Opfer Patient. Dieter Wissgott

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Opfer Patient - Dieter Wissgott


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3.000 Euro zugebilligt wird, weil ihm während laufender Ermittlungen zehn Minuten lang eine menschenrechtswidrige Behandlung angedroht wurde, um sein Opfer zu retten.

      Natürlich müssen keine amerikanischen Verhältnisse in die Rechtsprechung Einzug halten. Die Gerichte setzen sich aber zu wenig mit dem Ausmaß des Verlusts an Lebensqualität auseinander – wobei man auch vielen Anwälten empfehlen muss, diese Umstände detaillierter vorzutragen.

      Medizinisch und juristisch greifen der Arztfehler und der anschließende Prozess tief in das Leben der Betroffenen ein. Ärzte und Juristen sind bei der Bewältigung dieser Beeinträchtigungen zu humanem und sozialem Engagement aufgerufen. Ebenso verdienen vorsichtige Überlegungen des Gesetzgebers Unterstützung, die zusätzliche Entschädigungen für nahe Angehörige empfehlen. Die Angehörigen sind von den teils gravierenden und dauerhaften Folgen eines Arztfehlers in gleicher Weise betroffen wie der Patient selbst.

      Vielleicht setzt die Veröffentlichung dieser Fallsammlung eine Diskussion in Gang, die nicht nur für die Patienten, sondern auch für beide beteiligte Berufsgruppen von Nutzen sein kann. Vielleicht sieht sich dann auch der Gesetzgeber dazu veranlasst, nach dem Vorbild des Sozialgesetzbuchs ein »Medizingesetzbuch« zu konzipieren, das den berechtigten Interessen der geschädigten Patienten Rechnung trägt. Dazu gehört auch eine Neugestaltung der Prozessvorschriften.

      Das neue Patientenrechtegesetz ist nur ein bescheidener Anfang auf diesem Weg. Es tut im Grunde nicht mehr, als die gefestigte Rechtsprechung teilweise zu kodifizieren.

      Die ausgewählte Fallsammlung stellt einen repräsentativen Querschnitt aus dem Alltag eines Medizinrechtlers dar. Es versteht sich, dass die Namen der beteiligten Ärzte, Gerichte und Geschädigten abgekürzt und anonymisiert wurden. Zum Nachweis der Authentizität kann auf Verlangen das jeweilige Aktenzeichen der Gerichte angegeben werden. Hier kann jeder bei berechtigtem Interesse Einsicht in die Gerichtsakten beantragen und sich über Einzelheiten informieren.

Diagnosefehler

      Die Ferndiagnose

      Der kaufmännische Angestellte Fritz W. war viele Jahre lang an verantwortlicher Stelle im Verkauf einer Sanitär- und Heizungsfirma im Raum Hannover tätig. Ein anhaltendes Wirbelsäulenleiden zwang ihn mit 48 Jahren in den vorzeitigen Ruhestand.

      Seit Weihnachten 1992 litt Fritz W. an einem grippalen Infekt. In der Nacht vor Silvester weckte er gegen zwei Uhr morgens seine Ehefrau, die sich noch sehr genau an die nun folgenden Ereignisse erinnert. Er berichtete ihr von massiver Atemnot. Fritz W. war aufgestanden und hatte sich als eine Art Selbsthilfemaßnahme mit ausgestreckten Armen an die Wand des Schlafzimmers gestellt. Seine Frau sah, wie er nach Luft rang. Sie fragte, ob sie nicht den Hausarzt anrufen solle. Fritz W. lehnte zunächst ab und verlangte nach ihren Asthmatabletten (die Ehefrau litt unter Asthma bronchiale). Sie gab ihm die Tabletten, rief aber trotzdem den Hausarzt an. Der Anrufbeantworter teilte ihr mit, dass sich Dr. E. in Urlaub befand. Gleichzeitig wurde auf dem Band der ortsansässige Dr. St. als Bereitschaftsarzt genannt.

      Gegen 2.15 Uhr rief Frau W. diesen Arzt an und schilderte ihm den Zustand des Ehemanns. Sie bat ihn um einen Hausbesuch, weil er unter akuter Atemnot litt und sie Angst habe, er könne ersticken. »Nun mal langsam«, erwiderte Dr. St., »so schnell erstickt man nicht.« Ein Hausbesuch sei wohl nicht erforderlich. Herr W. solle sich auf die Arme aufstützen und langsam tief durchatmen.

      »Mein Mann hat das schon gemacht. Wir kennen diese Übung, weil ich selbst unter Asthma bronchiale leide. Trotzdem ist es nicht besser geworden.«

      Fritz W. war auf den Flur gegangen und hatte sich auf das Treppengeländer gestützt, wobei er weiter nach Luft rang. Auch das berichtete Frau W. dem Arzt. Er bat sie, den Puls fühlen. Sie versuchte es, erklärte aber dann, sie könne nichts feststellen, vielleicht auch wegen der Anspannung. Dr. St. bat sie, den Herzschlag zu fühlen und ihm zu berichten, ob das Herz auffallend schnell schlägt. Frau W. berichtete, sie sei sich nicht sicher: »Manchmal fühle ich den Herzschlag und manchmal nicht. Ich weiß auch nicht.«

      Dr. St. fragte, welche ihrer eigenen Medikamente sie dem Ehemann schon gegeben habe. Er war mit der Antwort zufrieden. »Nun warten Sie mal ab. Schließlich müssen die Medikamente erst einmal wirken. Rufen Sie mich in einer Stunde wieder an.« Frau W. insistierte. Sie habe ihrem Mann auch einen Stoß Aerosol Allergospasmol (Medikament gegen Asthma bronchiale) verabreicht, ohne dass sich eine Besserung eingestellt habe.

      Dr. St. ließ sich nicht erweichen. Sie solle die Wirkung der Tabletten abwarten.

      Man muss an dieser Stelle einfügen, dass der Wohnort des Patienten von der Praxis des Bereitschaftsarztes drei Kilometer entfernt war. Dr. St. hätte binnen weniger Minuten eintreffen können.

      Wichtig ist auch, dass Dr. St. die Eheleute W. nicht kannte. Er war nicht ihr Hausarzt. Trotzdem hat er keine Fragen nach etwaigen Vorerkrankungen oder Vorbefunden gestellt.

      Gegen drei Uhr rief Frau W. erneut an, weil sich der Zustand des Ehemanns nach ihrem Eindruck verschlechtert hatte. Er rang immer stärker nach Luft, was sie dem Arzt eindringlich schilderte, mit der erneuten Bitte um den bislang abgelehnten Hausbesuch. Dr. St. erklärte, sie solle den Patienten ins Auto setzen und in seine Praxis bringen.

      Frau W. versuchte es. Sie bat den Ehemann, langsam die Treppen hinunterzugehen bis zur Garage. Nach ein paar Schritten blieb er stehen. »Es geht nicht mehr«, keuchte er. »Ich kriege keine Luft. Siehst Du das nicht? Ich kann gar nicht mehr gehen!« Fritz W. lehnte sich mehrfach mit erhobenen Armen an den Wänden im Treppenflur an und rang laut röchelnd nach Luft.

      Frau W. rannte zum Telefon. Sie flehte den Bereitschaftsarzt regelrecht an, sofort zu kommen, ihr Ehemann würde ersticken. Als der Arzt den Besuch zum dritten Mal ablehnte, schrie sie ihn an: »Was sind Sie denn für ein Arzt? Wer hat Sie denn zum Bereitschaftsdienst eingeteilt? Wenn Sie nicht kommen, geben Sie mir doch das Rote Kreuz, oder ich rufe die Polizei!«

      Frau W. war zum damaligen Zeitpunkt Chefsekretärin des Sparkassendirektors, also an beherzte Auftritte gewöhnt. Dr. St. blieb hart. Er wies die lästige Anruferin mit dem Hinweis zurecht, dass er bei dem telefonisch geschilderten Befund vermutlich eine Infusion verabreichen müsse. Das ginge nur in seinen Praxisräumen. Frau W. solle notfalls ein Taxi bestellen.

      Als sie erklärte, dass ihr Ehemann nicht mehr allein und auch nicht mit ihrer Unterstützung in ein Taxi einsteigen könne, gab Dr. St. zur Antwort, sie müsse dann eben einen Krankenwagen rufen.

      In ihrer Not rief Frau W. eine Nummer des Roten Kreuzes an, die sie sich vom Anrufbeantworter ihres Hausarztes notiert hatte. Die Rettungswache des DRK und auch die Krankenwagen waren im örtlichen Kreiskrankenhaus stationiert. Der Rettungssanitäter, der den Anruf entgegennahm, erklärte ihr, dass der Rettungsdienst für solche Transporte »nicht zuständig« sei. Sie müssten von einem Arzt angeordnet werden. Sie solle den Bereitschaftsarzt wieder anrufen, damit dieser den Transport anordnen könne.

      Frau W. rief zum vierten Mal bei Dr. St. an. Sie bat ihn darum, wegen der nunmehr äußersten Dringlichkeit selbst beim Rettungsdienst anzurufen und den Krankentransport anzuordnen. Das sagte der Arzt auch zu.

      Fritz W. litt inzwischen unter massiven Schweißausbrüchen. Er wurde im Gesicht immer blasser. Die Ehefrau legte ihm ein nasses Handtuch auf die Knie. So hatte sie es für ihre eigenen Asthmaanfälle gelernt.

      Da immer mehr Zeit verging, rief Frau W. gegen 03.35 Uhr erneut bei der Rettungswache an. Überraschend wurde ihr erklärt, dass kein Arzt sich gemeldet habe.

      Voller Zorn und in panischer Angst rief sie zum fünften Mal bei Dr. St. an. Nun meldete sich dessen Ehefrau. Ihr Mann habe sich leider nicht den Namen und die Anschrift notiert. Er könne der Rettungswache deshalb nicht sagen, wo sie den Wagen hinschicken soll.

      Frau W. war völlig aus dem Häuschen. Sie teilte der Arztgattin die Anschrift mit und drohte an, dass die Sache ein Nachspiel haben werde.

      Es war schließlich 4.43 Uhr geworden (Notiz in der Rettungswache), als Dr. St. den Rettungsdienst anrief. Seit dem ersten Anruf von Frau W. beim Bereitschaftsarzt waren also mehr


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