Das Mitternachtsschiff. Wilfried Schneider

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Das Mitternachtsschiff - Wilfried Schneider


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zogen.

      Abdi-ashirta erinnerte sich an die Flucht auf die Insel, als Pharao Psammetich seine Truppen zum ersten Mal nach Sidonien geschickt hatte. Im Menschenfluss war er an Nurfrets Hand über den Damm gelaufen und hatte nach dem Großvater geschrien, der auch an diesem Tag der Gefahr Tafeln in die Berge trug.

      »Es gibt keinen Krieg, Assyrien ist schwach, Kemet ist stark. Wir werden in Frieden leben!« so hatte er noch am Morgen auf die Gefährtin eingeredet. Auf seinem kahlen Kopf, den er sich wie ein Kemete rasierte, hatten Schweißperlen gestanden. Tatsächlich ließ der saitische General freundliche Botschaften nach Bursa schicken. Zwei Tage später waren Zors Bewohner wieder in ihren Häusern. Der Damm nach Bursa war Samranus täglicher Weg, begleitet von Nurfret, der gebildeten Kemetin, die mit ihm die Tafeln beschrieben hatte.

      Wie oft hatte er sich an den Abend erinnert, an dem der Großvater nicht zurückkehrte, obwohl die Fackeln schon brannten. Zwei Tage hatte Nurfret geweint, dann war sie ohne ein Wort des Abschieds aus Zor weggegangen, die Trauer hatte ihr keine Stimme gegeben. Weinen Erwachsene, scheint die Nacht nie zu enden. Lange Stunden hatte er auf der Herdbank neben der Geschirrtruhe seiner Mutter gelegen. Zum dritten Mittag hatten Ratsdiener ihn, den Jungen, in das Haus des Meeres gebracht, die Stadt bildete den Sohn ihres hohen Beamten zum Seefahrer aus. Frauen, die fast jährlich wechselten, verwalteten das Haus, und manchmal dienten sie ihm in späteren Jahren als Gefährtinnen. Auch jetzt waren die Kammern gesäubert und die Pflanzungen gewässert. Gern hätte er die neue Bewahrerin kennengelernt, gern wäre er auch heute über den Damm nach Bursa oder durch die Gassen der geliebten, vertrauten Stadt gegangen. Doch nach dem Erhalt der Botschaft gehörten sein Leib und seine Seele dem Obersten Rat, er durfte sein Haus nicht verlassen und hatte die Stadtwachen zu erwarten.

      Der Admiral verließ die alten Zeiten, wickelte sich fester in seine Decke und schuf sich das Gespräch des morgigen Tages. Er drehte sich auf seinem Lager, bereute es, auf dem harten Lehm des Daches zu liegen und forderte seinem Kopf die Antwort ab, warum Hir-Rectar ihn nach so ungewöhnlich kurzer Zeit rief.

      »In welches Haus begleitet ihr mich?«, fragte er die Unzerstörbaren des Nordhimmels, die gleichgültig auf Zor und seinen Admiral blickten. »Melkarts Fluch auf Sidon!« Abdiashirta schleuderte sein Tuch auf das Rauchloch und stieg in das Haus hinab. »Lass mich schlafen, Hir-Rectar!« Er legte sich auf die bequeme Strohmatte, die vor seiner Abreise noch nicht im Haus gewesen war und erzwang die ersehnte Ruhe.

      Er hörte die Tritte der Boten, als sie noch durch die Nebengasse liefen. Der Wind, schon am Nachmittag von den Bergen gesandt, war stärker geworden, selten an einem Abend zu dieser Jahreszeit, als zeige Melkart seiner Stadt an, dass sich Ungewöhnliches ereignen werde. Er löschte die schwimmenden Dochte auf den Fenstern, durch die bereits der frische Atem der baldigen Nacht in die Kammern drang. Abdi-ashirta öffnete das Haustor, er wischte sich über die Lippen, als eine Bö ihm ihren Staub ins Gesicht wehte. Er musste Hir-Rectars Gesandte selbst empfangen, die Wirtschafterin hatte auch an diesem Tag ihre Pflicht nicht getan.

      »Die Stunde ist nahe, Herr, zu der Hir-Rectar dich ruft.« Sie kreuzten die Arme und verneigten sich voller Ehrerbietung. Noch war die Dunkelheit nicht über Zor gekommen, die Boten entzündeten aber die Dochte ihrer Laternen und führten ihn in die Altstadt.

      »Der Auftrag dient nicht dem Rat, sondern Zor und jedem seiner Bewohner. Wir bringen dich über Markt und Hafen zum Palast, um das anzuzeigen«, beantworteten sie den verwunderten Blick des Admirals, der sich den Umweg nicht erklären konnte.

      Abdi-ashirta berührte die Lehmwände der vertrauten Häuser, es waren auch die Straßen seiner Kindheit, durch die ihn die blassen Laternen führten. Auch die Hände seines Vaters streiften einst die Mauern, an jenem Abend, der sein letzter in Zor gewesen war. Als Oberer Verwalter des Regierungsbezirks hatte er den Auftrag erhalten, Quart-hadascht zu helfen, das Steuersystem zu ordnen. Lange war er im Sonnenuntergang mit dem Jungen durch die Stadt gelaufen. Die Mutter hatte ihre Kammer nicht verlassen wollen, ihre Tränen waren hinter den Mauern geblieben.

      Am Haus des Sandalenmachers hielt Abdi-ashirta inne. Die Seitenwand durchzog ein Riss, in den sie als Kinder schon die Finger hinein gesteckt hatten. Sie verzweigten sich in der Fantasie zu Armen der Lotosblüte, eine von Putz entblätterte Fläche war das Innere Meer. Diese Stelle hatte er von der Schlafkammer seiner Eltern aus gesehen, als er mit Samranu am Fenster stand. Seine Mutter hatte zurückgeblickt, bevor sie dem Vater auf der breiten Straße zum Hafen folgte. Es war ihm verboten worden, mit ihnen zu gehen, er hatte es nicht verstanden. Ihr schwerer Zopf schwang nach rechts, nach links, noch einmal nach rechts, dann war er nur eine Erinnerung. Trotzig hatte er das Wasser aus den Augen gewischt.

      »Herr!«

      Abdi-ashirta bat mit einer Geste um Verzeihung, er ging den Boten mit schnellen Schritten nach.

      »Siralu, mein Kleiner, so komm doch, komm ins Haus! Siralu!« Der Junge lief in die Arme seiner Mutter.

      »Du hast ihn Siralu genannt!“ Der Admiral sprach die Frau an. Sie sah hoch, hielt erschrocken die Hände vor den Mund.

      »Herr, o Herr! Warum richtest du das Wort an mich Unwürdige?«

      »Rede nicht mit mir, als stündest du in der Ratskammer. Sprich als Frau aus Zor zu einem Mann aus Zor.«

      »Siralu war dein Schiffsmeister, als du die Zinninseln suchtest.«

      »Ja. Er stürzte über die Wandung, als er mich zurück riss. Das geschah auf einem harten Meer.«

      »Ich habe meinem Kind diesen Namen gegeben. Nun lebt er weiter als Erinnerung. Viele Familien ehren so die Helden unserer Stadt. Ich gehöre zu ihnen.«

      Abdi-ashirta blickte auf den Leib der Frau, die nicht zu ihm aufsah. Er hob ihren Kopf.

      »Dieser Brauch ehrt nicht allein die Verstorbenen, er ehrt auch euch. Du trägst ein Kind in dir? Hoffentlich wirst du es nicht bald Abdi-ashirta nennen.«

      »Es wird ein Mädchen, vielleicht.« Die Frau lächelte.

      Die Häuser hatten ihre Augen geschlossen. Das Zedernholz schützte die Bewohner vor dem kräftigen Atem des Libanon. Das Portal des Stadtpalastes knarrte unter den Schultern der Wachen, irgendwo fiel eine Tür zu, um die Balken des Speichers heulte der Wind.

      »Ich grüße Zors Großen Helden!« Hir-Rectar, der Oberste des Rates, von vielen schon als König verehrt, öffnete die Arme. Noch in der Verbeugung wurde Abdi-ashirta das Unglaubliche dieser Begrüßung bewusst. Der Herr von Zor empfing ihn bereits am Eingang des Audienzsaals. Dessen Fenster waren geschlossen, auf den Tischen flackerten die Lichter, der Wind war zum Sturm geworden, wie er nur selten auf die Stadt blies. An der Tafel saßen drei wichtige Männer des Rates, Verantwortliche der Seefahrt und Verhandlungspartner für fremde Gesandtschaften.

      «Ich entbiete meinen Gruß …«

      »Lass die Förmlichkeit, Admiral. Es ist nicht die Zeit für untertäniges Geschwätz. Höre mich und schweige. Dann frage, vielleicht muss auch ich schweigen. Verzeih uns, dass wir dich schon wenige Tage nach deiner Rückkehr rufen müssen. Wir dienen damit Zor und Sidonien.« Hir-Rectar presste die Lippen aufeinander. Seine Hände umfassten einen Leuchter, trotzdem war sichtbar, wie sie zitterten.

      »Wohl ist die Zeit nicht fern, dass Zor wieder das Haupt der Küste ist.«

      »Hir-Rectar, König von Zor!«, rief eines der Ratsmitglieder. Ärgerlich gebot der Oberste ihm Einhalt. »So kann es in den Jahren sein, die wir alle noch erleben.« Er sprach nicht weiter, und als Diener die Öllichter austauschten, schwieg er noch immer. Der Admiral kannte das Spiel der Mächtigen, die Schritte selbst zu bestimmen.

      »Nun höre alles«, begann der Oberste des Rates endlich. »Nach vier Dekaden bringt dich die Rose von Zor zum Mittleren Großen Arm des Hapi. Ein Boot Kemets trägt dich nach Menfe. Keine Nachricht dringt davon in die Ohren des Volkes. Der Vorsteher des Tempels der Neith ist dein Vertrauter. Du sollst der Vollstrecker des Willens Nechos sein, eine Expedition in den Süden zu führen.«


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