Als Großvater im Jahr 1927 mit einer Bombe in den Dorfbach sprang, um die Weltrevolution in Gang zu setzen. Lothar Becker

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Als Großvater im Jahr 1927 mit einer Bombe in den Dorfbach sprang, um die Weltrevolution in Gang zu setzen - Lothar Becker


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war es Winter geworden. Der Winter, in dem Großvater und Herbert beschlossen hatten, eine Bombe zu bauen und sie in einer Machtzentrale der herrschenden Klasse detonieren zu lassen. Genosse Franks Besuch lag nun über ein halbes Jahr zurück und es war nichts passiert. Absolut gar nichts. Herbert hatte es satt.

      »Wenn ich nicht bald ein Fahrrad bekomme, trete ich aus der Kommunistischen Partei wieder aus!«

      Großvater legte ihm die Hand auf die Schulter. Wie bei einem Pferd. »Von nichts kommt nichts«, sagte er, »wir müssen etwas tun, hörst du?«

      »Du bist gut«, sagte Herbert. »Was denn?«

      Großvater überlegte relativ lange, aber er wusste es auch nicht. Doch dann, auf einmal, fragte er: »Wo ist eigentlich das Traktat?«

      »Welches Traktat?«

      »Welches Traktat wohl? Na, das von Genosse Frank!«

      Sie fanden es und lasen schließlich auch die Seiten vier und fünf, also die Seiten, auf denen nicht nur die Vorzüge der Weltrevolution, sondern auch der Weg dahin beschrieben wurde. Zwangsrequirierung, Kollektivierung, Säuberung, Elektrifizierung, Entkulakisierung, Neutralisierung … Großvater und Herbert schwirrte der Kopf. Sie verstanden nichts, absolut nichts.

      Irgendwann war Herbert dann auf die Idee mit der Bombe gekommen. Seiner Ansicht nach wurden die größten Wirkungen generell durch Lärm erzeugende Phänomene erreicht. Gewitter waren ein gutes Beispiel dafür oder der tobsüchtige Schuhmacher. Wenn etwas Krach verursachte, wurde ihm augenblicklich die uneingeschränkte Aufmerksamkeit zuteil. Das war so. Eine Detonation von irgendwas schreckte die Leute mehr auf als alles andere. Dass eine Bombe imstande war, für ordentlich Furore zu sorgen, lag auf der Hand. Wenn es mit einer Bombe nicht funktionierte, womit dann? Allerdings war eine Bombe nun auch kein Spaß mehr. Wo eine Bombe im Spiel war, floss garantiert Blut, und im Gegensatz zu Herbert, der seinen Lebensunterhalt mit Blutvergießen bestritt, war Großvater gegen Gewalt und hielt noch immer das Verbot von Dummheit für die effektivere Methode, die Welt zu verbessern.

      »Gerechtigkeit erreicht man nicht durch Ungerechtigkeit«, sagte er.

      »Aber die da oben haben schließlich damit angefangen!«, widersprach Herbert, der sein Fahrrad schon wieder in Gefahr sah.

      »Das ist noch lange kein Grund, es ihnen nachzumachen«, sagte Großvater.

      »Wieso denn nicht?« Herbert griff sich an den Kopf. »Die haben es doch nicht besser verdient! Ich möchte nicht wissen, wie viele Fahrräder die haben!«

      »Genosse Frank hat auch eines«, sagte Großvater.

      »Das ist doch was anderes!«, brüllte Herbert. »Das weißt du ganz genau!«

      Großvater versuchte, Herbert zu beruhigen. »Warte ab, uns fällt schon noch was ein!« Er nahm das Traktat noch einmal in die Hand, blätterte darin herum und tippte nach einer Weile mehrmals mit seinem Zeigefinger auf ein längeres Wort auf Seite vierzehn. »Hier, sieh mal!«, sagte er. »Warum versuchen wir es nicht damit?«

      Herbert stellte sich hinter Großvater und blickte über dessen Schulter auf das Traktat. »Agitprop«, las er. »Was soll das denn sein?«

      »Keine Ahnung«, sagte Großvater.

      »Na, toll«, sagte Herbert.

      »Wenn Frank wiederkommt, frage ich ihn«, sagte Großvater und klappte das Traktat zu.

      »Bis dahin haben wir die Bombe längst fertig«, meinte Herbert.

      Draußen fiel der Schnee so dicht, dass die Baumkronen schon nicht mehr zu erkennen waren, und wenn jemand die Tür öffnete, blies der Wind einen Schwall weißer Flocken bis in die Mitte des Raumes.

      »Versteh mich doch«, sagte Großvater, »ich finde es einfach nicht richtig!«

      »Weißt du, was ich denke?«, fragte Herbert. »Du bist nur zu feige, es durchzuziehen!«

      »Jetzt red nicht so einen Stuss«, sagte Großvater.

      »Gib’s doch wenigstens zu!«, sagte Herbert und drehte seinen Kopf von Großvater weg in Richtung Fenster.

      »Da gibt’s nichts zuzugeben!«, sagte Großvater.

      »Du bist ein Schisser«, sagte Herbert, »was denn sonst?«

      »Ich weiß überhaupt nicht, was du auf einmal hast. Bist du auf Streit aus, oder was?«, fragte Großvater.

      Herbert antwortete ihm nicht. Er blickte weiter in Richtung Fenster und hörte einfach auf, mit Großvater zu sprechen.

      »He, Herbert, ich habe dich was gefragt«, sagte Großvater.

      Herbert reagierte nicht. Zehn Minuten oder noch länger sagte er kein einziges Wort.

      »Ich muss nach den Hühnern sehen«, murmelte er schließlich und stand auf.

      Großvater legte beide Hände auf den Tisch und sah zuerst auf seine Hände und dann zu Herbert hinüber, wie er seine Jacke vom Haken nahm und sie sich anzog und schließlich ohne ein Wort hinausging, die Tür hinter sich zuschlug und hinunter ins Dorf lief, die kaum geräumte Straße zwischen den schneebedeckten Häusern entlang, aus deren Schornsteinen grauer Rauch stieg, grauer, stinkender Rauch, der schon wenige Meter über den Dächern im Frost erstarrte.

      Natürlich bauten sie die Bombe. Großvater ertrug es nicht, andere Menschen vor den Kopf zu stoßen, und schon gar nicht Herbert. Wie gesagt, beide waren Freunde. Großvater baute die Bombe aus Zuneigung zu Herbert. Außerdem hatte er unterschrieben, die Welt besser zu machen, gerechter. Auch dafür musste er etwas tun. Und so kam es zu den Experimenten mit Düngemittel, Backpulver und Benzin, in deren Folge an einem Winterabend der Schuppen abbrannte, und ein Schimmer der Weltrevolution Großvaters und Herberts Dorf erleuchtete.

      Dann war es wieder Frühling geworden, bereits im März war der ganze Schnee getaut, und der Boden war zerzaust und aufgewühlt, und in den Gräben stand das Regenwasser, und durch das verwelkte Gras des letzten Jahres fuhr knisternd der Wind. An einem sonnigen Morgen Anfang April, als die Tage immer länger und wärmer geworden waren, zog sich Großvater seinen schwarzen Anzug an, band sich die gestreifte Krawatte um, verpackte die Bombe in einen stabilen Koffer und sprang damit in den Dorfbach. Der Dorfbach war das flachste Gewässer im Umkreis von mehreren Kilometern, aber weil Großvater damals noch ein wirklich dünner Hering war, jemand, der nicht einmal sechzig Kilo wog, riss ihn die Strömung mit sich, und viel schneller, als er es jemals gedacht hätte, erreichte er die nächstgrößere Stadt. Natürlich hätte er auch zu Fuß gehen können. Aber das hätte viel zu viel Zeit gekostet. Großvater wollte die Weltverbesserung so schnell wie möglich hinter sich bringen. In ein, zwei Tagen hoffte er wieder zurück zu sein. Ein, zwei Tage hielt er für ausreichend, um eine Machtzentrale der herrschenden Klasse zu finden, dort die Bombe zu deponieren, zu zünden und wieder zu verschwinden. Wenn sein Plan aufging, bedeutete das für Herbert und ihn, noch vor dem Sommer ein Fahrrad zu besitzen. Dann würde die Welt tatsächlich um einiges besser sein. Dann auf jeden Fall. Großvater dachte während der letzten vier im Dorfbach zurückgelegten Kilometer ausschließlich an Fahrräder, an verchromte Speichen und Gangschaltungen, an Schutzbleche und Dynamos, an Pedale, Luftpumpen und Rücklichter. Als ihm zu guter Letzt, also nachdem er an Bremsen, Gepäckträger, Sattel und Lackierungen gedacht hatte, sogar noch einfiel, dass ein Fahrrad, weil sich mit ihm Entfernungen schneller bewältigen ließen, den Klassenkampf erheblich erleichterte, wenn nicht sogar überflüssig machte, schwemmte ihn der Bach ans Ufer. Abrupt, brutal und völlig überraschend. An einer Böschung mit rundgespülten Kieselsteinen und vom Wasser freigelegten, langen, zerfaserten Wurzeln blieb Großvater einfach im Schlamm stecken. Schwarzer, fauliger Unrat bedeckte ihn von oben bis unten, und wer sah, wie er mit weit nach vorn geschobener Unterlippe nach Luft schnappte, hätte ihn für einen Fisch oder ein anderes Wassertier halten können. Er war ein wenig benommen und stand nicht sofort auf, sondern blieb in dem flachen Gewässer sitzen


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