Von Friedland in Ostpreußen an den Jakobsweg. Ingrid Stahn
Читать онлайн книгу.Kraft und Lebenswille für ihr eigenes Leben. Sie schuf erfolgreich eine Lebensgrundlage für sich und ihre Kinder. Nie konnte sie sich ausruhen, oder sich Schwächen hingeben. Sie zog ihre Kinder allein groß, als ihr Mann die Familie verließ. Als ihre drei Kinder erfolgreich ihre Lebenswege gehen und sie verlassen, muss sie den Sinn für ihr eigenes Leben finden.
Über 60 Jahre deutsche Geschichte ziehen mit den geschilderten Lebenssituationen aus dem Krieg, der Flucht, den Nachkriegsjahren, der deutschen Teilung und der deutschen Wiedervereinigung mit erlebten Zeitgeschehen am Leser vorbei und lassen ihn teilhaben oder sich sogar selbst wieder erinnern an eigene Erlebnisse aus dieser Zeit. Es sind schicksalhafte Geschehen die heute gewollt von Politikern abgewiegelt, verdrängt und zeitgeschichtlich verfälscht werden.
Die Wahrheit über diese Geschehen ist unerwünscht, da es das Leid der deutschen Zivilbevölkerung gleichstellen müsste, mit dem Leid aller durch diesen Krieg betroffenen Völker. Die Autorin möchte mit den Erlebnissen dieses im Krieg geborenen Kindes 60 Jahre deutscher Geschichte festhalten, um späteren Generationen die Wahrheit zu erhalten. Ich wünsche mir als Autorin für die Zukunft unseres deutschen Volkes Kraft und Stolz, um ihr Land wieder zu lieben und zu verteidigen, ihre Sprache nicht mit Anglizismen zu verleugnen, ihre Kultur, Sitten und Gebräuche zu pflegen und sich mit ihnen zu identifizieren, nicht durch „Multikulti” ihre Identität ausmerzen lassen, dass sie als Volk ihren Stolz und ihr Bewusstsein wieder erhalten, was sie in über 60 Jahren nach diesem unseligen, leidvollen Krieg für sich und die Welt wieder geschaffen haben.
Eisenach, d. 1.1.2011
Ihre Erinnerung gehen zurück auf den 3. April 1944
Es war ihr 3. Geburtstag, der sich in ihr Gedächtnis geprägt hatte. Es war kein Fest mit Kerzen, Torte, Geschenken, Spiele und Gästen. Es war eine Erinnerung an Angst und Hilflosigkeit.
Sie hatte als Dreijährige verstanden, dass die furchtbare Nachricht vom Tod des Vaters nach Hause gekommen war. Sie kannte ihn eigentlich gar nicht. Es war eine Person von der alle sprachen, irgendwie musste da noch jemand in der Familie wichtig sein, sie aber konnte sich nichts darunter vorstellen oder etwas damit verbinden. Als sie geboren wurde, war ihr Vater im Krieg, von seinen kurzen Fronturlauben hatte sie keine Erinnerung zurück behalten.
Deutschland befand sich im Krieg. Jeder neue Tag brachte neue Hoffnung, dass das Schlimmste nicht geschehen möge, aber für viele Familien wurde diese Hoffnung mit einer entsetzlichen Nachricht: „Für Volk und Vaterland gefallen”, beendet.
Andreas Mutter hieß Friederike Prill, war 24 Jahre alt und im 7. Monat mit dem 3. Kind schwanger, als sie diese Nachricht erhielt. Sie weinte tagelang. Weinkrämpfe und monotones Schluchzen wechselten in ihrer tiefen, erschütternden Verzweiflung und Trauer ab.
Andrea und ihr siebenjähriger Bruder Max hatten das Fenster geöffnet.
Die Aprilsonne mühte sich, ihre wärmenden Strahlen wohltuend unter die kühle Frühlingsluft zu mischen. Der lange kalte Winter sollte endlich das Weite suchen, damit die Natur erwachen und alles zum neuen Leben entfalten kann.
Die Kinder hatten Hunger und fühlten sich endlos alleine. Sie wagten nicht, die Mutter um etwas zu Essen zu bitten, schlichen von hier nach dort, um verlegen und voller Angst herum zu gehen, flüsternd, mit leisen Schritten oder auf Zehenspitzen. Die endlose Erschütterung und die tiefe Trauer der Mutter über den Tod ihres geliebten Mannes und Vater ihrer Kinder nahm ihr jede Besinnung. Sie lag schon tagelang im Bett, schluchzte, weinte und jammerte, monotone oder stakkatoartige Schreie verängstigten die Kinder.
Die hungrigen Kinder hatten angsterfüllt Respekt vor dem Zustand der Mutter, hofften aber, dass sie doch bald etwas zu essen bekommen würden. Ihr Hunger war unerträglich.
Andrea rief jedem aus dem geöffneten Fenster zu: „Mein Papi ist tot, mein Papi ist tot!” Max ließ sie einige Zeit gewähren, holte sie aber dann vom Fenster weg.
Im Juni 1944 bekam die Mutter Friederike dann ihr drittes Kind. Es war ein Mädchen und hieß Sibylle und hatte schwarze Haare wie ihr Vater. Andrea hatte nach einiger Zeit entdeckt dass am Fußende von Sibylles Bettchen eine Nuckelflasche mit leckerem Inhalt im Federbett warm gehalten wurde.
Wenn sie von Mutter und Bruder unbeobachtet war, holte sie diese Flasche heraus und trank sie leer, steckte aber die leere Flasche wieder zurück an seinem Platz im Federbett. Die Mutter traute der kleinen Andrea diese Tat nicht zu und vermutete Max als Übeltäter. Sie bestrafte ihn dafür und es bekam ihm noch schlechter, weil er die Tat abstritt. Da Andrea die Flasche immer wieder leer trank, wurden die Strafen für Max von der Mutter immer bösartiger und aggressiver. Eines Tages, als Max wieder ungerechterweise von der Mutter eine gehörige Tracht Prügel bezog, tröstete Andrea ihren Max und schwor ihm, dass sie nie wieder die Flasche leer trinken würde. Er tat ihr furchtbar leid, die Mutter war mit ihren Schlägen in ihrer Wut auf ihn nicht zimperlich. Das Entsetzen der Mutter über ihren unbeherrschten und ungerechten Zorn auf Max mit allen Folgen war groß. Von da an bezog sie die Dreijährige in alle Konsequenzen mit ein, sie schien sogar härter gegen sie zu sein, als gegen Max.
Die Flucht
Ende Dezember 1944 mussten sie aus Ostpreußen flüchten.
Schon lange hatte sich abgezeichnet, dass Deutschland diesen Krieg nicht gewinnen wird. Die Russen befanden sich auf dem Vormarsch gen Westen und das hieß für die Zivilbevölkerung Flucht.
„Los, los, die Russen kommen“, dieser Satz trieb sie zur Eile an, sogar die dreijährige Andrea ließ sich damit antreiben, wenn sie vor Erschöpfung nörgelte, sie erinnerte sich gut an diesen Aufbruch. Im Haus wohnte eine zweite Familie, die auch ihre Sachen packte für die Flucht. Diese hatte schon größere Kinder, da konnte mehr mitgenommen werden.
Andreas Mutter war überfordert, so jung, ohne Mann, alleine mit drei kleinen Kindern. Viele Gegenstände nahm sie in die Hand und sagte: „Wir brauchen das, oder wie soll ich das Baby baden?” Letztendlich resignierte sie, sie packte nicht groß, es wäre ohnehin sinnlos. Drei kleine Kinder, den Kinderwagen, wie sollte da noch von ihr Gepäck geschleppt werden können. Sie hatte damit zu tun, die Kinder zusammen zu halten und ihre hungrigen und müden Quengeleien zu „tragen”.
Um Königsberg hatten schon heftigste Kämpfe stattgefunden.
Im 18 km entfernten Friedland standen die sowjetischen Truppen kurz vor der Stadt. Die Brücke über die Alle sollte gesprengt werden, um das Vordringen der russischen Truppen aufzuhalten. Das hätte bedeutet, dass die Bevölkerung mitten im Frontgeschehen geblieben wäre und nicht mehr aus der Stadt fliehen konnte. Als die Mutter mit den Kindern im Treck einer Massenbewegung von Flüchtenden die Alle-Brücke verlassen hatten, drehte sie sich noch einmal um. Sie standen auf einer Straße, die bergauf ging und alleeartig von großen Bäumen umrahmt war. Sie schauten hinunter in das Tal auf die Brücke und die Mutter sagte: „Gleich gibt es sie nicht mehr und wir werden nie mehr zurückkommen können.” Dieses Bild, die Straße mit den Allee-Bäumen, die Brücke, der Blick auf die Häuser von Friedland und die Worte der Mutter hatten sich bei Andrea so eingeprägt, dass sie 50 Jahre später mit ihrem Bruder eine Reise in die Vergangenheit machte und genau diese Stelle aufsuchte, um dieses Bild aus der Erinnerung wieder zu finden.
Sie fanden es und konnten beide jede Minute von damals nachvollziehen.
Reise in die Vergangenheit
Zu diesem Zeitpunkt, fast 50 Jahre später war Max ein Reiseleiter. Er hatte sich nach der Wiedervereinigung Deutschlands als Existenzmöglichkeit ein kleines Reiseunternehmen aufgebaut und organisierte Reisen in die ehemaligen deutschen Gebiete, die nach dem Krieg für viele Menschen nicht mehr ihre Heimat sein durfte, jedenfalls für die Menschen, die dort einmal geflüchtet oder vertrieben worden sind, deren Heimat es bis zum Kriegsende war. Erst die politische Veränderung zwischen Ost und West ließ eine gewisse Reisefreiheit für bestimmte Gebiete zu, dazu gehörte Ostpreußen, Max und Andreas Heimat bis zu ihrer Flucht Ende 1944. Max sprach mehrere Sprachen und beherrschte