Brennpunkt Balkan. Christian Wehrschütz

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Brennpunkt Balkan - Christian Wehrschütz


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      Bis 2020 kann Kroatien aus diversen Fördertöpfen der EU mit knapp zwölf Milliarden Euro rechnen, das entspricht mehr als einem Viertel der Wirtschaftsleistung des Landes von 2013; doch bisher fehlte es an einer ausreichend großen Zahl an Experten, um Großprojekte EU-konform einreichen und abwickeln zu können. Die Förderungen braucht Kroatien aber dringend, um etwa die Umweltstandards der EU von der Abfallbewirtschaftung über die Kanalisation bis zu Kläranlagen zu erfüllen. Auf diesem Gebiet hat das Land im Beitrittsvertrag die längsten Übergangsfristen erhalten, doch die Herausforderungen sind enorm, wie die ehemalige Umweltministerin Mirela Holy unterstreicht: „Kroatien hat nach wie vor mit der Abfallbewirtschaftung die größten Probleme. Hinzu kommt, dass in der Mehrheit der Gemeinden Kläranlagen fehlen. Schätzungen besagen, dass Kroatien etwa zehn Milliarden Euro investieren müsste, um die Umweltstandards in der EU zu erreichen. Ein Großteil davon, drei bis vier Milliarden, entfällt auf funktionierende Systeme zur Beseitigung von Altmaterial. Das ist eine große Belastung für uns, und da hoffen wir natürlich auch auf Mittel aus EU-Fonds. Doch bis jetzt (Frühsommer 2013, Anm.) haben wir noch kein einziges Zentrum für Mülltrennung und Wiederverwertung. Es sind zwar drei derzeit im Aufbau, aber die Mehrzahl der Projekte gibt es erst auf dem Papier.“

      Kroatien ist daher bemüht, mehr Experten heranzubilden, die derartige Projekte umsetzen können. Vor dem Beitritt hat die Regierung auf diesem Gebiet allerdings viel versäumt. Aus dem Vorbeitrittsfonds IPA konnte Kroatien bis Dezember 2012 nur 33 Prozent der verfügbaren Mittel abrufen, bei anderen Fonds war die Quote etwas besser. EU-Mittel erfolgreich für die Modernisierung nutzen konnte die Firma Gala in der Stadt Bjelovar, 80 Kilometer nordöstlich von Agram. Die Hennen von Gala legen 140.000 Eier pro Tag, die Firma ist einer der drei großen Produzenten in Kroatien. Doch die Käfige waren zu klein und entsprachen ebenso wenig den EU-Standards wie die Lagerung des Stallmists. Ihm werden nun durch ein Tunnelsystem 80 Prozent der Feuchtigkeit entzogen, wodurch nun weder eine Geruchsbelästigung noch eine Belastung der Umwelt entsteht. Auch die Haltung der Hennen wurde durch größere Käfige, eine Stange zum Sitzen und ein Nest zum Eierlegen verbessert. Das von der EU mitfinanzierte Projekt dauerte vier Jahre. Bis zum Ende der Übergangsfrist am 1. Juli 2014 dürften bis zu 80 Prozent der Eierproduzenten diese EU-Standards erreicht haben, die allerdings unter den noch strengeren Standards in Österreich liegen. Einen so hohen Prozentsatz erfüllen nicht einmal alle Altmitglieder, obwohl die entsprechende EU-Vorschrift aus dem Jahre 1999 stammt und konventionelle Käfighaltung seit Jänner 2012 in der EU verboten ist. So klagte die EU-Kommission Italien und Griechenland vor dem Europäischen Gerichtshof, weil die beiden Länder dieses Verbot nicht umgesetzt haben. Dieses Beispiel zeigt, dass die Frage nicht klar zu beantworten ist, ob Kroatien alle EU-Standards erfüllt, weil das erstens vom jeweiligen Sektor abhängt und zweitens in gewissen Bereichen auch Altmitglieder säumig sind.

      Seit dem 1. Juli 2013 hat Kroatien mit noch einer weitere Herausforderung zu kämpfen. Richtung EU sind zwar Zollschranken und Stehzeiten an den Grenzen endgültig weggefallen, doch auf der „anderen Seite“ entstanden neue Zollschranken, weil Kroatien die Freihandelszone CEFTA verlassen und das EU-Zollregime übernehmen musste, das für Länder wie Serbien sowie Bosnien und Herzegowina gilt. Auf die CEFTA entfällt ein Fünftel der kroatischen Exporte, während in der EU kroatische Marken erst bekanntgemacht und aufgebaut werden müssen. Das ist teuer, und dazu sind auch Mittelbetriebe kaum in der Lage, weil ihnen vielfach die Kapazitäten für den EU-Markt fehlen. Hinzu kommt die Krise in der Eurozone, die Kroatien ebenfalls trifft, wie in Agram der Chefvolkswirt der Splitska Banka, Zdeslav Šantić, betont: „Dieser Verlust an Exporten in die CEFTA wird kurzfristig nur schwer zu ersetzen sein. So ist die Nachfrage der Haushalte auf den europäischen Märkten weiter ziemlich schwach, und in der Euro-Zone wird die Arbeitslosigkeit heuer und im kommenden Jahr wahrscheinlich weiter steigen. Damit wird es für kroatische Produzenten sehr schwer sein, neue Märkte zu finden. Wir müssen uns auch der schlechten Konkurrenzfähigkeit bewusst sein, die die Firmen selbst kaum verbessern können, wenn es nicht zu einer Wende in der Wirtschaftspolitik kommt. Hinzu kommt, dass bei uns die Produktionskosten deutlich stärker gewachsen sind als bei unseren Haupthandelspartnern. Das zeigt, dass sich die Wettbewerbsfähigkeit beim Preis weiter verschlechtern wird, wenn der Kurs stabil bleibt.“

      Viele große Firmen haben Produktionsstandorte bereits in die CEFTA-Länder verlagert, andere werden folgen. Bereits in Serbien sowie in Bosnien und Herzegowina ist der Konzern Agrokor präsent, der im Frühsommer 2013 die slowenische Handelskette Merkator übernommen hat. Der Privatkonzern verarbeitet pro Jahr 350.000 Schweine, produziert 40 Millionen Liter Milch und bewirtschaftet 40.000 Hektar Fläche und ist damit mehr als zehn Mal so groß wie der größte österreichische Agrarbetrieb. Agrokor wird sich im EU-Wettbewerb sicher behaupten können. Generell werde der Anpassungsdruck für die Wirtschaft aber beträchtlich sein, erläutert die Vizepräsidentin des Konzerns Ljerka Puljić: „Nach dem Beitritt kommt der Anpassungsschock wahrscheinlich nicht über Nacht; doch binnen Jahresfrist wird ein Teil der Produzenten sicher mit einer Konkurrenz konfrontiert sein, der sie nicht standhalten können. Das wird zu einer neuen Welle der wirtschaftlichen Restrukturierung führen, wobei einige Unternehmen auch verschwinden werden. Andere werden schnell Konzentrationsprozesse erleben, und einige werden auch auf den regionalen Markt ausweichen, wo sie bisher nicht zu finden waren und ihre Rettung im Osten suchen, wo sie bisher auch nicht präsent waren. So schätzt man, dass etwa 20 Prozent vor allem der Industrie entweder zusperren oder sich umstrukturieren müssen.“ Das wird den kroatischen Arbeitsmarkt weiter belasten. 2013 war jeder fünfte arbeitsfähige Kroate bereits erwerbslos, und die Jugendarbeitslosigkeit ist mit etwa 40 Prozent die dritthöchste hinter Spanien und Griechenland. Mit Hellas teilt sich Kroatien auch die niedrigste Beschäftigungsrate in der EU, die nur zwischen 50 und 55 Prozent der Bevölkerung liegt. Hinzu kommt, dass die Regierung kaum Geld für Konjunkturprogramme hat, weil die Staatsverschuldung inklusive Staatsgarantien, aber ohne die betriebliche Verschuldung ohnehin schon bei 72 Prozent der Wirtschaftsleistung liegt, und der Plan für das Budgetdefizit des Jahres 2013 bereits im ersten Halbjahr überschritten wurde. Angesichts all dieser Probleme und wegen des Fehlens einer klaren Reformstrategie setzte die Rating-Agentur Standard & Poors ihren Ausblick für Kroatien im August 2013 auf negativ herab. Das grundlegende Problem des Landes besteht in seiner De-Industrialisierung, die mit dem Krieg begonnen hat und sich im Grunde bis heute fortsetzt. Dazu beigetragen haben eine verfehlte Privatisierung sowie das Fehlen einer industriellen Entwicklungsstrategie, daher bezeichnete ein Kommentator Kroatien auch als „größtes europäisches Einkaufszentrum mit Zugang zum Meer“.13) Aus diesem Grund könnte Kroatien von einer wirtschaftlichen Erholung in der Euro-Zone auch kaum profitieren, erläutert Zdeslav Šantić: „Die Schwäche zeigt sich am besten daran, dass nach Albanien in dieser Region bei Kroatien die Warenausfuhr den geringsten Anteil an der gesamten Wirtschaftsleistung ausmacht. Daher haben Modelle keine Grundlage, die die Überwindung der Krise durch ausländische Nachfrage vorsehen. Alle Probleme in Kroatien bestehen bereits seit Jahren. So war die einzige bedeutende wirtschaftliche Reform der vergangenen 15 Jahre die Pensionsreform, und auch die wurde nicht bis zum Ende durchgezogen, sondern abgebrochen.“ Neben allen wirtschaftlichen Problemen hat sich Kroatien aber gleich zu Beginn seiner Mitgliedschaft politische Probleme mit Deutschland und der EU eingehandelt, die dazu beitrugen, dass Bundeskanzlerin Angela Merkel ihre Teilnahme an den Beitrittsfeierlichkeiten absagte. So weigert sich die Regierung, den ehemaligen Geheimdienstoffizier Josip Perković auszuliefern, der seine Karriere im kommunistischen Jugoslawien begann und dann im unabhängigen Kroatien fortsetzte, in dem es im Grunde nie zu einem wirklichen klaren Elitenwechsel kam.14) Die deutsche Justiz wirft Perković vor, in den Mord an einem Auslandskroaten verwickelt zu sein, und hat einen Haftbefehl ausgestellt. Die EU droht Kroatien daher mit der teilweisen Blockade von Finanzhilfen, sollte die Regierung nicht einlenken. Dafür bestehen zwar nun ernsthafte Anzeichen, trotzdem macht der Fall Perković deutlich, dass manche Politiker in Kroatien erst noch lernen müssen, dass die Worte Balkan und Brüssel zwar mit demselben Buchstaben beginnen, Brüssel aber vor allem bei kleinen Mitgliedsländern eine derart offensichtliche Missachtung von EU-Recht nicht duldet. Ungeachtet dessen bleibt es der Balkan, wo Kroatien, wenn überhaupt, für die EU eine gewisse politische Rolle für „die Letzten“ spielen kann, weil seine Erfahrungen bei den Verhandlungen natürlich für andere Beitrittswerber nützlich sind. Obwohl die kroatische Wirtschaft in hohem Ausmaß „euroisiert“ ist15),


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