrug und zynische Machtpolitik seien die wahren Merkmale des neuen Ruanda, behauptet sie. Ein Menschenleben sei dort nichts wert, mit großer Unerbittlichkeit werde das Land transformiert. Wer sich diesem Prozess widersetze oder zu widersetzen scheine, werde mundtot gemacht oder einfach liquidiert, denn hinter der Fassade des afrikanischen Musterstaates verberge sich eine Diktatur schlimmsten Ausmaßes. Deren Ziel sei der bloße, materiell lukrative Machterhalt, nicht das Wohl der Bevölkerung, die in ihrer übergroßen Mehrheit lediglich den Status von Marionetten habe.

      Wie passt das zusammen? Wie ist es möglich,


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