Wiener Wahn. Edwin Baumgartner

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Wiener Wahn - Edwin Baumgartner


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hat ihr ein Glas Wasser gegeben und ein Stück Gugelhupf, wenn vom Sonntag noch einer dagewesen ist. Die Frau hat Büschel von getrocknetem Lavendel verkauft. Sie hat sich in Positur geworfen als hätte sie einen Auftritt in der Wiener Staatsoper. Dann hat sie, mit zittriger Stimme und kurzatmig vom Stiegensteigen, das alte Lied der Lavendelweiber gesungen: „Lavendel kaft’s, fümf Schülling zwaa Boschn Lavendel. Lavendel kaft’s!22“ Das Lied hat sie sich nie nehmen lassen. Es ist für sie so eine Art Vorbedingung gewesen, um überhaupt ein Geschäft anbahnen zu dürfen, denn erst, nachdem sie das Lied gesungen hat, hat sie ihre Ware angeboten. Meine Großmutter hat ihr immer ein paar Büschel Lavendel abgekauft. Sie hat sie in die Wäschekästen gelegt. Alle Wäsche hat bei meiner Großmutter nach Lavendel gerochen. Heute noch glaube ich, denke ich an meine Großmutter, den Geruch von Lavendel in der Nase zu haben – oder den von Kölnischwasser, das ist meiner Großmutter das liebste Parfum gewesen.

      Wenn wir uns so darüber unterhalten, merke ich, dass auf gewisse Weise auch meine Großmutter ein Original gewesen ist. Wir werden ihr sowieso noch einmal begegnen in Zusammenhang mit einem anderen Original, nämlich mit dem Bruno Kreisky.

      Ja, schauen Sie, Original ist man oder ist man nicht. Es kommt nicht darauf an, ob einer berühmt ist, ob einer ganz hoch oben steht oder ganz tief unten. Abgesehen davon, wer sagt schon, was hoch oben und was tief unten ist? Ich kenne welche, die ganz hoch oben sind, aber für mich sind sie ganz tief unten, und ich kenne welche, die sind ganz tief unten, aber für mich sind sie ganz hoch oben. Es kommt nur darauf an, wie man es nimmt.

      Jedenfalls sucht sich keiner aus, ein Original zu sein, nicht einmal in Wien. Man sagt nicht einfach: Ich werde ein Original, oder gar: Wenn ich schon sonst nichts erreicht habe, dann will ich wenigstens ein Original sein. Ich meine, es gibt schon Leute, die genau so handeln, nur sind die dann am Ende gar nichts, weder sind sie ein Original, noch sind sie sie selbst. Ein Original ist man, oder man entwickelt sich zu einem, ganz ohne eigenes Zutun. So ist das. Bei manch einem Original kennt man nicht einmal den Namen. Viele Marktfrauen waren Originale, zum Beispiel die Helga Barischitz. Die ist im Grund gar nichts Besonderes gewesen, und doch ist sie tief in meinem Gedächtnis mit ihrem rosigen Gesicht, der Haube und der Brille mit den runden Gläsern. Einen Fleisch- und Wurststand hat sie gehabt auf dem Brigittamarkt. Meine Großmutter und sie haben immer schmähgeführt. Einmal hat die Frau Barischitz gesagt, es sei vor einigen Jahren im Winter so kalt gewesen, dass ihr das Feuer im Kamin eingefroren ist. Hab’ ich Ihnen das schon einmal erzählt? Das ist der erste richtige Schmäh gewesen, den ich gehört habe. Die ist ein richtiges Original gewesen, die Frau Barischitz. Im ganzen Grätzel hat man sie gekannt und gemocht, weil sie es verstanden hat, jedem Menschen den Tag ein bisschen aufzuhellen, selbst wenn es schon ein wolkenloser Sommertag gewesen ist.

      Apropos Original: Also die G’schicht’ mit der Tante Friedl und dem Oskar Piwonka – ich sage Ihnen …

      DER PIWONKA

      Jetzt muss ich Ihnen was erzählen, und zwar über den Piwonka.

      Dabei weiß ich gar nicht viel über den Oskar Piwonka, aber das bisserl, das ich weiß, ist es wert, einen Zuhörer zu finden. Ich selber hab’ es von der Friedl Dallabona erfahren, die ich immer nur Tante Friedl genannt habe, obwohl sie keine Verwandte gewesen ist, sondern die Freundin meiner Großmutter mütterlicherseits.

      Aber bevor ich Ihnen was über den Piwonka erzähle, muss ich Ihnen was über die Gemeindebauten erzählen, sonst haben Sie nichts davon, von der Geschichte über den Piwonka, meine ich.

      Nach dem Ersten Weltkrieg ist Wien eine kranke Stadt gewesen. Durch den Krieg sind ja die Kronländer verloren gegangen. In ihnen ist der Nationalismus erwacht. Entweder hat man die Alt-Österreicher vertrieben, oder sie sind von selber gegangen, weil sie gewusst haben, dass sie nicht mehr Fuß fassen können in Prag, in Brünn oder in Budapest. Natürlich sind sie in die Hauptstadt gezogen in der Hoffnung, dass sie sich dort durchschlagen können. Schließlich, haben sie gedacht, sind sie Landsleute, und Landsleuten werden die Wiener schon helfen.

      Die Wiener haben aber nicht helfen können. Die Wiener haben nämlich selbst nichts gehabt. Die Nachwirkungen des Krieges haben einen Versorgungsengpass heraufbeschworen, eine richtige Hungersnot. Durch den Zuzug der Vertriebenen und der Auswanderer ist Wien aus allen Nähten geplatzt. Manche Historiker schätzen, dass mehr als zwei Millionen Menschen in der Stadt gewohnt haben, die damals gerade etwas mehr als eineinhalb Millionen verkraftet hätte. Dann ist die spanische Grippe ausgebrochen, und der Tod hat ein großes Fest gefeiert – aber das erzähle ich Ihnen später.

      Jedenfalls haben die Sozialisten begriffen, dass es so nicht weitergehen kann in Wien, weil eine Stadt immer nur so gesund ist wie ihre Bevölkerung und umgekehrt. Bei den Wahlen im 1918er-Jahr haben die Sozialisten in Wien die absolute Mehrheit erreicht gehabt. Jetzt beginnen sie mit einem großen Experiment. Sie haben der Revolution abgeschworen – Revolutionen sind sowieso nie was gewesen für die Wiener, das sieht man schon an den lahmen Versuchen vom 1848er-Jahr. Die Wiener Sozialisten haben darauf gesetzt, dass sie die Wiener überzeugen können. Sie haben sich vorgenommen, Wohnungen für alle zu bauen und allen ärztliche Versorgung und Bildung zu ermöglichen.

      Das Bauen ist an vorderster Stelle gestanden. Der Wiener Gemeindebau hat Schule gemacht. Aus der ganzen Welt sind Architekten und Stadtplaner nach Wien gekommen, um sich anzuschauen, was da entstanden ist und entsteht. Diese Gemeindebauten, Höfe genannt, sind irgendwie die Burgen und Schlösser des Sozialismus. Nach den damals neuesten Erkenntnissen sind sie gebaut worden mit hellen Wohnungen und großen Flächen in den Innenhöfen, viele davon begrünt oder mit Brunnen ausgestattet, was im Sommer die Temperaturen senkt.

      Aber das Leben im Gemeindebau hat auch Schattenseiten gehabt. Eine davon ist gewesen, dass nur Frauen in die Waschküchen gedurft haben. Die Zeiten sind für jede Mieterpartei genau geregelt gewesen. Für eine Mutter hat das ziemlich unangenehm sein können, denn was soll sie in ihrer Waschzeit mit den Kindern machen? Da ist sie auf Fremdbetreuung angewiesen gewesen.

      Ein anderes Kuriosum sind die Kontrollore gewesen. Ihnen hat man jederzeit die Tür öffnen müssen. Die Kontrollore sind immer unangemeldet gekommen. Sie haben nachgeschaut, ob die Wohnung sauber ist und zusammengeräumt und auch, ob die Möbel passen. Nicht jedes Möbelstück ist akzeptiert worden. Es hat so eine Art Ideal-Einrichtung gegeben, von der die Mieter nicht viel abweichen haben dürfen. Wenn die Kontrollore etwas gefunden haben, was zu beanstanden gewesen ist, dann haben sie die Mieter verwarnt, eine entsprechende Notiz gemacht, und wenn das Beanstandete bei der nächsten Kontrolle nicht behoben gewesen ist, hat das Folgen haben können. Zum Beispiel hat man Frauen, die nicht ordentlich aufgeräumt oder die Wohnung nicht genügend sauber gehalten haben, in Putzkurse geschickt.

      Damit komme ich zum Oskar Piwonka, wie ihn mir die Tante Friedl geschildert hat.

      Der Piwonka ist solch ein Kontrollor gewesen. Im Ersten Weltkrieg hat er an der französischen Front gekämpft und dabei ist er an der rechten Hand verletzt worden. Nach dem Krieg ist er Kontrollor in Sandleiten gewesen, dem größten und ehrgeizigsten Gemeindebau von Wien, in dem auch die Tante Friedl mit ihrem Mann gewohnt hat. Es hat ein paar Kontrollore gegeben. Für die Tante Friedl ist der Piwonka zuständig gewesen.

      Was soll ich Ihnen über die Tante Friedl und ihren Mann, den Hans Dallabona, erzählen, den ich nie kennengelernt habe, weil er lange, bevor ich zur Welt gekommen bin, gestorben ist? Der Hans hat bei den Wiener Elektrizitätswerken gearbeitet, die Tante Friedl ist eine Hausfrau gewesen, wie es damals üblich gewesen ist. Beide waren sie aus gutbürgerlichen Familien, die aber im Ersten Weltkrieg fast alles verloren haben. Dennoch ist die Tante Friedl ihr Lebtag lang eine Kaisertreue geblieben. Kennengelernt haben die beiden einander in einer Aufführung von der „Lustigen Witwe“ vom Franz Lehár noch vor dem Krieg. Wie der Hans dann zurückgekommen ist, haben die beiden geheiratet. Und heilfroh sind sie gewesen, wie sie eine Gemeindewohnung bekommen haben.

      Die Tante Friedl nun ist nicht schlampig gewesen, und der Hans auch nicht. Die beiden haben nur andere Interessen gehabt, als die Wohnung aufzuräumen. Die Tante Friedl ist narrisch nach Operette und Theater gewesen, der Hans auch und nach Büchern obendrein. Besonders verehrt haben die beiden den „Faust“ vom Goethe.


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