Der schwarze Witwer. Horst Bosetzky

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Der schwarze Witwer - Horst Bosetzky


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      «Aber selbstredend!», rief Scharrach. «Das ist das Paradies hier.»

      «Obwohl es manchmal Jagdunfälle gibt …», wandte Katzmann ein.

      Scharrach winkte ab. «In welchem Beruf gibt es keine Unfälle?

      Mein Vater hat immer gesagt: Junge, wenn du Pech hast, bricht dir beim Popeln der Finger in der Nase ab. Aber klar, auch mir geht der Tod von Frau Doktor Florschütz an die Nieren, sie war ja eine unheimlich nette Frau. Ich habe die Nacht nicht richtig schlafen können.»

      Nun schwiegen sie eine Weile, und erst nachdem sie mehrere hundert Meter gegangen waren, nahm Katzmann den Faden wieder auf. «Für uns Städter hat der Försterberuf vornehmlich romantische Seiten …»

      «Ach, das ist überwiegend harte Arbeit! Ich muss mich nicht nur um die Tiere kümmern, sondern auch um die Bäume. Welche müssen gefällt, welche neu gepflanzt werden? Das gefällte Holz muss dann sortiert und für den Käufer termingerecht hergerichtet werden. Da muss ich ganz Kaufmann sein.»

      «Und die Jagd, die bringt doch auch was ein?», unterbrach ihn Katzmann. «Wenn die Jagdgesellschaften kommen, die Honoratioren aus dem Umkreis …»

      «Das stimmt. Ich bin aber vor allem mit folgenden Fragen beschäftigt: Gibt es zu viele Tiere im Wald, und schaden sie den Bäumen? Welche Tiere müssen in welchem Umfang gejagt werden? Obendrein kümmere ich mich auch noch um die Wege für die Wanderer, die Radfahrer und die Reiter. Sie sehen, Arbeit über Arbeit. Und viel Ärger – wie der Jagdunfall gestern.»

      «Da wären wir ja beim Thema. Wie war denn die Reihung der Personen? Wer lief hinter wem?»

      «Warten Sie, gleich sind wir an der Stelle angekommen, wo es passiert ist, dann zeige ich Ihnen alles ganz genau.»

      «Ich bin gespannt», sagte Katzmann, obwohl ihm schon klar war, dass Gisela Florschütz nicht die Letzte gewesen sein konnte.

      Nach ein paar Minuten waren sie an der Unfallstelle angekommen. Es ging hier durch ein Stück sumpfiger Wiese, und es gab nur einen schmalen Pfad, so dass man hintereinandergehen musste. Links und rechts war dichtes Gebüsch, von Westen her ragte ein Stück Laubwald wie eine Landzunge in die Niederung.

      «Ganz vorn ist Meinhard Müschen gegangen, unser Apotheker», erklärte ihm Scharrach. «Dann kamen Ludwig Hölzel, unser Rektor, Gerhard Pöhlau, unser Hotelbesitzer, und Heinrich Nobitz, das ist einer von der DNVP. Hinter dem ging dann Gisela Florschütz», er stieß einen tiefen Seufzer aus, «und am Schluss der Sanitätsrat und ich.»

      «Sie nicht an der Spitze?», fragte Katzmann.

      «Nein, ich gehe immer hinten, bis wir da angekommen sind, wo es mit der Jagd wirklich losgeht. Und der Müschen ist ein großer Wanderer und kennt den Weg bis dorthin genauso gut wie ich.»

      «Und Ihre Frau war nicht mit von der Partie?»

      Scharrach verneinte. «Waldtraud? Die macht sich nichts daraus.»

      Katzmann holte sein Notizbuch hervor und machte sich eine Skizze vom Unfallort und der besagten Reihung der Personen.

      «Und was ist dann passiert?»

      «Nun, es ging alles ganz schnell …» Scharrach schloss die Augen, um sich besser erinnern zu können. «Doktor Florschütz ist vielleicht zwei Meter vor mir gelaufen und seine Frau mit etwa demselben Abstand vor ihm … Ich habe gesehen, dass der Schnürsenkel an seinem rechten Stiefel aufgegangen ist und wollte ihm das zurufen, da ist er auch schon gestolpert – und dann hat sich plötzlich ein Schuss gelöst … Das schreckliche Ende kennen Sie ja. Gisela ist an Hals und Hinterkopf getroffen worden, die Wirbel sind zertrümmert worden, die Bleikugeln sind ihr ins Gehirn gedrungen und …»

      Katzmann drehte sich weg. «Hören Sie auf!»

      «Sie wollten es doch ganz genau wissen.»

      «So genau nun auch wieder nicht!» Den Obduktionsbericht würde er sich schon irgendwie beschaffen können. Katzmann sah sich noch eine Weile um. Alles war so zertreten, als hätte eine Viehherde geweidet. Klar, die Kriminaltechniker und Photographen waren am Werke gewesen. Bei tödlichen Unfällen mit Schusswaffen gab es immer ein großes Bohei.

      «Reicht Ihnen das für einen Sonderbericht?», wollte der Oberförster wissen.

      Katzmann zögerte mit einer Antwort. «Mh … Ich hätte schon noch gern mit Doktor Florschütz selbst gesprochen.»

      «Das kann ich verstehen. Kommen Sie, wir marschieren zurück ins Forsthaus, und dann sehe ich einmal nach, wie weit er sich schon erholt hat und ob er die Kraft hat, mit Ihnen zu sprechen.»

      Während der Oberförster ins Haus ging, setzte sich Katzmann auf die Terrasse, wo auf dem Tisch einiges an schmutzigem Geschirr stehengeblieben war. Ins Auge fiel, dass ein Teller mit Braten und Klößen kaum angerührt worden war. Daneben lagen die Sonnabend und die Sonntagsausgabe des Pirnaer Anzeigers. die vom 6. und 7. September 1924. Katzmann stürzte sich nicht gerade auf die Provinzzeitung, aber neugierig war er doch auf das, was man hier vor den Toren Dresdens für wichtig hielt … Im Palast-Theater Pirna gab es den dritten Teil des Ufa-Films Tragödie der Liebe. und im Volkshaus Pirna konnte man am Sonntag, nachmittags um drei Uhr, ein großes Schubert-Konzert genießen. Die Musiker kamen aus Berlin. Einen Roman hatten sie auch im Blättchen, und zwar den Sportroman Der letzte Start von einem gewissen Otfrid von Hanstein. Erstaunlich wenig war über Pirna selbst zu lesen, aber der Pirnaer Anzeiger war ja auch, wie auf der ersten Seite zu lesen war, das Hauptblatt für das gesamte Gebiet der Sächsischen Schweiz, das Meißener Hochland, das Müglitz- und das Gottleubatal. Katzmann legte die Samstagsausgabe beiseite und griff zur Zeitung vom Sonntag, um zu sehen, ob die bereits ein paar Zeilen über den mysteriösen Jagdunfall im Kirnitzschtal enthielt. Beim ersten Umblättern fand er nichts. Was ihm jedoch auffiel, war eine Beilage mit dem Titel Frauen-Zeitung. Er musste schmunzeln, als er die einzelnen Rubriken las: Was bringt die Herbstmode – Das Sofakissen – Wenn ich hässlich wäre – Mein Junge hilft im Haushalt.

      In diesem Augenblick kam die Gattin des Oberförsters aus dem Haus, um den Tisch abzuräumen. Sie begrüßte ihn wortlos mit bloßem Nicken des Kopfes und ließ deutlich erkennen, dass sie kein Gespräch mit ihm beginnen wollte. Sie stellte das schmutzige Geschirr auf ein Tablett und legte die Zeitungen dazu.

      Gerade war Waltraud Scharrach im Haus verschwunden, da ließ sich Dr. Florschütz blicken und setzte sich etwas abseits an einen zweiten Tisch. Er sah müde aus, und sein Schritt war etwas schleppend, insgesamt aber machte er doch einen recht gefassten Eindruck. Katzmann hatte dennoch Hemmungen, ihn anzusprechen. Er war kein Pfarrer und keiner dieser neumodischen Psychologen. «Mein herzliches Beileid» konnte er schlecht sagen, seine Frau war nicht eines natürlichen Todes gestorben – er hatte sie ja selbst getötet.

      Scharrach kam aus dem Haus und nahm Katzmann die Arbeit ab, indem er ihn vorstellte.

      «Konrad Katzmann, Zeitungsschreiber aus Dresden.» Und Scharrach fragte Dr. Florschütz auch, ob er zu einem kurzen Gespräch bereit sei.

      «Ja, wenn es unbedingt sein muss.»

      Katzmann näherte sich mit einer angedeuteten Verbeugung, gab Dr. Florschütz die Hand und murmelte: «Sie haben mein volles Mitgefühl, Herr Sanitätsrat.»

      «Danke.» Dr. Florschütz forderte ihn mit einer knappen Handbewegung auf, sich zu ihm zu setzen. «Es ist ja klar, dass sich die Presse auf mich stürzen wird.»

      «Die Menschen wollen Anteil nehmen …»

      «Schreiben Sie, junger Mann: Ich habe im Krieg viel Schreckliches erlebt, habe Hunderte von Menschen vor mir sterben sehen, auch unter meinen Händen, doch die eigene, innig geliebte Frau …» Er musste schlucken, seine Stimme versagte. «Und dann noch durch mein eigenes Gewehr, mein Gott!»

      Katzmann schrieb in sein Notizbuch, dass der Mann nur noch ein einziges Häufchen Elend sei. Verständlich! Einen schwereren Schicksalsschlag kann man sich nicht vorstellen, als den Menschen, den man vor allen anderen liebt, mit eigener Hand getötet zu haben.

      Scharrach zog


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