Der kalte Engel. Horst Bosetzky

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Der kalte Engel - Horst Bosetzky


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bis jetzt, wie es schien, ohne Erfolg.

      »Mit siebenundvierzig ist der Lack auch schon ’n bisschen ab«, sagte Hannes Seidelmann.

      Seine Schwester winkte ab. »Bei dem Männermangel heute, da gibt et viele Frauen, die jeden nehmen. Erst nehmen … und dann tüchtig ausnehmen. Wie ’ne Weihnachtsgans. Aber bei Hermann würde’s mir auch nicht leid tun. Vier Kinder hat er und dann …«

      Gerda, Fahrkartenknipserin bei der Berliner S-Bahn, war ein sehr misstrauischer Mensch. Schon von Berufs wegen. Saß sie am Bahnhof Wedding in ihrer Wanne, dann hatte sie nicht nur die gelben Pappkarten der abfahrenden Fahrgäste zu knipsen, sondern auch die der ankommenden zu kontrollieren – dass sie die richtige Preisstufe gelöst hatten. I war mit 20 Pfennigen die billigste, galt aber nur auf und innerhalb der Ringbahn. Und wie oft kam es vor, dass jemand nur I gelöst hatte, aber beispielsweise von Gartenfeld oder Wollankstraße kam. »Ich traue allen Menschen alles zu«, war ihre stehende Wendung. »Auch dir, Hannes …« Das bezog sich darauf, dass ihre beiden Brüder sich nie so recht verstanden hatten, ganz im Gegenteil. »Denk mal an Kain und Abel.«

      Hannes Seidelmann fuhr auf. »Spinnst du wohl?!«

      »Tu doch nicht so. Als er vor dir eingezogen worden ist, hast du gleich was mit seiner Irma angefangen. Und jetzt, wo er wieder zurück ist, da ist er dir doch ’n Dorn im Auge.«

      Hannes Seidelmann war perplex. »Ich würde doch nie meinen eigenen Bruder …«

      »Nein, würdest du nicht. Aber Tatsache ist ja mal, dass er verschwunden ist.«

      »Mit mächtig viel Geld in der Tasche. Auf das du immer scharf gewesen bist …«

      Hannes Seidelmann stand auf, trat ans Fenster, zog die Gardine zur Seite und sah auf die Straße hinunter. »Ach, Unsinn alles. Jeden Augenblick wird er auftauchen und … Wahrscheinlich hatte er doch irgendwo ’ne Frau aufgegabelt und kommt nun gar nicht mehr los von der. Irma liebt er ja schon lange nicht mehr. Oder er ist im Puff gelandet, und sie behalten ihn da, bis er alles Geld vervögelt hat.«

      »Hannes, bitte!« Gerda Seidelmann war empfindlich gegen alles Obszöne.

      »Wir müssen wirklich was unternehmen. Wenigstens noch mal zur Vermisstenstelle gehen.«

      »Das ist mir irgendwie peinlich.«

      »Dann lass uns mal gucken, ob wir in seinen Sachen was finden.«

      Gerda winkte ab. »Das ist doch Quatsch, das haben wir doch schon x-mal gemacht.«

      »Vielleicht haben wir wirklich was übersehen?«

      »Na schön …«

      Das Ziehharmonikabett, auf dem Hermann Seidelmann genächtigt hatte, stand in einem schmalen halben Zimmer, das sie als Kammer bezeichneten. Früher hatte es als Mädchenkammer gedient, jetzt war es die Rumpelkammer. Hermanns Koffer war aufgeklappt und bot den Anblick von langen Unterhosen, schlecht gebügelten Oberhemden und zusammengerollten Socken. Darüber hing an einem locker in der Wand sitzenden Nagel ein Anzug, der arg nach Kneipe roch.

      »Hast du denn in dem schon nachgesehen?«, fragte Hannes seine Schwester.

      »Ja, na klar, was hast du denn gedacht.« Sie konnte nicht anders, als barsch zu sein. »Guck mal, was der Hermann für schöne Schlipse hat.« Sie hielt zwei hoch.

      »Den schönsten hat er doch umgehabt, als er weggegangen ist: den blauen mit den gelben und den roten Streifen. Den hat er schon früher immer umgebunden, wenn er zu einem Rendezvous gegangen ist. Mensch, du …« Hannes Seidelmann fiel ein, dass sein Bruder ihn gleich nach seiner Ankunft gefragt hatte, wo er denn hier in West-Berlin am besten Präservative herbekam. »›Männerschutz‹? Beim Friseur, wenn du Haare schneiden gehst.« Und wo verbarg ein Mann die, wenn er sich ins Nachtleben stürzte? In einem kleinen Geheimtäschchen am Hosenbund, rechts unter dem Gürtel. Da also sah er nach.

      Und richtig, da steckte etwas drin. Aber kein »Fromms«, sondern ein kleiner Zettel, von einer Zeitung abgerissen. Vier Worte waren hingekritzelt: Schöne Frau am Zoo. Zweifellos Hermanns Handschrift. Er wandte sich zu seiner Schwester hin. »Sieh mal hier …«

      »Da hat er sich bestimmt mit einer treffen wollen. Los, nichts wie hin! Und steck ’n Foto von ihm ein.«

      Sie machten sich auf den Weg. Die Haltestelle der 21 war ganz in der Nähe, und so fuhren sie mit der Straßenbahn bis zur Gotzkowskystraße, wo in die Linie 2 umzusteigen war. In einer knappen Viertelstunde waren sie am Bahnhof Zoo. Hier war Berlin fast schon wieder so quirlig wie in den Goldenen Zwanzigern. Das lag weniger an der Zahl der Fernreisenden, denn noch gingen die meisten der nur fünf bis sechs Interzonenzüge täglich von den alten Kopfbahnhöfen ab, als an seinem legendären Ruf: »Chia, chia, cho, Schieber steh’n am Bahnhof Zoo …« Mit dem Ende der Blockade und der Währungsreform war es zwar weithin vorbei mit dem Schwarzen Markt, doch das Geschäft der Geldwechsler blühte noch immer und nun erst recht. Abgesehen davon stiegen Zehntausende hier um, kreuzten sich doch mehrere S- und Straßenbahn-Linien mit der U-Bahn-Linie A. Kamen jene hinzu, die nebenan im »Garten« sehen wollten, welche Elefanten, Löwen, Bären und Affen, alles alte Bekannte, bei Kriegsende übriggeblieben waren. Wie sie selbst. Das stählerne Skelett der Bahnhofshalle hatte den Bomben standgehalten, nur fehlte alles Glas. Trotzdem wirkte es wie ein Fremdkörper inmitten all der Ruinen. Nein, auch das Oberverwaltungsgericht war relativ unbeschädigt geblieben. Doch ausgebrannt waren die Rundkuppel des Zeiss-Planetariums und des Ufa-Palastes, und vieles andere lag in Schutt und Asche.

      Wo traf man sich zu dieser Zeit? Unter der großen Normaluhr neben der Parfümerie von Dr. E. Kuhlmann. Die Geschwister gingen in den Laden, um der Verkäuferin das Bild ihres verschwundenen Bruders zu zeigen. »War der zufällig bei Ihnen hier und hat Parfüm für eine schöne Frau gekauft? Jahrgang 1902 ist er, korpulent und sächselt etwas, manchmal spricht er auch noch ostpreußischen Dialekt.«

      Kopfschütteln. »Tut mir leid, kann ich mich nicht mehr dran erinnern.«

      Sonderlich enttäuscht waren sie nicht. Wäre ja wirklich ein Zufall, wenn … Mit etwas mehr Hoffnung mischten sie sich unter die Geldwechsler. Aber auch da: Fehlanzeige. »Er hat eine Menge Geld bei sich gehabt …«

      Da grinsten die Angesprochenen nur: »Das wird er mit ein paar Miezen durchgebracht haben.« Man verwies sie auf die Cafés am Kudamm und die einschlägigen Pensionen in der Augsburger Straße.

      Hannes Seidelmann schüttelte den Kopf. »Der Zettel mit der Notiz Schöne Frau am Zoo spricht dagegen, dass Hermann auf käufliche Liebe aus gewesen ist.«

      Seine Schwester teilte seine Meinung nur bedingt. »Kann doch sein, dass die auch so eine war … Und wenn nicht: Auf alle Fälle wird er mit ihr in ein Café oder eine Bar gegangen sein.«

      »Die sollen wir nun alle abklappern? Vielleicht ist er auch mit ihr in die Straßenbahn gestiegen und sonst wo hingefahren …« Das bezog sich auf einen Straßenbahnzug der Linie 77, die hinter ihnen gerade »abgeklingelt« wurde. »Lichterfelde West – Goerzallee … Die Kaiserallee runter, Steglitz … Schöne Gegenden für schöne Frauen.«

      »Ach, Quatsch!« Gerda Seidelmann glaubte nicht an die Theorie vom Liebesnest. »Hermann lässt doch nicht alles stehen und liegen, was er sich mühsam aufgebaut hat, nur um sich mal wieder so richtig auszutoben.«

      »Hast du ’ne Ahnung.« Und er zählte ihr alles auf, was er über »des Menschen Hörigkeit« gesehen, gelesen und gehört hatte. »Wenn da eine kommt …«

      »… dann geht er mit der doch nicht gleich ins Bett, sondern erst mal was trinken.« Gerda beharrte darauf, in den umliegenden Cafés und Bars nach Hermann zu fragen. So zogen sie los. Der Kurfürstendamm lebte noch immer, trotz der Ruinen und der Lebensmittelkarten war er auch ohne Lichterglanz und Stars verführerisch geblieben. Ein Versprechen, das nicht totzukriegen war: Komm her und fühl dich im Champagnerrausch. Sogar ein so nüchterner Mensch wie Hannes Seidelmann erlag diesem Flair, und bald fühlte er sich wie im Film, wie Paul Kemp in Amphitryon, Willi Forst in Bel ami oder Willy Fritsch in Die drei von


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