Überleben in Rios Straßen. Johannes Kunz
Читать онлайн книгу.bettelten, stahlen und oftmals die Sache ausbaden mussten. Oft gab man uns nämlich ein paar Ohrfeigen oder einen Tritt in den Hintern. Aber wir hatten trotzdem Spaß, gingen oft an den Strand und lümmelten herum, einmal badeten wir sogar nackt, aber ein paar Jugendliche legten uns danach übers Knie und wir mussten nackt wegrennen, denn sie gaben uns unsere Hosen nicht mehr. Das war eine schlechte Erfahrung, aber wir lernten daraus. Was heißt lernen, ich hasse den Ausdruck, wir wurden schlauer, sagen wir es mal so. An der Copacabana war es manchmal einfacher, an Geld zu gelangen, denn die Touristen hatten oft was übrig für uns. Das schlechte Gewissen. Wir klauten aber auch viel. Wir mussten schnell sein. Wenn man uns erwischt hätte, hätte man uns in ein Erziehungsheim gesteckt und du kannst dir sicher denken, dass man dort keine Bücher zum Lesen erhält, sondern was anderes. Wir wurden nie erwischt, außer dass man uns ab und zu was auf die Ohren gab und uns dann laufen ließ. Du bist auch weggerannt? Ach wirklich. Kann ich gar nicht glauben, wenn man dich so sieht. Doch, doch, ich glaube es dir natürlich. Ach, ich denke, es ist auf der ganzen Welt gleich. Kinder werden geschlagen, rennen weg und stürzen sich ins Unglück. Die Welt ist sowieso nicht zu retten, jedes Jahr wachsen die Slums, wie sollen alle Leute Arbeit finden und anständig bezahlt werden? Du willst alles sofort wissen, aber alles der Reihe nach, meine Geschichte soll doch auch spannend sein. So, das Essen ist fertig.
Interessant, du hast es nur bis zum Flughafen geschafft. Stell dir aber mal vor, wenn es tatsächlich geklappt hätte! Dann wärst du jetzt in Südamerika, und wahrscheinlich mausetot oder würdest in der Gosse liegen. Mit 16! Aber ich versteh dich, es ist nicht zum Lachen. Vielleicht wäre das die Erfüllung deines Traumes geworden. Auch wenn du am Ende dann gestorben wärst. Du wolltest wirklich ein Straßenkind sein. Aber du hast nie auf der Straße gelebt. Es ist verdammt hart, oder João? Siehst du, wir beide wissen, was es heißt, aber wir sind auch mit dir verbunden, weil wir alle eben eine Scheiß Kindheit hatten. Komm, lassen wir uns das Essen schmecken. Gut, dass es dir schmeckt. Ich habe auch damals nie davon, geträumt die Welt zu bereisen, neue Länder kennenzulernen. Das wäre für mich idiotisch gewesen, weil ich nur ums nackte Überleben kämpfte. Weißt du eigentlich, wie viele Kinder jedes Jahr in Brasilien ermordet werden? Niemand weiß es, aber es sind viele. Angestiftet von Regierungen, die eine saubere Stadt wollen, besonders, wenn irgendwelche internationalen Veranstaltungen im Land stattfinden. Da dürfen die Touristen nicht über Straßenkinder stolpern. Wenn es eine Gerechtigkeit gibt, muss man irgendwann diese ganzen Bastarde vor ein Erschießungskommando zerren, das ist meine Meinung. Viele sind schuldig, auch die Menschen, die einfach nur zusehen, wenn gepanzerte Autos vorfahren und nichts unternehmen. Das sind doch keine Menschen, die einfach die Augen verschließen. Wie kann man so leben, im klaren Bewusstsein, dass kleine Kinder und Jugendliche und Obdachlose einfach umgebracht werden? Natürlich gibt es keine Beweise, die liegen irgendwo auf Müllkippen oder in Massengräbern. Tut mir leid, João, wir setzen uns auf den Balkon. Ich will dich nicht traurig machen, Kleiner. Die Geschichte von João? Er hat mir nur einmal erzählt, was ihm passierte. Er war in einem kleinen Laden, um sich Kaugummis zu kaufen, als er einen Armeewagen vorbeifahren sah. Er wusste genau, was das bedeutete und warum der vorfuhr, aber es war bereits zu spät, seine Freunde zu warnen. Es war schon abends und wie üblich hatten sie sich alle irgendwo unter einer Brücke zusammengekauert. Als er aus dem Laden trat, hörte er Schreie und Schüsse und lief, was das Zeug hält, in die andere Richtung. Er rannte in unbekannte Straßen, öffnete einen Deckel eines Abflussrohres und versteckte sich dort unter der Erde für ungewisse Zeit. Kannst du dir das vorstellen, ein Sechsjähriger muss vor der Polizei flüchten, weil die ihn umbringen wollen, wenn sie ihn finden. Todesschwadronen, du hast Recht, aber im Auftrag von was weiß ich für welchen Leuten. Die Polizei steckt da auch dahinter. Gerechtigkeit gibt es nicht in Brasilien. Nach ein paar Tagen stieg er verängstigt nach oben und floh dann aus der Stadt, er lief einfach immer weiter. Aber in der Stadt wollte er nicht mehr wohnen. Verständlich. Irgendwann erreichte er das offene Land, auch mit Minibussen, glaube ich und versteckte sich dann eine Weile auf irgendwelchen Höfen und in der freien Natur. Aber er musste sich immer verstecken. Wem hätte er sich offenbaren können? Es sind nicht viele Erwachsene, die einem kleinen, schmutzigen Kind helfen. Warum sollten sie, frage ich provozierend? Es ist doch nicht ihr Kind. Schon gut, ich beruhige mich, du bist ja nicht für die Scheiße in meinem Land verantwortlich. In deinem gibt es sicher auch genug Mist. Er kehrte irgendwann zurück nach Rio. Die Stadt hat trotz der Gefahr einen Reiz. Man findet vielleicht ein Stück Glück. Er bettelte sich durch, stahl, aber er hatte Pech und viel einem Polizisten in die Hände. Wenn du die »Herren des Strandes« gelesen hast, kannst du dir ausmalen, was nun kommt. Sie haben ihn in eine Erziehungsanstalt gesteckt, ihn gefoltert. Tut mir leid, dass ich weine, aber das ist so eine himmelschreiende Schande, das kann man nie wieder gut machen. Frag mich nicht, was sie mit ihm gemacht haben. Und jetzt verstehst du vielleicht, warum es besser ist, wenn er bei mir die Zeit verbringt, als in so einer verdammten Schule. Bei mir ist er frei und wird nicht unterdrückt. Er hat sein Lachen wiedergefunden, aber die Schande wird er nie vergessen. Und mir hat sich seine Erzählung so tief ins Gedächtnis gebrannt, dass ich Mordgedanken hatte. Du weinst, dann hast du ein Herz! Weißt du was, ich liebe ihn, ich will ihn einfach glücklich sehen und ihm zeigen, dass das Leben auch was Schönes zu bieten hat. Wir wohnen in einer guten Gegend, hier brauchen wir wenigstens keine Angst zu haben. Manchmal würde ich gerne wegziehen von hier, aber ich fürchte, dass ich schon zu lange hier bin. Aufs Land, in eine kleine Stadt, vielleicht nach Ouro Preto. Sehr schöner Ort, musst du mal hinfahren. Mit mir? Klar, wenn du Angst hast, alleine zu fahren. Sollte nur ein Witz sein. Aber wenn ich mitfahre, kommt João auch mit. Du musst uns aber einladen. João. Er ist übrigens eifersüchtig, wenn ab und zu eine Nutte kommt. Ist auch verständlich, aber er gönnt mir trotzdem meinen Spaß. Ich muss lachen, du auch. Dann ist ja alles in Ordnung. Weißt du, wenn wir unseren Humor verlieren, dann ist alles aus. Dann kannst du dir genauso gut eine Kugel geben. Man muss auch über sich selber lachen können. Vorhin hab ich dich etwas getestet, normalerweise mache ich keine Witze über Leute, die ich nicht kenne. Du kannst mich auch auf den Arm nehmen, das nehme ich dir sicher nicht übel. Bist du sicher, dass wir weitermachen sollten? Du könntest genauso gut am Strand liegen, mit irgendjemand bumsen oder auf den Zuckerhut fahren. Dann würden dir alle hässlichen Details erspart bleiben. Glaub mir, niemand hat Interesse, so was zu lesen. Ich hab gar nichts dagegen, du bist ja ganz nett und wir verstehen uns. Übrigens, du sollest dir ein Hotel hier um die Ecke nehmen, es ist gefährlich, jeden Tag hin und her zu fahren, besonders in der Gegend, wo sich dein Hotel befindet. Wenn du mir einen Gefallen machen willst, besorg ich dir einen Fahrer und reservier dir auf der anderen Straßenseite ein kleines Hotel mit Klimaanlage, sauber und nicht teuer. Außerdem bist du dann nicht ewig im Stau. Und du kannst João und mich mal zum Abendessen einladen, wenn du willst. Okay, das war frech. Ich koche auch gerne für dich. Na gut, dann kochen wir zusammen, wenn du dich besser fühlst. Du musst mir nur eine Sache versprechen, zieh ihn da nicht rein. Frag ihn nichts zu seinem Leben, sonst brechen wir das sofort ab. Ich lasse nicht zu, dass du ihn über seine Vergangenheit ausfragst. Die ist traurig genug und er hat genug durchgemacht. Gut, ich verlasse mich auf dich. Immerhin willst du meine Geschichte hören und die ist schon hässlich genug.
Nein, du kannst uns nicht helfen, ich versteh ja, dass die Geschichte von João dich fesselt, aber wir kommen schon klar. Wenn du uns was geben willst, gerne, aber wir werden so weiterleben wie bisher. Ein Mann muss das tun, was er für richtig hält. Du wolltest nach Kolumbien über Miami. Und dann? Wenn du wirklich auf der Straße gelebt hättest, wärst du bald krepiert. Immerhin hast du dein ganzes Leben in einem Haus verbracht. Es kann nachts kalt werden, irgendwelche perversen Typen versuchen, dich zu vergewaltigen oder abzustechen oder beides. Dann die Gefahr von Hunden, Todesschwadronen, den Bullen und auch von anderen Obdachlosen einfach ermordet zu werden. Aber vielleicht hättest du auch Freunde gefunden, die dir geholfen hätten. Man kann auf der Straße welche finden, die mit dir durch dick und dünn gehen. Weil Freunde die einzigen sind, auf die du dich verlassen kannst. Zumindest bei mir damals. Wenn du hier gelandet wärst und viel Glück gehabt hättest, dann wärst du jetzt ein Arbeiter, ohne viel Geld. Ich will gar nicht darüber reden, denn so ist es ja nicht gekommen. Und dir bringt es auch nichts, jetzt darüber nachzudenken. Also wenn es wirklich mal so sein sollte, wäre ich ein guter Vater, glaub mir. Kein Drama, kein Anschreien, keine Schläge. Doch, mit João hab ich auch manchmal Streit, das gehört dazu, aber wir beide wissen, wie wir ticken. Jetzt reden wir schon wieder von ihm. Er hat mal das ganze Geschirr kaputtgemacht, alles