Marivan unter den Kastanienbäumen. H. Ezadi

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Marivan unter den Kastanienbäumen - H. Ezadi


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aber es war nun mal seine Entscheidung, Lehrer zu werden und zu sein.“

      Die beiden wollten wieder aufbrechen, aber ich hielt sie zurück: „Wartet! Ich will euch noch etwas fragen. Ich möchte gern morgen mit euch kommen, ich helfe euch und komme mit nach Sene.“

      Jewad protestierte: „Nein, nein, morgen geht das nicht; vielleicht ein anderes Mal. Morgen ist Samstag und du musst zur Schule gehen. Spätestens übermorgen sind wir wieder hier und ich erzähle dir dann alles.“

      „In Ordnung, Jewad, also wo treffen wir uns übermorgen?“ Ich wollte ihn nicht ohne Verabredung gehen lassen.

      „Nun ja, komm ins Kaffeehaus, dort werden wir uns sehen.“

      Kurz darauf waren die beiden mit dem Motorrad außer Sichtweite. Wenige Minuten später kam auch schon mein Vater aus der Moschee zurück und wollte wissen, ob Kunden da gewesen seien.

      „Nein, Vater, in dieser Zeit ist niemand gekommen“, antwortete ich etwas verlegen. „Vielleicht waren deine Kunden ja auch alle in der Moschee.“

      Er gab mir zwei Toman und sagte: „Du kannst jetzt nach Hause gehen. Ich brauche dich hier nicht mehr.“

      Mein Vater war heute sehr großzügig, aber mit zwei Toman konnte man nicht die Welt erobern. Ich schlenderte nach Hause und wusste, dass der Betrag nicht ausreichte, um nach Sene fahren. Ach, dachte ich, ich kaufe mir ein Eis bei Isse Genat, der kleinen Konditorei mit dem leckersten Eis in der ganzen Stadt. Ich zahlte fünfzig Rial und würde den Rest sparen. Es war das Beste, das Geld zu verstecken, damit es mein Bruder Nasser mir nicht wegnahm.

      Mein Eis schmeckte wunderbar, aber ich machte mir Gedanken wegen des Hungerstreiks. Es war mir unvorstellbar, dass man mehrere Wochen nichts aß und trank. Kak Foads makelloses Gesicht kam mir in den Sinn. Ich erinnerte mich an die Zeit. als er im Nachbarhaus von Rahimi gewohnt hatte. Meine Mutter sprach oft mit unserer Nachbarin über Foad. Sie erzählten nur Gutes über ihn. Er sei immer höflich und zuvorkommend, hieß es. Manche Mütter aus armen Familien waren neidisch auf Foads Mutter. Dade Fathe, die gegenüber von uns wohnte, sagte oft: „Nicht nur reiche Familien können ihre Kinder gut erziehen. Aber wie sollten wir als arme Familie ein Studium bezahlen? Wir sind nicht so reich wie die Soltani-Familie. Unser Kind muss arbeiten und Geld verdienen.“ Sie war aber auch der Meinung, dass Intelligenz nichts mir Arm oder Reich zu tun hatte. Es gab Kinder von stinkreichen Familien, die nicht einmal einen Schulabschluss hatten und von Haus aus dumm oder faul waren. Kak Foad war anders, auch wenn er aus einer reichen Familie kam. Man sah es ihm nicht an und er benahm sich wie einer von uns. Aber wenn er doch gelernter Ingenieur war, warum war er dann Lehrer geworden? Warum wurden alle guten Menschen in unserer Stadt Lehrer? Hatte das etwas mit der Hintergrundorganisation zu tun? Kak Foad mischte sich unter die Studenten und Schüler, redete mit ihnen und baute seine Organisation auf, falls es diese überhaupt gab. Im Grunde war es nur ein Gerücht. Man hörte, er sei politisch aktiv, aber niemand wusste Genaueres. Ich wollte so gern mehr erfahren und nach Sene fahren. Aber wie sollte das gehen ohne das nötige Geld?

      Am Abend versuchte mein Vater die Nachrichten im Radio zu hören, doch es kam nur ein Rauschen aus dem Lautsprecher. Scheinbar fand er nicht die richtige Frequenz. Meine Mutter hielt sich die Ohren zu, bäumte sich vor meinem Vater auf und sagte: „Was soll das? Das ist ja unerträglich. Hör auf mit dem blöden Kasten und setz dich lieber vor den Fernseher. Wenn du die Nachrichten hören willst, kannst du das auch im Fernsehen tun und musst hier nicht so einen Krach mit dem blöden Radio machen.“

      Mein Vater antwortete ihr: „Ach, was sagst du da! Im Fernsehen senden sie doch nur Propagandaberichte des Regimes. Es gibt dort keine Wahrheit. Die gibt es nur bei BBC oder anderen Sendern aus dem Ausland. Das Regime stellt Parasiten-Sender auf die ausländischen Sender ein, sodass man nichts Konkretes hören kann. Daher kommen diese unerträglichen Geräusche.“

      Ich setzte mich in die Nähe meines Vaters auf das Sofa, um nichts von dem zu verpassen, was der BBC berichtete. Bis mein Vater die richtige Frequenz gefunden hatte, dauerte es eine halbe Stunde. Dann hörten wir einen Bericht über die Gefängnisse in Teheran, das Gassergefängnis und viele andere Orte. Es wurde berichtet, dass dort viele Gefangene auf übelste Weise gefoltert und dass Menschenrechte missbraucht wurden. Von Sene berichtete man nichts im BBC-Radio. In diesem Moment wollte ich meinem Vater sagen, dass im Gefängnis in Sene (Sanandaj) ebenfalls gefoltert wurde und dass die Gefangenen, unter anderem Foad, dort im Hungerstreik seien. Dann hielt ich mich aber zurück und sagte mir: Hussein, halte besser deinen Mund, sonst kommen Fragen über Fragen! Mein Vater würde es schon irgendwann von anderen hören.

      An meine Mutter gewandt sagte er: „Ich denke, langsam kommen die Unruhen auch in unsere Region. Nicht umsonst sieht man den Schah und seine Frau nicht im Fernsehen. Von der BBC konnte ich hören, dass bald ausländische Menschenrechtler in unser Land kommen, um die Lage zu prüfen. Und sie wollen die Gefängnisse auf die Einhaltung der Menschenrechte untersuchen.“

      „Ach, die finden immer Schuldige“, meldete sich meine Mutter zu Wort. „Woher sollen sie auch wissen, dass die Savak und die Gendarmen die jungen Studenten inhaftieren und foltern! Denk an den armen Hajeje, dem man die Finger- und Fußnägel ausgerissen hat, nur weil er Analphabet ist und sich nicht verteidigen konnte. Warum braucht der Schah so viele Geheimdienste? Wenn sie Schuldige finden wollen, finden sie welche und hängen sie kurzerhand auf. Die kleinen Beamten nehmen sie als Alibi und haben keine Skrupel. Menschenleben sind dem Regime doch egal. Damit beruhigen sie die Bevölkerung und es geht alles weiter wie bisher.

       Die Suppe ist die gleiche Suppe, die vorher gekocht wurde, die Teller sind die gleichen Teller, die man zuvor benutzte, man hat sie nur gewaschen.

      „Nein, Mele, du hast es noch nicht ganz verstanden. Es kommen Menschenrechtler aus dem Ausland, um hier alle Ungerechtigkeiten zu prüfen. Wenn das Ausland all diese Folter in Gefängnissen feststellt, wird das Land vom Westen nicht mehr unterstützt. Das musst du verstehen. Darum geht es. Bedenke, dass der Schah nur durch die Amerikaner und Europäer stark ist, sonst hätte er selbst keine Macht. Die schreiben ihm vor, was er zu tun und zu lassen hat. Wenn er die Solidarität der Amerikaner verliert, verliert er seine Macht und sein Regime und ist nur noch ein kleines Sandkorn in der Wüste.“

      „Ach, bist du denn blind?“, konterte meine Mutter. „Die machen, was sie wollen, auch für das Ausland. Denkst du, die könnten nichts von dem vertuschen, was hier in den Gefängnissen täglich passiert? Was glaubst du, warum der Schah und seine Frau dauernd im Fernsehen zu sehen sind. Man sieht von ihnen nur gute Taten, die lassen Kurzberichte filmen, zeigen sich von der besten Seite, gehen ins Kinderhospital und putzen den Kindern die Nase, nur um von der Realität abzulenken. Wenn die Menschenrechtler aus dem Ausland kommen, gibt es doch nur offizielle Termine. Sie werden alles so vorbereiten, als wäre nichts Unrechtes in unserem Land geschehen. Die sind mit allen Wassern gewaschen und verschleiern, wo sie nur können. Ich sage dir, die werden einfach Savakleute und Beamte im Gefängnis vorführen. Die sehen schließlich gut genährt aus. Die wirklichen Insassen bekommt niemand nicht zu Gesicht. Die vom Ausland machen ein paar Fotos und gehen wieder nach Hause. So wird es sein. Es ist alles nur eine Verschleierungstaktik und die Ausländer schreiben dann in ihrem Bericht, dass der Iran die humansten Gefängnisse der Welt hat.“

      Ich konnte der Diskussion meiner Eltern nicht länger zuhören, doch es war die Wahrheit. Ich wollte morgen nicht verschlafen sein und ging ins Bett. Und selbst da hörte ich noch die laute Diskussion meiner Eltern, bis ich endlich einschlief.

      In den frühen Morgenstunden wachte ich mit verschlafenen Augen auf. Mein Hirn hatte noch Sequenzen des Traumes in der Erinnerung, wie es oft bei Träumen war. Das Unterbewusstsein arbeitete wohl die ganze Nacht. In meinem Traum hatte ich alle unschuldigen Gefangenen, die nur wegen ihrer politischen Meinung im Gefängnis waren, befreit. Alle meine Kameraden aus meiner Klasse hatten mir geholfen, indem wir Seile, an denen kleine Sägen befestigt waren, in die Fenster der Gefangenen warfen. Wir hatten Lastwagen organisiert, die vor den Gefängnismauern warteten, bis die Gefangenen in dem Moment über die Mauern kletterten, als das Licht des Turmes sie in der Dunkelheit nicht bemerkte. Ich hatte Kak Foad befreit, jedoch hatte er fast keine Kraft mehr gehabt, um über die Mauer zu klettern. Ich war eine Leiter hochgestiegen, um ihm zu helfen


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