Der Zaun. Dietmar Telser
Читать онлайн книгу.legt, als sich das Schiff dem Hafen nähert, weil er nicht sehen will, was kommt. Er wird uns später seine Geschichte erzählen, er wird berichten von dem, was draußen auf dem Meer geschehen ist. Wir werden ihn nicht vergessen, den Geruch der wenigen geborgenen Leichen, die in Plastiksäcken auf dem Deck eines Marineschiffs liegen, werden sie nicht vergessen, die Überlebenden im Hafen auf der Suche nach Freunden und Angehörigen, einen Syrer mit dem Oberkörper eines Kraftsportlers, der weint wie ein Kind, die Mediziner von „Ärzte ohne Grenzen“, die erschöpft und mit leerem Blick spät am Abend keine Worte mehr für all das finden, das an diesem Tag geschehen ist. Mehr als hundert Flüchtlinge haben diese Überfahrt von Zuwarah in Libyen nach Italien nicht überlebt. Es ist nichts, das in diesen Jahren noch große Schlagzeilen machen wird. Etwa 3500 Menschen ertrinken1 im Jahr 2014 im Mittelmeer. Aber wir werden erfahren, dass man sich dennoch nicht gewöhnen kann an das Leid und an den Tod, die auf dieser Reise ständige Begleiter sind.
Die Geschichte beginnt knapp zwei Monate zuvor im Juli 2014. Man muss an den Anfang zurück, um nachvollziehen zu können, was in diesen Monaten an Europas Grenzen geschieht. Wir wollen verstehen, weshalb sich Menschen in Gummiboote setzen, um ihr Leben auf hoher See zu riskieren, weshalb sie sich in die Hand von Kriminellen begeben, denen nichts heilig ist außer Geld, weshalb sie alles zurücklassen für eine Zukunft, die voller Zweifel ist und kaum Gewissheit kennt. Drei Monate werden wir an den Grenzen Europas entlangreisen, weil wir spüren wollen, wie sich das Leben für Flüchtlinge und für Grenzschützer am Rande dieser sogenannten Festung anfühlt, weil wir wissen wollen, was Zäune mit Menschen machen und wie es uns, dieses Europa, verändert. Aber wir werden schnell merken, dass man nur aufschreiben und aufnehmen, aber niemals verstehen kann. Wir werden bald erkennen, dass es nicht allein eine Reise zu den Menschen, sondern auch eine zu Europa und dem zerplatzenden Traum einer Gemeinschaft ist, die doch auch ein humanitärer Gedanke einen sollte.
Es ist das Jahr, in dem der Krieg in Syrien in den vierten Sommer geht. Die Auseinandersetzungen haben nichts mehr von den Anfangstagen der „Arabellion“. Es ist nicht mehr allein der Kampf der Rebellen gegen das Regime von Baschar al-Assad, nicht Gut gegen Böse, wie es so oft in den ersten Tagen der Revolution dargestellt wurde. Der Konflikt hat sich verselbstständigt, ist undurchdringbar und komplex geworden, Milizen terrorisieren die lokale Bevölkerung, die libanesische Hisbollah und der Iran gehen gegen Islamisten vor, „Jabhat al-Nusra“, ein „Al-Kaida“-Ableger, mordet mit, der „Islamische Staat“ („IS“) expandiert im Sommer 2014 und nimmt in kürzester Zeit beinahe widerstandslos auch große Teile des Iraks ein. Im Jahr 2015 wird „Daesh“2, wie die Dschihadisten des „IS“ auch verächtlich genannt werden, den Terror schließlich nach Europa bringen.
Die Konfliktlinien dieses Krieges haben sich längst durchkreuzt, überlappt, und manche wurden neu gezogen, sie verhindern heute eine schnelle diplomatische Lösung. Denn es geht jetzt um viel mehr als um die Ablösung eines Tyrannen, es geht um die regionale Vorherrschaft zwischen dem Iran und Saudi-Arabien, um den Mächtepoker zwischen den USA und Russland, es geht um religiöse Konflikte zwischen Sunna und Schia und schließlich auch um die Sicherheit in Europa. Und während Frankreich mithilfe deutscher Aufklärungstornados Angriffe auf Stellungen des IS fliegt, lässt Assad über seiner Bevölkerung weiter Fassbomben abwerfen.
Die Menschen sind auf der Flucht. Sie haben ihre Grundstücke, ihre Läden, ihre Häuser verkauft und verlassen ihre Heimat. Die größte Gruppe der Flüchtlinge, die nach Europa kommt, stammt aus Syrien. 2014 kommt fast jeder dritte Bootsflüchtling in Europa aus dem Bürgerkriegsland,3 2015 bereits jeder zweite.4 Aber es ist keine plötzlich neue Fluchtbewegung, wie es das unvorbereitete Europa in diesen Tagen so häufig vermittelt. Die Menschen sind bereits seit Jahren unterwegs. Europa will es lange nur nicht wahrnehmen. Werden im Dezember 20115 noch gerade 8000 Syrer vom UNO-Flüchtlingshilfswerk UNHCR in den Nachbarstaaten registriert, ist die Zahl Ende 2013 bereits auf mehr als zwei Millionen angewachsen. Ein Jahr später werden es mehr als drei Millionen Syrer und Ende 2015 sogar 4,6 Millionen sein. In der Türkei, im Libanon, in Jordanien wird das Leben mit jedem Jahr schwieriger. Im Oktober 2014 reduziert das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen auch noch die Hilfe für syrische Flüchtlinge um 40 Prozent.6 Wen aber interessiert dies schon im Jahr 2014? Noch viel mehr Menschen irren in Syrien von Stadt zu Stadt, um den Bomben des Assad-Regimes und der Tyrannei des „IS“ zu entkommen. Auf mehr als sieben Millionen schätzt der UNHCR allein die Zahl der Binnenflüchtlinge.7
Die Welt blickt auf Syrien. Aber auch aus anderen Ländern brechen die Menschen auf. Der Irak wird von einer Welle der Gewalt erschüttert, im Jahr 2014 sterben dort rund 9900 Menschen allein durch Terroranschläge, das sind etwa 55 Prozent mehr als im Jahr zuvor.8 In Afghanistan erkämpfen sich die radikalislamischen Taliban Dorf für Dorf von der erodierenden afghanischen Armee zurück, die Zahl der zivilen Opfer in dem Konflikt ist so hoch wie noch nie seit der ersten UN-Erhebung 2009.9 Auch aus Afrika fliehen Menschen nach Europa. In Somalia tobt seit mehr als zwei Jahrzehnten ein Bürgerkrieg, der keine Sieger kennt, in Eritrea regiert Isaias Afwerki mit unnachgiebiger Hand. Nicht jeder Flüchtling muss akut um sein Leben fürchten, aber die Menschen eint, dass sie den Glauben in ihre Heimat verloren haben. Dann gibt es noch all die Menschen, die einfach nur auf der Suche nach einem etwas besseren Leben sind. Aus Gambia, Bangladesch und Marokko brechen sie auf. Sie versuchen ihr Glück und hängen sich an die Flüchtlingstrecks.
Es ist die Zeit der großen Migrationsbewegung, aber es schlägt auch wieder die Stunde der Abwehr, weil europäische Staaten auf die neue Herausforderung zunächst nur die altbekannten Antworten kennen: Zäune, Kameras und Polizei. Unsere Reise beginnt deshalb im Juli 2014 in Bulgarien, wo einst der Eiserne Vorhang den Osten vom Westen trennte und sich in diesen Jahren mancher einen ebensolchen zurückwünscht.
Golyam Dervent, Grenzgebiet zur Türkei, Bulgarien
Der Rand von Europa ist eine traurige Angelegenheit. Ein paar brüchige Klinkerhäuser mit verrutschten Dachziegeln, die grau verputzte Fassade eines Rathauses und gegenüber ein Kiosk, in dem es alles und nichts gibt: Einwegrasierer, Plastiksandalen und Lollis. Keine hundert Menschen leben in Golyam Dervent. Von hier ist es noch gut ein Kilometer bis zur Grenze zwischen Bulgarien und der Türkei.
Hier verläuft die Außengrenze der Europäischen Union. Das Gebiet ist nur schwer zu kontrollieren. Es gibt viele kleine Wege, die es Schleppern auf türkischer Seite einfach machen, mit ihren Pkws bis nah an die Grenze heranzufahren. Auch im Winter, wenn der Regen den Boden aufweicht. Wer diese Grenze überschreitet, hat eine der wichtigsten Etappen seiner Flucht genommen. Die grüne Landgrenze ist so in den vergangenen Jahren für syrische, afghanische und irakische Asylbewerber zu einer der meistgenutzten Fluchtrouten nach Europa geworden.
Sie haben uns am Morgen vor dem Hauptquartier des „Joint Forces Command“ am General-Totleben-Boulevard in Sofia mit einem natogrünen Bus abgeholt. Ein gutes Dutzend Journalisten ist auf der vom Verteidigungsministerium organisierten Pressefahrt dabei. Verteidigungsminister Angel Naydenov muss in wenigen Wochen seine Amtsgeschäfte übergeben. Länger als ein Jahr hat Bulgariens Bevölkerung nach einer umstrittenen Besetzung von Staatsposten gegen die Minderheitsregierung protestiert. Nun steht der Rücktritt des Kabinetts bevor. Aber zuvor will der Minister noch ein bisher gut gehütetes Geheimnis lüften.
Schon im Herbst 2013 war mit dem Bau eines Zaunes an der Grenze begonnen worden. Über den Baufortschritt drang nur wenig an die Öffentlichkeit. Korruptionsskandale bremsten die Arbeiten, eine Debatte über explodierende Kosten bestimmte die Schlagzeilen, später war die Rede von jeder Menge Pannen, von Material dürftiger Qualität und davon, dass dieser Zaun vielleicht sogar niemals fertiggestellt werden könnte. Jetzt will Naydenov zeigen, dass der Zaun viel mehr als nur ein Gerücht ist.
Es hat viel geregnet in den vergangenen Tagen. In Golyam Dervent verteilen die Soldaten Kunststoffüberschuhe, damit sich niemand bei dem Grenzbesuch schmutzig macht. Wir müssen daran denken, was uns Flüchtlinge im Vorfeld dieser Recherche berichtet haben. Wie sie nicht weit von hier mitten in der Nacht durch den Schlamm stapften, ihre Schuhe dabei verloren und schließlich