Leonardus Lofti und die Katzenmumie. Karla Schniering
Читать онлайн книгу.keuchte. Rasend schnell tanzte das Holz auf den schmutzigen Fluten. Dann lief das Wasser direkt vor ihm plötzlich gurgelnd in einen Gully, und Fred krallte sich noch fester und schloss erschöpft die Augen. Das war das Ende. Er wusste genau, wenn er erst einmal im Abwasserkanal landen würde, wäre er innerhalb kürzester Zeit tot, denn dort begann das Reich der Ratten. Keine Maus hatte jemals einen Ausflug in die Kanäle überlebt, keine.
Klack! Fred schlug nach vorne, hielt sich aber immer noch tapfer am Holz fest und öffnete die Augen. Trotz der Dunkelheit konnte er erkennen, dass sich sein Rettungsholz vor dem Gully quer gelegt hatte. Ein tiefer Seufzer kam aus seiner kleinen Mäusebrust, und Fred hangelte sich Schritt für Schritt auf dem Holz entlang zum Bordstein. Noch drei Schritte, noch zwei, geschafft. Erschöpft blieb Fred einen kurzen Moment liegen. Dann rannte er los, zurück in die Richtung, aus der er gekommen war. Er musste die Apotheke finden, dann war alles gut.
»Was hatte der Colonel gesagt?«, murmelte Fred. »Und wo war der Bursche bloß?« Schreien konnte Fred nicht, das hätte sofort alle Katzen aus der Nachbarschaft auf den Plan gerufen, trotz des Regenwetters. Nach einer kleinen Ewigkeit sah Fred die vertrauten Lichter der Apotheke wieder. Blitzschnell hopste er über das glatte Kopfsteinpflaster der Straße. Neben der Apotheke, hatte der Colonel gesagt. Irgendwo hier unten musste es sein. Ein kleines Schild leuchtete in der dunklen Nacht, gerade mal so groß wie ein Mäuseohr. Fred schlich sich heran. Neben einer winzigen Holztür stand auf dem Schild:
PROFESSOR LEONARDUS LOFTI
Erfinder, Kräuterkundler und
Hobbykriminologe
Fred nickte erleichtert. Er war endlich angekommen. Er ballte die kleine Pfote zu einer Faust und wollte anklopfen. In diesem Moment erschütterte eine Explosion die Luft, die Tür flog auf, und es wurde Nacht um Fred.
*
»Hallo! Junger Mann, aufwachen!« Von sehr weit her hörte Fred eine Stimme. Dann spürte er, wie ihm jemand irgendein scharfes Zeug in den Mund träufelte. Schlagartig war Fred wach. Er hustete und spuckte, aber der schlechte Geschmack blieb. »Da, trink das!«, sagte die Stimme wieder. Durch einen Tränenschleier sah Fred eine Maus mit einer großen Brille auf der Nase und einem freundlichen Lächeln. Allerdings passte die Kleidung nicht ganz zu diesem sympathischen Eindruck.
Sie war nicht nur an vielen Stellen verkohlt, auch die Kopfhaare ihres Besitzers standen hoch und waren offensichtlich angebrannt.
Fred trank einen Schluck Wasser und fühlte sich gleich besser. Bevor er etwas sagen konnte, stellte sich der halbverkohlte Mäuserich vor. »Ich bin Professor Lofti. Tut mir leid, dass du gerade in einen Versuch geplatzt bist. Besucherpech.« Er kicherte. »Passiert mir dauernd. Aber egal. Wer bist du denn? Wolltest du zu mir?«
Fred nickte. »Fred Wiesnatt. Ich bin mit dem Colonel unterwegs. Ist er noch nicht hier?«
Der Professor schüttelte den Kopf.
»Nein, außer dir ist keiner angekommen, aber kein Wunder. Mistwetter draußen. So, wie wär’s mit einem kleinen Keks? Interessiert mich schon, der Colonel? Hmh?« Er nahm die Brille ab und putzte sie.
»Bist du einer von den Talmann-Wiesnatts?«, fragte er und setzte die Brille wieder auf, während er Fred aufmerksam musterte.
Fred nickte. »Mein Vater ist Heribert Wiesnatt und meine Mutter Rosabell Talmann.«
»Oh, die schöne Rosabell!«, rief der Professor begeistert. »Nie gesehen, aber viel davon gehört. Na ja, ein Studiosus wie ich heiratet selten, ich nie. Warte mal.«
Er sprang zu einem roten Knopf und drückte darauf. Kurz danach erschien eine winzige weiße Maus.
»So spät noch Wünsche, Professor?«, fragte sie. Da sah sie Fred. »Oh, ein Gast!« Die Maus schlug die kleinen Pfoten vors Gesicht. »Professor! Das hätten Sie mir sagen müssen. Ich muss das Gästezimmer richten. Ach du meine Güte … « Aber Professor Lofti hielt die weiße Maus einfach am Arm fest und stellte die beiden einander vor. So erfuhr Fred ganz nebenbei, dass die weiße Dame nicht nur Blanche hieß, sondern auch vor langer Zeit von Professor Lofti aus einem Labor gerettet worden war.
»Tragische Geschichte«, meinte der Professor kopfschüttelnd. »Nebenbei gesagt, wir haben damals viele gerettet, aber die meisten sind danach ausgewandert. Blanche wollte bleiben. Na ja, ist auch besser so. Sie hält hier alles in Schuss und macht die besten Käsespätzle der Stadt.«
Der Professor nickte kurz, und Fred folgte ihm durch die Wohnung, vorbei an blubbernden Glaskolben mit irgendwelchen bunten Flüssigkeiten und vielen Flaschen, Tiegeln und Tuben. Da hingen Kräutersträuße von der Decke, und es duftete undefinierbar nach einer Mischung aus Jasmin, Chemie und Pfeifentabak.
»Übrigens, mit Schwarzpulver arbeite ich nur im Flur«, sagte der Professor gerade. »Sonst würde hier ja alles auseinanderfliegen.« Aha! Fred nickte, wusste aber überhaupt nicht, was der Gelehrte damit meinte.
»Ach so, du kennst das gar nicht. Man sieht’s dir an.« Er lächelte, dann redete er weiter.
»Schwarzpulver explodiert, wenn man es entzündet. Oben in der Apotheke haben sie eine Menge davon, deshalb wohne ich hier. Alle Chemiker oder Erfinder großer Dinge wohnen unter oder neben Apotheken. Ist ganz praktisch, man hat alles nahe dabei, man muss allerdings auch lesen können.«
Fred nickte, lesen konnte er, seine Mutter hatte es ihm beigebracht. Trotzdem verstand er fast nichts von dem, was auf den Gefäßen stand, Acidum nitricum oder Natrium Chlorid zum Beispiel oder Ignatia und Arnica montana.
Inzwischen hatten sie eine gemütliche Sofaecke erreicht, und der Professor zündete sich ein Pfeifchen an. Würziger Tabakduft erfüllte bald darauf den Raum, und wäre der Professor nicht so verkohlt gewesen, hätte Fred die Explosion beinahe vergessen können. Aber Lofti schien sein Äußeres überhaupt nicht zu interessieren, er wollte endlich wissen, warum Fred gekommen war.
Fred nahm einen Keks vom Teller und knabberte daran.
»Ich weiß nicht, Professor, sollten wir nicht besser auf den Colonel warten?«, fragte Fred unsicher. »Ich kann Ihnen zwar erzählen, warum wir hier sind, aber der wirkliche Experte ist der Colonel.«
»Papperlapapp, jetzt oder nie. Wenn er noch kommt, soll er die Geschichte meinetwegen noch einmal erzählen. Wenn nicht, na ja. Mäusepech. Immerhin, mein Junge, hast du es bis zu mir geschafft. Scheinst ein Glückspilz zu sein.« Er zog an seiner Pfeife und grinste zuversichtlich. Fred schluckte die letzten Krümel herunter, räusperte sich und überlegte. Die Sache war gar nicht so einfach.
Außerdem machte er sich inzwischen große Sorgen um den Colonel, der außerdem auch noch sein Großonkel war. Fred mochte den alten, knorrigen Gesellen, der sich im Museum auskannte wie kein Zweiter und auch die Idee hatte, den Professor um Hilfe zu bitten. Gerade als Fred Luft holte, um dem Professor zu berichten, erklang der hohe Ton der Türglocke. Ohne auf den Professor zu achten sprang Fred vom Sessel auf und rannte zur Haustür. Er ahnte, nein, er wusste, wer vor der Tür wartete – und richtig. Blutend und völlig erschöpft taumelte der Colonel seinem Großneffen in die Arme.
»Fred, Gott sei Dank, dass du es geschafft hast. Es war die Hölle, mein Junge, die Hölle. Ich bin den Ratten nur mit knapper Not entwischt.«
Fred zog den Colonel in den Flur und knallte mit dem Fuß die Tür zu. Blanche und der Professor warteten schon auf die beiden Abenteurer.
»Kommen noch mehr?«, wollte die weiße Maus wissen, während Fred seinen Großonkel zur Sitzecke führte.
»Nein, Blanche«, meinte Leonardus Lofti und nahm eine Flasche aus dem Regal. »Aber ich möchte dich bitten, zwei Gästebetten zurechtzumachen. Vielleicht auch ein heißes Bad, der Onkel von Fred möchte bestimmt gleich baden!«
»Dazu bleibt keine Zeit«, keuchte der Colonel. »Die Ratten aus der Kanalisation von vorhin waren schon schrecklich, aber was ich Ihnen gleich erzähle, Professor, übertrifft an Grauen Ihre schlimmsten Erwartungen. Wir benötigen dringend Ihre Hilfe, und zwar schnell.«
Professor