Patchwork – Leben mit einer psychischen Krankheit. Ulrike Infante

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Patchwork – Leben mit einer psychischen Krankheit - Ulrike Infante


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Auf der Fan-Meile am Brandenburger Tor konnte man das WM-Fieber richtig spüren. Anfang Juni fand ein Klassentreffen statt, fünfundzwanzig Jahre Abitur. Es wurde in einem Hotel in A. gefeiert, vom Samstag zum Sonntag. Es ging mir an diesem Tag nicht all zu gut, doch ich war froh, mit dabei zu sein. Nachts kamen die Stimmen der alten Schulkameraden zurück, „bajaron los Espiritos“ würde man in Peru sagen. Das heißt, die Stimmen und Geister kamen nach vielen Jahren zurück. Die beste Ausstellung in diesem Jahr in Berlin war „Melancholie“ – Genie und Wahnsinn - in der Neuen Nationalgalerie. Außerdem sahen wir uns die Rembrandt-Ausstellung im Kunstforum und die Ausstellung „das Gold der Inka“ an. Im Museum fühle ich mich immer sehr kreativ.

       Wenn ich gut drauf bin, ist meine Phantasie in Museen auf dem Höhepunkt.

       Ihre Frau Ulrike

      Es gibt ein Buch, „Schlüssel des Glücks“, von Michail Soschtschenko. Er beschreibt, wie er seine psychische Krankheit heilen konnte. Nur durch erinnern, verarbeiten, schreiben. Oder auf der anderen Seite durch Analyse und Therapie. Ich hatte damals in meiner ersten Therapiegruppe, als eine andere Patientin das Buch empfahl, nicht daran geglaubt. Ich konnte mich bis zum Schulanfang erinnern, den schwarzen Rock einer Tante, die drückenden Schuhe und die große Zuckertüte. Ich hätte nie geglaubt, dass man sich bis zu seiner eigenen Geburt erinnern kann. Nun gut, gegen die pawlowschen Reflexe kommt man nicht an und die Krankheit ist schwer zu ertragen, aber die gesunden Teile, wenn du sie findest, gib sie dir selbst und einem anderen.

      Ich weiß noch, wie ich auf die Welt kam und meine Mutter Gudula Lieselotte Baumann „de Müller“ in der spanisch sprachigen Welt, weiß das auch noch ganz genau. Es war dunkel und sehr eng. Mutter sagt immer, dass es vierundzwanzig Stunden Wehen gedauert hat. Dann rief die Hebamme ganz laut: „Frau Müller! Ein Jungenkopf!“ Doch oh blub, ein Mädchen. Es war an einem Sonntag, zur Mittagszeit, als ich das Licht der Welt erblickte. Es hieß dann immer, ich sei ein Sonntagskind. Man klebte mir ein Pflaster mit meinem Namen an das Ärmchen und ich lag mit vielen anderen Babys in einem großen Saal. Nur zum Stillen wurden wir zu den Müttern gebracht. Ich bekam den Namen Ulrike, weil meiner Tante dieser Name immer so gut gefiel und sie zwölf Tage vor meiner Geburt, im Alter von neunundzwanzig Jahren, verstarb. Sie war meine einzige Tante. Jahre später, nach meinem Aufenthalt in der Psychiatrie, fand Mutter zwischen alten Kleidern in der Bodenkammer ein Nachthemd von Tante Maria - hellgrün geblümt. Sie fragte mich, ob ich es haben wolle. Mir gefiel es und ich war mir sicher, dass ich trotz der schweren Krankheit mindestens neunundzwanzig Jahre werden würde. Was ich genau weiß ist, dass mich mein Vater sehr liebte. Er nahm mich gern hoch, an seine linke Schulter. Meine Mutter legte all ihren Ehrgeiz in mich. Sie schrieb nachts sogar Tagebuch für mich und schreibt mir auch heute noch. Wenn wir uns gestritten haben, verzeihen wir uns auf diese Weise. Schriftlich. Das heißt, wir können uns vergeben.

      Als meine Schwester geboren wurde, war es Nacht und tiefer Winter. Mutter war die Fruchtblase geplatzt, sie musste schnell in die Klinik. Ich war wach geworden, denn es gab eine helle Aufregung, weil wir eingeschneit waren. Vater musste erst noch den Weg frei schippen. Dann kam der Krankenwagen. Henriette war ganz schnell da. Mutter Gudula hatte schon bei mir mit einer in Mode gekommenen neuen Atemtechnik eine schmerzarme Geburt gehabt.

      Es wird erzählt, dass ich nicht essen wollte. Erst als Henriette da war, kam der Futterneid und ich hätte auch gegessen. Ich erinnere mich an den Geschmack des Apfelbreis und an die Fläschchen. Sie standen noch viele Jahre im Küchenschrank. Nachdem Henriette geboren war, und Mutter nicht wusste, wo ihr der Kopf stand, kamen Oma und Opa nach H. So konnte Mutter weiter als Lehrerin arbeiten. Vormittags blieben wir Kinder bei Oma Emma und wenn Mutter aus der Schule kam, waren wir bei ihr. Mit den Nachbarkindern spielten wir oft stundenlang in unserem Zimmer. Wir hatten alles erdenkliche Spielzeug. Ich hatte einen Teddy, der brummte, und ein Schaukelpferd, das ich zum ersten Weihnachtsfest geschenkt bekam. Ich weiß noch, wie ich mit dem Schaukelpferd so richtig eigensinnig wurde und das Stubenmöbel rammte, so dass Schrammen blieben. Als ich ein dreiviertel Jahr alt war, sagte ich meine ersten Worte: „Teddy“ und „hüh“. Ich schlafe noch heute mit meinem Teddy, sonst kann ich nicht einschlafen. Gegenwärtig ist er in Rosis Puppen- und Teddyklinik, bekommt neue Tatzen und das Stroh wird nachgefüllt. Oma hatte viel Liebe für ihre Enkelkinder, war lustig und machte uns viele Geschenke. Opa wusste sehr viel. Er war auch Lehrer und brachte mir vor Schulbeginn das Alphabet in alten deutschen Druckbuchstaben bei. In der ersten Klasse war es etwas langweilig, da ich die Buchstaben schon kannte, doch zur Abiturzeit habe ich die „Buddenbrooks“ in alter deutscher Schrift gelesen. Mein erstes Klassenzimmer hatte noch Holzbänke mit schrägen Pulten.

      Oma hatte die Modezeitschrift „Pramo“ abonniert. Daraus suchte sich Mutter schöne Kleider aus, die Oma ihr dann nähte. Später, als Oma Rentnerin war, durfte sie in den Westen zu ihrer Cousine nach Frankfurt am Main fahren. Ein oder zweimal war sie auch in Westberlin, bei ihrer Tante M. und einmal in Bremen, bei Tante E., die den Bremer Dialekt sprach. Sie rollte das „R“ und stotterte das „T“. Von drüben brachte Oma immer Stoffe mit. Die waren nicht so teuer wie Konfektionskleidung und von besserer Qualität als bei uns. So konnten wir etwas Schönes schneidern. Als ich meine Abiturzeit in Z. begann, ging ich mittags zu Oma in die Schneiderlehre. Ich lernte noch Lochstickerei, Biesen, Smog, Paspeln, Knöpfe beziehen, zuschneiden, Kammstich und Hinterstich. Wenn Oma nähte, hörte sie „Rias“ und wusste besser darüber Bescheid was in der Welt passierte, als mein Vater. Ich lernte beim Nähen, die Stille zu hören.

      Meine Mutter hatte viele buntgemusterte Kleider mit Volant, die sie auch gern auf ihren Urlaubsreisen zur Schau stellte. Einmal war sie zusammen mit meinem Vater auf dem Roten Platz in Moskau und trug ein gewagtes längeres Sommerkleid, das sehr gut ankam. Dazu aber ein Paar Sandalen, die den Sowjetmenschen nicht gefielen. Ein acht Zentimeter hoher klobiger Absatz! Es sah so aus, als würde sie auf zwei Briketts gehen. Das war zur Zeit der Silastikmode – „Malimo macht Weltniveau“! In Lima bemerkte ich allerdings, dass die Bettwäsche nur zum Teil für jedes Klima geeignet war. In den Elendsvierteln von Peru trug man noch Silastik, als wir hier schon wieder die Baumwolle favorisierten. Opas Hemden habe ich Sr. H unserem Maurer geschenkt. Omas Blusen bekam das Dienstmädchen Maria, die sie wahrscheinlich verkaufte, um sich von dem Geld eine Zahnprothese machen zu lassen. Ich hatte ihr auch meine Brillen geschenkt. Ich bin Brillen und Uhrenfetischist.

      Ich erinnere mich an die Zeit des Mauerfalls, als wäre es gestern gewesen. Dieses Ereignis war mit so vielen Emotionen besetzt, und jede Generation hat andere Erinnerungen daran. Ich war damals sechsundzwanzig Jahre alt, war in der DDR groß geworden und hatte an der Humboldt-Universität ein Sprachmittlerstudium für Englisch und Spanisch abgeschlossen. Ich hatte mit der Illusion gelebt, irgendwann nicht nur nach Prag reisen zu können, sondern auch nach Paris oder nach Spanien, oder in das Land meines Ex-Mannes, nach Peru. Felipe und ich heirateten wohl auch deshalb, denn ohne die Eheurkunde hätte ich keinen Pass bekommen.

      Bei seiner Ansprache auf der Hochzeitsfeier redete der Brautvater auch ein wenig über den Sozialismus, was ihm aber peinlich war.

      Wir hatten im Mai 1989 geheiratet und waren ab September auf unserer zweimonatigen Hochzeitsreise durch Westeuropa. Wir reisten mit einem riesigen Wanderrucksack, einer selbstgenähten Reisetasche und 2.000 DM. Außerdem beförderten wir Salami, Käse, Kaffee, Zigaretten und eine Menge Kondome, ich wollte nicht schwanger werden. In Berlin hatten wir noch extra Französisch gelernt und konnten uns in Paris gut verständigen, in der Stadt der Liebe, die vielleicht noch ein wenig schöner ist, als Berlin.

      Nachdem der DDR-Zollkontrolleur sehr laut geworden war, und wir die „Zonengrenze“ passiert hatten, waren alle Leute im Abteil happy. Gleich auf dem ersten Bahnhof in Westdeutschland sahen wir einen Türken, der auf dem Bahnsteig Getränke verkaufte und ich fragte mich, ob vielleicht doch stimmte, was die DDR-Propaganda über die Ausbeutung der ausländischen Arbeitskräfte im Westen verbreitet hatte. Von den ersten


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