Im Kreuzfeuer. Christian Wehrschütz

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Im Kreuzfeuer - Christian Wehrschütz


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       Josip Broz Tito: Der „gute“ Diktator und seine Nachwirkungen

       Tito lebt in der Erinnerung der älteren Generation fort: Im Tito-Mausoleum

      Das Haus der Blumen (Kuća cveća) liegt neben einer stark befahrenen Straße auf einer Anhöhe im Belgrader Nobelbezirk Dedinje. An der Straße bin ich oft vorbeigefahren, ohne Titos letzte Ruhestätte zu beachten, denn im Alltagsleben der Serben und in der Tagespolitik spielt der Schöpfer des zweiten Jugoslawien keine Rolle mehr. Doch 2005, zu Titos 25. Todestag, drehten wir einen Beitrag über sein verblichenes Erbe, und so stiegen mein Drehteam und ich die Stufen hinauf, die zum Mausoleum führen. Zunächst galt es, sich bei den beiden Männern auszuweisen, die in einem Wächterhäuschen auf halber Höhe zum Mausoleum unsere Personalien kontrollierten. Der Marschall und jugoslawische Diktator Josip Broz Tito (1892–1980) liebte Blumen, und zu seinen Lebzeiten habe es in dem Anwesen noch viel mehr davon gegeben, versichern die Wachebeamten im „Museum für Jugoslawische Geschichte“, wie das Haus nun heißt. Die Formalitäten sind rasch erledigt, und wir steigen die restlichen Stufen zu Titos letztem Wohnsitz hinauf; vor uns steht im Gras eine große, eherne Figur, die den Marschall in Schrittbewegung und grübelnder Pose zeigt, rechts führt der Weg hinein zum Mausoleum. Vor allem am 4. Mai, an Titos Todestag, ist es der Wallfahrtsort für alle „Jugo-Nostalgiker“, denn im Wintergarten des Hauses der Blumen hat Tito in einem massiven Sarg aus weißem Marmor mit Blick über Belgrad seine letzte Ruhestätte gefunden. Die Besucher kommen aus allen Teilrepubliken des ehemaligen Jugoslawien; vereinzelt haben sie nicht nur ihre Kinder, sondern sogar ihre Enkel mitgebracht, tragen alte Uniformen und Orden. Gemeinsam ist ihnen nicht nur die Trauer um Tito und seinen zerfallenen Staat, sondern auch die Liebe zur Verschwörungstheorie, die den Westen für das blutige Ende des Tito-Staates verantwortlich macht.

      Titos Staatsbegräbnis am 8. Mai markierte wohl das bedeutendste Stelldichein der Weltspitze des Jahres 1980 und vielleicht auch eines der höchstrangig besetzten Staatsbegräbnisse des 20. Jahrhunderts. Der sowjetische Diktator Leonid Breschnew war ebenso anwesend, wie der Vizepräsident der USA, Walter Mondale, denn das blockfreie Jugoslawien genoss in der Zeit des Kalten Krieges Bedeutung und Ansehen wie niemals zuvor und auch niemals wieder danach. Wie sehr das Bewusstsein für diese Bedeutung gerade in Serbien verloren gegangen ist, symbolisiert vielleicht recht eindrucksvoll das Schicksal seiner Witwe Jovanka Broz. Jahrelang lebte sie in einer Wohnung in Belgrad ohne nennenswerte staatliche Zuwendung, völlig zurückgezogen und fast wie eine Gefangene. Erst im Sommer 2009 erhielt sie Pass und Personalausweis vom serbischen Innenminister Ivica Dačić. Verschwunden sind in Belgrad und in Serbien praktisch auch alle Straßenbezeichnungen, die an Tito erinnern. Zu finden sind sie bezeichnenderweise noch im albanisch dominierten Preševo-Tal in Südserbien, wo in der gleichnamigen Stadt die Hauptstraße noch immer Titos Namen trägt. Das Straßenschild ist zweisprachig auf Serbisch und Albanisch: Ulica Maršala Tita/Rruga Mareshali Tito.

      Ausgestellt sind im Haus der Blumen der Schreibtisch des Diktators, einige seiner Uniformen und die Stafetten, die Pioniere durch das ehemalige Jugoslawien trugen und schließlich Tito übergaben. Dieser Stafettenlauf der Jugend durch das ehemalige Jugoslawien sollte die Einheit des Landes symbolisieren, war aber auch Teil des Personenkults, der um Tito betrieben wurde. Der Stafettenlauf fand von 1945 bis 1987 statt, überdauerte also Titos Tod um sieben Jahre und wurde erst drei Jahre vor Beginn des blutigen Zerfalls des Vielvölkerstaates abgeschafft. Er bestand aus den Teilrepubliken Slowenien, Kroatien, Bosnien und Herzegowina, Serbien, Montenegro, Mazedonien und den zwei autonomen Provinzen Kosovo und Vojvodina. Zu den interessantesten Exponaten zählt das „Gästebuch“, in das sich die Besucher von Titos letzter Ruhestätte noch immer eintragen können. Etwa 150.000 Personen kommen jährlich an Titos Grab, sagen mir die Wachebeamten. Viele tragen sich auch in das dicke Buch ein, das praktisch nur Lobeshymnen auf Tito enthält. Lesen kann man da etwa folgende Texte: „Sei gegrüßt, Genosse Tito“; „Du bleibst für immer in meinem Herzen, denn ich habe Dir 15 Monate (in den Streitkräften) gedient“; „vielen Dank für meine schönste Kindheit und Jugend“ oder „teurer Tito, so lange Du gelebt hast, war alles schön. Nach Dir war nichts mehr von Wert“.

      All diese Einträge können jedoch nicht darüber hinweg täuschen, dass fast 30 Jahre nach Titos Tod vom Schöpfer der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien in der Tagespolitik der Nachfolgestaaten kaum mehr etwas übrig geblieben ist. Denn die Losung „Brüderlichkeit und Einigkeit“ ging in den Zerfallskriegen am Balkan unter, und Umfragen belegen die großen Vorbehalte, die die Völker gegeneinander hegen – die organisierte Kriminalität ausgenommen. Um diese Vorbehalte zu erkennen, bedarf es nur eines offenen Auges, etwa bei sportlichen Wettkämpfen wie dem Spiel zwischen der kroatischen und der türkischen Fußballnationalmannschaft bei der Europameisterschaft in Wien. In der Stadt Mostar in Bosnien-Herzegowina, hielten die Kroaten für das kroatische Team, die muslimischen Bosniaken jedoch für die Türkei. Um Ausschreitungen zu verhindern, war ein Großaufgebot der Polizei im Einsatz, trotzdem kam es zu Zusammenstößen. Vor dem Krieg soll Mostar die Stadt mit der größten Zahl gemischter Ehen zwischen Kroaten, Bosniaken und Serben gewesen sein. Während der kroatische und der bosniakische Stadtteil nur mühsam zusammenwachsen, sind die Serben seit dem Krieg aus Mostar praktisch verschwunden. Die Lage in Mostar und der Zerfall Jugoslawiens sind das Ergebnis des Scheiterns von Titos Nachfolger an der wirtschaftlichen und politischen Transformation eines kommunistischen Einparteienstaates, der durch die Person Titos, durch den Partisanenmythos, durch die Armee und von außen durch die Blockkonfrontation zusammengehalten wurde. Der Fall der Berliner Mauer und die Implosion der Sowjetunion ließen somit die Bedeutung Jugoslawiens schwinden; die Welt stand zunächst im Bann ganz anderer Ereignisse, denn auch der erste US-Krieg gegen den Irak fiel in die Zeit des jugoslawischen Dramas, das Europa offensichtlich völlig unvorbereitet traf, obwohl Streitkräfte und Geheimdienste immer wieder Szenarien durchgespielt hatten, wie es nach Titos Tod weitergehen könnte. Trotzdem dürfte die blutige Form des Zerfalls keineswegs zwangsläufig gewesen sein, doch sein Ereignis war so gravierend, dass es Titos Erbe im Bewusstsein der Masse der Bevölkerung unter sich begrub. Nicht zu unterschätzen ist natürlich auch der Zahn der Zeit, denn fast 30 ereignisreiche Jahre haben neue Generationen heranwachsen lassen, die mit ganz anderen Problemen des täglichen Lebens konfrontiert sind als mit Tito und seinem Wirken.

      Trotzdem lebt in der älteren Generation noch die Erinnerung an den Roten Pass fort, der den Jugoslawen ein visafreies Reisen in praktisch alle Staaten der Welt ermöglichte. Diese Tatsache spielt vor allem in den Nachfolgestaaten eine Rolle, die wie Serbien noch bis Ende 2009 von der „Papierologie“ der Visaerteilung betroffen sind. Diese Prozedur wird von den Betroffenen als persönliche Erniedrigung empfunden. Viele erinnern sich auch noch an die recht guten Gehälter, die mit relativ wenig Arbeit verdient wurden. Die Nostalgie steigt natürlich mit dem Grad der wirtschaftlichen und sozialen Probleme in den Nachfolgestaaten und dürfte damit in Slowenien und Kroatien am geringsten sein, obwohl keine Umfragedaten zu diesem Thema bekannt sind. Viele Einzelgespräche, die ich etwa in Serbien führen konnte, vermitteln den Eindruck, dass die Erfolge und Misserfolge der aktuellen Regierungen weniger an der Ära des serbischen Autokraten Slobodan Milošević, sondern viel mehr am Lebensstandard im Tito-Jugoslawien gemessen werden. Dieser Blickwinkel macht es freilich jeder Regierung schwer, erfolgreich zu sein, zumal der Kommunismus in Jugoslawien von der breiten Bevölkerung – anders als in vielen Staaten Osteuropas – nicht als gescheitertes Experiment empfunden wird.

      Je stärker der Tito-Kult verblasste, je mehr der Partisanen-Mythos aus Geschichts- und Schulbüchern verschwand, desto stärker traten die dunklen Seiten Titos und seines Regimes zum Vorschein, die in der Zeit des Kommunismus unterdrückt, verschwiegen und natürlich auch weder gelehrt noch unterrichtet wurden. In diesem Zusammenhang geht es nicht so sehr um die Vertreibungsverbrechen an den etwa 500.000 Deutschen, die nach dem Ersten Weltkrieg die größte Minderheit im Königreich Jugoslawien bildeten. Vielmehr geht es um die Verbrechen, die kommunistische Partisanen während des Zweiten Weltkriegs und als neue Machthaber in der Zeit danach verübten.


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